Er starb diskret im Schnee, am ersten Weihnachtsfeiertag 1956, unweit der Heilanstalt Herisau, in die er 1933 eingewiesen wurde und die er auch dann nicht mehr verließ, als er keine Stimmen mehr hörte und keine Halluzinationen mehr hatte. Man vergißt es nicht, das Bild des von einer Herzattacke gefällten, im Schnee ausgestreckten Dichters, dessen Hut einen halben Meter hinter ihm liegt. Ein bescheidener, stiller Tod, wie er zu Walser paßte, der sich seit seiner Einweisung ins Schweigen zurückgezogen und nichts mehr veröffentlicht hatte.

Davor war er, seit 1907 sein erster Roman Geschwister Tanner erschien, schon bald als Autor anerkannt. Musil und Hesse, Kafka und Tucholsky hatten ihn gerühmt. Und bis heute ist es nicht anders: Nicht nur der Namensbruder Martin, kaum ein Autor von Rang und Namen, der nicht für den zarten, scheuen und halbverrückten Robert Walser schwärmt. Muß man ja auch, was den Menschen betrifft. Aber als Stilist?

Man sollte sparsam sein mit dem Wort, aber was der junge Robert Walser 1907 in Erinnerung an sein Jahr am Zürichsee in angeblich nur drei Wochen schrieb, verrät Genie. Was erzählt er uns? Ein halbes Jahr im Leben des Joseph Marti, der als Gehilfe bei einem erfolglosen Ingenieur und Erfinder angeheuert wird und dessen schleichenden Bankrott miterlebt. Die Handlung ist ganz unerheblich, aber die Sprache!

Wenn man einen großen Stilisten wie Robert Walser zum ersten Mal aufmerksam liest, ist es ein besonderes Erlebnis: Er schafft es in jedem Satz, uns zu überraschen. Man kommt nicht auf seine Masche, weil er keine hat. Es ist ein festliches Gefühl, wenn einem in ununterbrochenem Strom kleine Preziosen zukullern und man immerzu mit dem Bleistift markieren möchte, was so kurios oder gewagt oder abgefeimt komisch ist.

Soweit ist es noch hübsch und konventionell. Und dann wird es unmerklich schräg:

Ja, die ganze runde Aussicht war blau, selbst das nahe Grün und das Rot der Dächer sahen sich bläulich an. Man hörte ein einziges Gesumme, wie wenn die ganze Luft, der ganze durchsichtige Raum leise gesungen hätten. Auch das Summen und Surren hörte und sah sich blau an, beinahe!

Wohlgemerkt, nur beinahe blau! Walser ist ein vorsichtiger Autor, kein Großsprecher oder wüster Übertreiber. Das Schwimmen im See:

Einmal kam er einem kleinen Boot nahe, ein einzelner Mann saß drin, ein Fischer, der friedlich den Sonntag verangelte und verschaukelte. Welche Weichheit, welche schimmernde Helle. Und mit den nackten empfindungsvollen Armen macht man Schnitte in dieses nasse, saubere, gütige Element. Jeder Stoß mit den Beinen bringt einen ein Stück vorwärts in diesem schönen, tiefen Nassen. Von unten her wird man von warmen und kühlen Strömen gehoben. Den Kopf taucht man, um den Übermut in der Brust zu bewässern, auf kurze Zeit, den Atem und den Mund und die Augen zudrückend, hinab, um am ganzen Leib dieses Entzückende zu spüren. Schwimmend möchte man schreien, oder nur rufen, oder nur lachen, oder nur etwas sagen, und man tut’s auch. […] Man plätschert mit den Händen und Füßen,

Immer wieder drei Adjektive, jedes für sich unauffällig, aber kostbar in der Kombination. Robert Walser ist der Poet des Wassers, sein Übermut in diesem Element kennt keine Grenzen. Immer noch im Boot meditiert Joseph:

Steige, hebe dich, Tiefe! Ja, sie steigt aus der Wasserfläche singend empor und macht einen neuen, großen See aus dem Raum zwischen Himmel und See. Sie hat keine Gestalt, und dafür, was sie darstellt, gibt es kein Auge. Auch singt sie, aber in Tönen, die kein Ohr zu hören vermag. Sie streckt ihre feuchten, langen Hände aus, aber es gibt keine Hand, die ihr die Hand zu reichen vermöchte. Zu beiden Seiten des nächtlichen Schiffes sträubt sie sich hoch empor, aber kein irgendwie vorhandenes Wissen weiß das. Kein Auge sieht in das Auge der Tiefe. Das Wasser verliert sich, der gläserne Abgrund tut sich auf, und das Schiff scheint jetzt unter dem Wasser ruhig und musizierend und sicher fortzuschwimmen. –

Und schon kippt der Erzähler den poetischen Nachen ins Komische und fährt fort: «Es muß zugegeben werden, daß Joseph sich ein wenig zu sehr seinen Einbildungen überlassen hatte.»

Robert Walser ist immer evokativ und manchmal am Rand des Durchgeknallten. Burleske Szenen kann er auch. Josephs Büro-Vorgänger, der Quartalsäufer Wirsich, treibt es wieder einmal zu bunt und wird vom Chef mit einem Hagel von Stockschlägen bedacht.

Was diese Szene so eindrücklich macht, ist der vom Mond beschienene plumpe Bär.

