Sein üppigstes, reichstes, gelehrtestes und exzentrischstes Buch nach der Göttlichen Komödie und vor dem Weltpuff Berlin ist indessen das postum erschienene Gartenbuch, in dem er uns über die tiefe und innige Beziehung des Menschen zur Blume belehrt. Jeder Blumenfreund fände hierin seine Bibel, nur ist es wie die Bibel kaum am Stück zu lesen – man blättert darin. Sprachlich kennt Borchardt wieder nichts; will sagen: kennt er keine Hemmungen, nimmt er keine Rücksichten auf die weniger fixen Leser, auf die er bekanntlich pfeift, respektive die er sich allmählich, wie seinen Garten, herankultivieren will. Mit einer donnernden vibrierenden Prosa, die kaum einen Vergleich hat.
«Die Menschheit stammt aus einem Garten.» Borchardt kann auch kurze prägnante Sätze, sie bilden das Eingangsportal, durch das er uns in seine zunehmend hypotaktischen Labyrinthe lockt. Man achte darauf, wie er in den folgenden drei Sätzen immer länger wird, wie er alles rhetorisch zulaufen läßt und zuspitzt auf das finale «feurige Schwert». Man beachte auch, wie er dabei, oft nur durchs Beiwort, ironische Farben funkeln läßt:
Die Menschheit stammt aus einem Garten. Das meiste, was ihr seit ihrem Ursprunge zugestoßen ist, hängt mit Vorgängen zusammen, die sich als Gartenfrevel bezeichnen lassen, und zwar, tiefsinniger Weise, nicht als einfacher, sondern als doppelter. Die Verletzung der Gartenordnung durch philisterhaftes Aufessen von symbolischen Früchten führt automatisch zum noch bedenklicheren Mißbrauche schöner Vegetation für Werkstoff-Zwecke, nämlich für solche vergänglicher Kleidung. Mit der Kündigung des Gartengastrechts und dem Auszuge in die aus Acker und Kindbetten bestehende Welt beginnt das normale Dasein seine unabsehbare Kette von weiteren Vertreibungen aus immer wieder neuen Gärten, denen, im trotzigen Rhythmus des Menschenherzens, der Entschluß entspricht, in jedem Augenblicke des Verschnaufens von Acker und Kindbett das Paradies, und sei es am Fenster des sechsten Stocks im Hinterhause, für die nächste Vertreibung wiederaufzubauen und den Engel mit dem feurigen Schwert zu provozieren.
Ein kleines Eden also auch im Hinterhof in Neukölln. Borchardts im Gartenbuch entwickelte Thesen sind zum größten Teil schrullig, zum Teil hellsichtig und ihrer Zeit weit voraus. Er behauptet kurzerhand, der Mensch sei der Pflanze verwandter als dem Tier, von dem er, der Mensch, auch nicht stamme; das Tier sei vielmehr von ihm «abgefallen». Blumenduft – hat sich schon mal jemand nähere Gedanken über Blumenduft gemacht? Jedenfalls nicht so mystisch-tiefe, wenn auch schrullige wie Rudolf Borchardt, der das «ätherhafte Netz der Meldungen und Sendungen», heute: Pheromone, untersucht. Der Erotiker Borchardt feiert in der Pflanze, der duftenden Blume, das Geheimnis des Sexus. Die ganze Blumensprache der Liebe entsteht. Und es folgt jene oben zitierte Aufzählung der Blumen von Tausendschön bis Nachtschatten.
Eine urtümliche Symbolik heftet an Veilchen und Lilie den höchsten Feierbegriff des weiblichen Gemüts, der dem unbescheidenen und unkeuschen Freier vorzuschweben vermag, – Reinheit, die sich verbirgt – und nennt das, was sie wörtlich zu gestehen nicht wagen darf, das Rosenbrechen; es ist das urälteste uns bekannte Symbol für die Überwindung des letzten Widerstandes, so als wäre es mit dem Menschen geboren, die Begehrte ihren Preis, als Blume, hochhalten zu sehen, und alles danach ringend, ihn zu pflücken oder zu brechen.
Bittersüß, Wermut, Natterzunge … Rudolf Borchardt, nicht immer sympathisch, furchtbar hochfahrend, auch leicht mythomanisch – er habe sich auf einen Turm von Lügen gestellt, um von der verlogenen Menge seiner Zeit gesehen zu werden, sagte Benjamin über ihn –, bleibt einer der merkwürdigsten Schriftsteller. Vielleicht war zu seiner Zeit keiner der Sprache mächtiger als er. Rastelli, Casanova, Don Quijote, von den Deutschen verfolgter und freigelassener jüdischer Goethe-Nachfahr – der Epigone als Jahrhundertgestalt.
Rudolf Borchardt und Bertolt Brecht – wenn die in der Bibliothek durchs Alphabet zur Nachbarschaft gezwungen würden, sprühte es Funken. Brechts epischer Materialismus und Borchardts althumanistische Exzentrik, wenn man die zusammenschlösse … Die Prosa Bertolt Brechts ist dabei, anders als seine Lyrik und Dramatik, nicht nur verglichen mit Bochardt von eher unerheblichem Gewicht. Es ist ein Personalstil wie seine Lederjacke: regenfest, robust, ohne Applikationen; leicht zu imitieren durch Kleinschreibung und den Jargon des Klassenkampfes, dem erwähnten Moskauderwelsch.
Stilistisch interessanter geht es bei zwei Frauen zu, die Brecht politisch oder menschlich nahestanden, ohne von ihm erdrückt zu werden. Sie mögen die kleine Porträtreihe einleiten, in der die Herren einmal warten müssen.