«Man stand tatsächlich unter dem Eindruck, ein neues Metall des Geistes auf die innere Waage gelegt zu bekommen, fast bestürzt mußte man mit neuen Gewichten antworten», schreibt Rilke 1919 nach einer der raren Lesungen Regina Ullmanns.
Ihr selbst schrieb Rilke, der sie früh entdeckt und bis zu seinem Tod gefördert hatte, er staune darüber, wie bei ihr überall das Vorläufige, wie im Gleichnis, auf das Endgültige hinweise. Und dabei sei der Gegenstand oft so gering, daß man ihn für stumm und einfältig halten möchte. «Sie schneiden ihm einen Mund ein, und er redet das Große.»
Die 1884 in St. Gallen geborene Regina Ullmann, die heute als eine der bedeutendsten Schweizer Autorinnen gilt, mußte nach dem frühen Tod des Vaters 1902 mit der Mutter nach München ziehen, wo sie zu schreiben begann. In dem Porträt, das Peter Hamm über sie schrieb, firmiert sie durchweg als die Zurückgebliebene. Sie war es schon als Kind, schwerfällig und in der Schule immer die letzte, und blieb es ihr Leben lang: weltfremd oder wie aus der Welt gefallen, himmlisch naiv, entweder stammelnd oder in Zungen redend, von einem inneren Glühen erfüllt, das ihr so unterschiedliche Bewunderer eintrug wie Wolfskehl, Musil, Hesse und Thomas Mann.
Die Malerin Lou Albert-Lasard beschreibt sie so: «Steif saß sie da, mit auf bäuerliche Art gefalteten Händen. Mit ihrem intensiven, visionären Blick der ungleichen Augen erinnerte sie an eine alte volkstümliche Holzskulptur. Sie schien eher zu prophetisieren, zu verdammen, wenn sie schwerfällig, fast stotternd von Dingen sprach, die weit entfernt waren von denjenigen, welche die gewöhnlichen Sterblichen beschäftigten.»
Ein ganz archaisches Original, Dichterin im streng Borchardtschen Sinn; mit der Gabe des zweiten Gesichts geschlagen und bald sich, Tochter jüdischer Eltern, im katholischen Glauben bergend; physisch auffällig durch eine Fehlstellung der Augen; immer wieder von schweren Depressionen und Krankheiten gepeinigt, mit genauer Not der Deportation entkommen – Ullmann war 1938 zufällig in Florenz und nicht in Wien, als die neuen Machthaber einzogen –, auch nach der Rückkehr nach St. Gallen, wo sie für zwanzig Jahre Unterkunft im Marienheim findet, materiell immer knapp an der Elendsgrenze (sie versuchte, vom Verkauf selbstgezeidelten Honigs und selbstgeflochtener Weidenkörbe zu leben) – Ullmanns Leben war gewiß kein Honigschlecken, sondern eher das Abnagen eines mageren bitteren Knochens.
Als Schriftstellerin war sie trotz oft stockender, von Schüben abhängiger Produktion zunehmend geachtet und geehrt. Ein Jahr vor ihrem Tod im Jahr 1961, inzwischen von der Tochter in Oberbayern gepflegt, erlebt sie noch das Erscheinen der zweibändigen Werkausgabe. Aber wer heute auch nur ihren Namen kennt, außerhalb der Schweiz, tut es wegen Peter Hamm.
Ullmanns erster Erzählband Die Landstraße erschien 1921 beim Insel Verlag, Rilkes Verlag, und war kein Verkaufserfolg. Dennoch wurde Ullmann bald in die Tradition Gotthelfs und Stifters gestellt. Ihre Welt ist die kleine, ländliche, nur der Weltinnenraum ist bedrohlich groß. Die Sujets klingen verdächtig kitschnah: «Die blinde Bäckersfrau oder der taubstumme Köhler, der bucklige Geigenbauer oder der beschränkte Schweinehirt, das kinosüchtige Wäschermädchen oder der verlassene alte Glasschleifer». Aber Kitsch verlangt nach glatter Sprache, und Ullmanns Sprache ist das Gegenteil, höchst eigenwillig, oft leicht halluzinatorisch, wie von Stimmen von Irgendwoher diktiert, nicht kalkuliert, nie abgewogen oder gemessen.
Traum, Sang, Klang gingen durcheinander; wie die Leuchtkäfer verfolgten sie sich. Es war kein rechter Bestand. Das Singen und Fliegen und Tanzen war eben ein Beruf für Vögel, Blumen und Schmetterlinge, allenfalls auch für Leuchtkäfer, aber nicht für Menschen. Und gar nicht für solche, die das Leben schon satt hatte, ehe es sie begann … Oh, diese Vorstadtkreatur! Es schrie etwas in mir. Vielleicht war es auch meine Müdigkeit.