Walsers Kunst des Beiworts wurde erwähnt. «Joseph hatte das eben Vorgefallene, das Wüste, nicht vergessen, er trug es beschämt mit sich, aber es hatte sich in etwas Unbekümmert-Leidvolles, in etwas Ebenmäßig-Verhängnisvolles verwandelt.» Das jeweils zweite Beiwort steht leicht quer zum ersten, Unbekümmertheit und Leid scheinen sich nicht zu vertragen; aber genau dadurch erreicht Walser die gewünschte Gefühlspräzision.

Robert Walsers Stärke ist, daß ein Psychologe von Nietzschescher Schärfe in ihm steckt, worüber die anmutige, oft scheintäppische Oberfläche leicht hinwegtäuscht. Joseph Marti, der schüchterne, unbeholfene Gehülfe, hat, in veralteter Bildlichkeit, einen Röntgenblick. Seine Empfindlichkeit hat offenbar auch einen soziologischen Grund; man merkt dem Gehülfen wie seinem Erfinder die Erniedrigungen an, die der nicht gutbürgerlich Geborene zu schlucken hatte.

Der Psychologe über die Frau seines Chefs, die Frau Tobler: «Die Wohlhabenheit und Gutbürgerlichkeit demütigt gern, nein, vielleicht das nicht gerade, aber sie schaut doch ganz gern auf Gedemütigte hernieder, was eine Empfindung ist, der man eine gewisse Gutmütigkeit, aber auch eine gewisse Rohheit nicht absprechen kann.»

Marti entwirft ein umfassendes Psycho-Porträt dieser Frau

Nein, diese Frau hat keinerlei Farbensinn oder dergleichen, sie versteht nichts von den Gesetzen der Schönheit, aber gerade deshalb fühlt sie, was schön ist. Sie hat nie Zeit gehabt, ein Buch voller hoher Gedanken zu lesen, ja, sie hat noch kein einziges Mal auch nur daran gedacht, was hoch und was niedrig sei, aber der hohe Gedanke selber besucht sie jetzt, und das tiefere Gefühl selber, angezogen von ihrer Unwissenheit, netzt ihr mit dem nassen Flügel das Bewußtsein.

Denn das ist die zweite Stärke des Stilisten Robert Walser: Er ist, unter derselben scheintäppischen Oberfläche, ein großer Humorist. Überall summt ganz leicht Selbstironie mit. Wer die Menschen durchschaut, nimmt auch sich selbst nicht mehr übertrieben ernst; jedenfalls Walsers Gehülfe nicht.

Vergleichen wir den Walser-Ton einmal mit dem seines weltberühmten Prager Verehrers, der gerade den Gehülfen sehr genau gelesen hat.

Zu Hause rief man ihm schon von Weitem entgegen, es warte ein Herr unten im Bureau auf K. Es war der Verwalter […], ein sonderbar verwilderter Herr, der aber, wie es schien, die demütigsten und sanftesten Manieren hatte. Die Herren begrüßten sich gegenseitig freundschaftlich, beinahe brüderlich, obschon ein bedeutender Altersunterschied sie trennte. Das gleichsam zerzauste und zerfetzte Gesicht des Verwalters ließ K. an längst überstandene Dinge denken. Eine armselige Schreibstube tauchte vor seinen inneren Augen auf, sich selber sah er dort an einem Pult sitzen, dann sah er den Herrn […] zur Tür eintreten, den Verwalter vom Platz aufstehen,

Ersetze K. durch Marti, und man ist wieder bei Walsers Gehülfen, aus dem das Zitat stammt. Warum konnte man die beiden verwechseln? Weil die stilistische Ähnlichkeit so unverkennbar ist.

Es ist vor allem ein besonderes Stilmerkmal Kafkas, das sich hier findet: Walser gibt auf engstem Raum Informationen, die sich widersprechen oder gegenseitig ins Schwanken bringen und dadurch etwas leicht Irreales erzeugen. Der Verwalter ist sowohl verwildert als auch demütig. Dazu kommt die Hyperbel; das Gesicht des Verwalters ist «gleichsam zerfetzt», ein viel zu starker Ausdruck für ein gefurchtes Altersgesicht.

Was Franz Kafka bei Walser übers Sprachliche hinaus angezogen haben dürfte, war die Atmosphäre des Asketisch-Bisexuellen. Der Gehülfe Joseph Marti schläft mit dem Trinker Wirsich in einem Bett; auf einem Silvesterspaziergang denkt er darüber nach, wie man sich, «wenn es halb erlaubt gewesen wäre, hätte küssen können». In der Gefängniszelle genießt er das «Schinkenklopfen», das ihm von einem attraktiven Mithäftling zuteil wird, der für Joseph von Anfang an «eine gewisse Zärtlichkeit» empfindet.

Bisexuell, weil der keusche Marti auch mit der von ihm seelisch entblätterten Frau des Chefs flirtet, deren Porträt zum Phänomenalsten des Romans zählt. Es ist wohl seit Emma Bovary das erste Mal, daß eine Mutter bekennt, ihr Kind zu hassen, und es beständig malträtiert. Der Gehülfe ist, von allen Stil-Meriten abgesehen, ein bedeutender Roman über Kindesleid und das, was später Schwarze Pädagogik heißen wird.