Ihre Krankengeschichte ist ein Katalog des Grauens. Die Kärntner Dichterin Christine Lavant, 1915 als neuntes Kind einer armen Bergmannsfamilie geboren, wurde schon als Säugling von den Ärzten aufgegeben. Das skrofulöse Kind wurde im Dorf gehänselt, es kam Tuberkulose hinzu, wieder wurde sie fast schon aufgegeben. Eine schwere Röntgenbestrahlung rettete sie, aber verbrannte ihr Brust und Gesicht so stark, daß sie zur Verhüllung immer ein Kopftuch trug. Depressionen begleiteten die nicht nachlassenden körperlichen Foltern. 1935 läßt Lavant sich nach einem Suizid-Versuch in die Nervenheilanstalt einweisen (die dort entstandenen Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus werden erst nach ihrem Tod veröffentlicht). Unter den neuen Herrschern in Österreich muß sie fürchten, dem Euthanasie-Programm zum Opfer zu fallen. Der Mann, den sie 1939 nach dem Tod der Eltern heiratet, ist sechsunddreißig Jahre älter als sie und genauso mittellos; sie ernährt ihn durch Stricken. Sie leben bis zu seinem Tod 1964 in einer Einzimmerwohnung.

Kurz nach dem Krieg wird ihr eines Tages ein Rilke-Band aufgedrängt, Das Stunden-Buch. Lavant, schon früh besessene Leserin und Quartalsdichterin, beginnt wie rauschhaft zu schreiben. Von 1946 bis 1960 trotzt sie ihren chronischen Leiden ein Werk ab, das schon als Lebensleistung ans Wundersame grenzt – weit mehr als 3000 Seiten Prosa und Gedichte. Man wird auf sie aufmerksam, sie wird gefördert und geehrt, den Trakl-Preis bekommt sie gleich zweimal; ihr einziger Trost im immer finsterer werdenden Schmerzenstal, das sie 1973, keine sechzig Jahre alt und schon lang wieder verstummt, als berühmte Dichterin verläßt. Auf sie, die Dichterin, wollen wir uns hier beschränken, obwohl ihre Prosa genauso viel Beachtung verdient.

schöpfe ich bleischwere Luft

und vergeude sie fluchend.

 

Ein Vogel fliegt trächtig zum Morgenstern

in mir singt Erschöpfung

 

Empfänden Engel so hohe Angst

wie Wölfe würden sie heulen.

 

Niemand hört wie mein neues Geschick

an meiner Gurgel das Beil wetzt.

 

Auf geht die Sonne das Martergestirn

O Rad zerquetsch mir die Stirne!

Die wichtigsten Motive ihres von beständiger Angst, Atemnot und Schlaflosigkeit bestimmten Lebens sind hier in Bilder gefaßt. Engel, die wie Wölfe heulen – ein typischer Lavant-Fund. Ein gewisser Leidensstolz schwingt mit, wenn selbst die gottgesandten Engel zu Tieren würden, hätten sie das auszuhalten, was Lavant aushält. Daß der Vogel «trächtig» ist, reflektiert ihren großen Lebensschmerz, den unerfüllten Kinderwunsch.

Unverdient wärmst du mich Sonne.

Ich hab meine Seele nicht abgezählt

aus meinem Leben ging kein Kind hervor

und von Diebstahl lebt meine Lunge.

Von solchen Qualgedichten gibt es Hunderte. Das Erstaunlichste aber kam erst 2017 ans Licht. Der Wallstein Verlag publizierte einen Band mit unbekannter Lyrik aus Lavants Nachlaß. Was sich

Mit der sanften Hostie des Monds

bin ich Sünderin nicht abzuspeisen,

nimmer loszusprechen von der Mittagsglut

dieser Formel zwischen Gott und Tier.

 

Ungereinigt steig ich aus der Flut

die des Schlafes Gnade mir bereitet.

Sakramente? – O ich kenn nur eins:

wach zu werden unter deinem Leib.

 

Das ist Losspruch, Speisung und das Meer

frömmster Gnade, Heil für Leib und Seele.

O ich spüre was Erlösung ist

wenn dein Blut in meinem sich erlöst.

Auffallend an dem Gedicht ist die christliche Begrifflichkeit. Ist diese Liebeslyrik religiös? Ja, weil das Hadern mit Gott den Glauben an ihn voraussetzt. Der Heide wird nicht blasphemisch; Christine Lavant durchaus. Manche ihrer Gedichte sind ketzerisch, man nannte sie «Lästergebete». In dem folgenden spricht sie den Herrgott mit «He?» an und redet ihm ins Gewissen. Der Ton ist salopp und unfeierlich. Lavant ist, anders als ihr Vorbild Rilke, nie prätentiös, manche Zeilen könnten von Gernhardt sein. Sie variiert volkstümliche Redensarten und endet mit dem starken Bild des Teufel-Fütterns:

zeigt ihnen was eine Harke ist

und fährt gelegentlich Schlitten

mit ihren aufbrennenden Herzen.

 

Ist dies ganz gerecht Herrgott, Vater, he?

Denk nach darüber, denk urgründlich nach! […]

 

Wann, glaubst du, schlägt ein verzweifeltes Kind

zum ersten Mal wohl seine Fingernägel

In jedes Gebet, das den Schutzengel preist

Und füttert damit alle Teufel?