Der Nebel ging auf den Wiesen wie eine Herde ferner Schafe. Der Wind trieb sie vorwärts. Eine Stunde wandelte um die andere.
Jeder zweite dieser Sätze ist leicht schräg, leicht bizarr. «Nicht für solche, die das Leben schon satt hatte» ist kein Druckfehler von «satt hatten». Es sind nicht die Menschen, die das Leben schon satt haben, das Verb steht im Singular: Das Leben hat die Menschen schon satt, ehe es, das Leben, sie begann. Der Wechsel des erwartbaren Plurals zum Singular reißt eine ganz neue Sicht auf, die Sicht auf die schöpfende – hochgestochen, natura naturans – nicht die geschaffene Natur.
Die Metaphern bei Ullmann schöpfen immer aus der Natur. «Es war eine Luft, daß er sie sogar auf seiner Hand sitzen fühlte wie einen Marienkäfer. Und ein Eichhorn und wieder ein anderes schaute mit seinen Wacholderbeeraugen den Menschen an, wie er so mitten auf der großen Fahrstraße ging.»
Der Mensch, der dort in der Erzählung Von einem alten Wirtshausschild auf der Fahrstraße vom Eichhörnchen beäugt wird, hat ein großes Ziel. Er ist auf Brautschau unterwegs. Höchst raffiniert, wie Ullmann, als wäre sie Thomas Mann, das Erotische mit dem Sakralen unterlegt. Der junge Mann zieht los, «ohne Stock und so, wie man zur Kirche geht», nachdem er sich am Brunnen gewaschen hat «wie zum jüngsten Tag». Was aber geschieht ihm auf seinem entschlossenen Weg zur Jungfer Braut? Er wird von Hirschen zu Tode getrampelt. Das sakrale Ziel ist nicht die Ehe, sondern der Tod. Liebe und Tod stecken wie bei Gottfried Keller oder im Zauberberg unter einer Decke.
Wie oft sie den Schädel getroffen, wie oft sie Arme und Füße gestreift, ist nur zu ahnen. Einmal gemerkt in ihrem Hirschherzen, vergaßen sie ihn auch nicht mehr. Darin bewährt das Tier noch seine urhafte Wesenheit. Es beharrt. Mit seinen röhrenden Lauten drang es auf ihn ein. Es machte einen furchtbaren Kampf mit einem wehrlosen Menschen. Seine Geweihe trugen ihn. Über den Bach, über den Nebel hinaus. Es schien die Last gar nicht zu spüren. Und wortlos, wie diesen der Schrecken gemacht hatte, schien er auch ihn fühllos zugleich zu machen. Und der freudige Zorn des Tieres trug ein scheinbar Unbewegliches mit seiner wachsenden Kraft hinfort. Einer jagte dem andern ihn ab. Einer sprang vor dem andern her, mit der Beute auf dem breiten Geweih.
Hier sehen wir wieder eine charakteristische grammatische Umdeutung: Von den einzelnen Hirschen wird nicht im Plural erzählt, sondern im Singular: Es, das Tier, macht einen furchtbaren Kampf mit dem Menschen. «Es» tötet in freudigem Zorn. «Es» sind archaische Einheiten in archaischen Kämpfen.
Die röhrenden Laute waren verstummt. Die Tiere schienen nur noch Freude zu sein, leerer Triumph.
Aber so geht manche Nacht über einen Sterbenden und Toten.
Der Himmel öffnete sich wieder mit einem leisen, roten Strich. Hunde brachten die erste Spur des Toten. Sie zogen, sie wedelten den alten Hirten und die Knaben herbei. Die Pferde berochen das Schlachtfeld. Ein Schmetterling setzte sich auf die Brust des Leichnams.
Starke Prosa, wie man schwer leugnen kann – nicht nur wegen des leisen, roten Himmelsstrichs. Eine letzte Probe:
Denn so schwer das Leben ist, schwer mit dem Menschen und seiner Last, die er zu tragen hat hierhin und dorthin, und mit der kotig schweren Erde, die ihm an den groben Schuhen haftet; wenn das Leben auch schwer ist, auf eine unsichtbare Weise, auf eine geheime, ist es dennoch in einem Taumel. Dies Leben hat wahrhaftig noch irgendwo eine Tanzbodenmusik, der wir nur noch nicht genau auf die Spur gekommen sind.
Bei Robert Walser, mit dem Regina Ullmann früh verglichen wurde, einem anderen großen Schweizer Autor, hört man auch diese geheime Tanzbodenmusik. Das archaische Sterben und Wüten spart er aus.