Das «urgründlich» verrät die Kärntnerin. In den frühen Veröffentlichungen in katholischen Verlagen wurde Lavant noch ganz ins christliche Licht gerückt. Das gelang nur durch Zensur, ihre andere Seite wurde dabei unterdrückt. «Für Geschöpfe meiner Art», schreibt sie einem Förderer – und sie meint damit: für Krüppel wie sie –, «ist es sehr weit bis zum Herzen Gottes.» Christine Lavant, zunehmend mystisch interessiert, rebelliert gegen Gott mit ihrer Feier des Eros. «Wach zu werden unter deinem Leib» – das ist das wahre Sakrament. Sibylle Lewitscharoff sagt von ihr, Lavant wirke auf sie, als randaliere ein Tiger im katholischen Gehäus. Manchmal fordert sie Gott geradezu heraus und verhöhnt ihn, als hoffe sie, ein strafender Blitzschlag könne ihrem Leiden ein Ende bereiten; wozu sie selbst, sooft sie’s erwog, den Mut nie fand. Manchmal verschmilzt die Gottesliebe mit der körperlichen in panerotischer unio mystica.

Es ist etwas Wildes in ihr, etwas ganz Freies und Kühnes, viel Komisches auch, wie zu Recht Monika Rinck bemerkt. Sie ist fern von protestantischer Leidenslust, fern auch von beschönigender Sublimierung. Dazu gehört, daß Lavant keineswegs an die Kunst

«Im Buch der Natur lesen» ist ein Topos der Umschreibung für die Freuden des Sexus. Ein Buch, auf dem ihre Hand liegt, ist das Thema des folgenden an ihren Geliebten gerichteten Gedichts. Er wird es genauer verstanden und zu lesen gewußt haben als wir, die wir nur raten müssen. Denn es ist sehr rätselhaft.

Die Nacht ist halb vorbei und auf dem Buch

darin die Liebe nackt wie Notdurft stand

liegt meine magre dir bekannte Hand

und denkt an dich und ändert so den Fluch

des groben Vorgangs in was Zartes um.

Vielleicht ist diese Hand verstockt und dumm

weil sie behauptet dass du mehr noch bist

als bloß ein Leib mit Leibestrieb begabt?

Ihr Zittern das am Rand des Buches schabt

sieht sich so an wie eine liebe List.

 

Ich aber will nicht übertölpelt sein

nicht von dem Buch nicht von den Fingern hier

ich dulde gar nichts zwischen dir und mir

und gehe mutig in das Los hinein

uns beide anzusehn so wie wir sind

denn niemals soll mich meine Liebe blind

in deines Schauens klaren Umriss tun!

Wir beide wissen: Ja zu Ja klingt gut

dazu gehören Seele, Fleisch und Blut

und dann gerät das Ineinanderruhn.

 

und meine Hand die langsam niederfällt

lässt alle List um das Erinnern los

wie traut sie einschlief über deinem Schoß.

Sehr schön und geheimnisvoll. Offenbar denkt das lyrische Lavant-Ich darüber nach, wach liegend mitten in der Nacht, wie es sich mit dem gelingenden Ineinanderruhen verhält. Ihre zitternde Hand, genauer gesagt, denkt darüber nach – sie erinnert sich daran, was sie, die magere ihm bekannte Hand, mit seinem Schoß getan hat, bevor sie über diesem Schoß einschlief. Ein Vorgang, der etwas Grobes hätte, wenn man ihn grob und uncodiert beschriebe. Eine Grobheit, dem bloßen Leibestrieb geschuldet, den sie, die Hand, das reflektierende Ich, in etwas Zartes umdeutet. Ist diese Umdeutung eines Fluches, der Fleischesgier, nur eine List, nur freundlicher Selbstbetrug? Im Lauf des Gedichts verlieren die Hand und ihre Trägerin die Scham und bekennen sich zu ihrem Im-Buch-der-Natur-Blättern.

Das nichtmetaphorische Buch, in dem das lyrische Lavant-Ich liest, ist eines, darin die Liebe «nackt wie Notdurft stand». Lavant ist die Meisterin der Doppeldeutigkeit. Was immer da steht oder stand, im Buch oder im Bett, es hat etwas leicht Vergällendes. Was stünde auf seinem Titelblatt? Es ist nicht anzunehmen, daß Lavant die Mutzenbacher las. Vielleicht liest sie in ihrem Tagebuch, in dem sie sich nackt gemacht hat, wie man sagt, und dessen Offenherzigkeit sie jetzt frappiert? Oder sie blättert in einem der dicken Schulhefte, in die sie ihre Gedichte schrieb? Welches Buch es auch war, sie betrachtet dabei ihre auf und ab schabende Hand, die ihrem Geliebten aus der Fleischesnot half. Vielleicht schabt die Hand auch, weil sie eine Feder führt? Dann wäre das versteckte Thema der Sublimierungsvorgang der Poesie selbst, die Vermittlung zwischen dem rohen Akt und der sprachlichen Verdichtung.

Ein solches geschundenes Leben, und dann solche Gedichte. Wo immer man aufschlägt – unfaßbar. Und dabei haben wir von der Prosa noch gar nicht gesprochen.