Österreich ist literarisch ein Unikum. Bei einem Zehntel der Bevölkerung Deutschlands hat es sehr viel mehr bedeutende Autoren hervorgebracht, als statistisch erlaubt wären. Ohne Österreich fehlten der Landschaft der Prosa die schönsten Seenplatten und Almhänge und Gipfelmassive. Das geheime Zentrum dieser Literatur aber ist die Stadt voll Staub und Wunden, wie Alfred Polgar sie beschrieben hat, das fidele Grab an der Donau, die gemütliche Katakombe Mitteleuropas, wo man nur an den Erschütterungen der Decke merke, daß noch Leben sei.
Franz Werfel lebte mit Alma Mahler in Wien, bevor es sie ins Exil nach Kalifornien trieb. Auch sein Roman Eine blaßblaue Frauenschrift spielt in Wien. Der Held, der aus kleinen Verhältnissen stammende Leonidas – sein heroischer Name ist das einzige, was ihm der Vater, ein Gymnasiallehrer, hinterlassen hat –, steigt durch Charme, durch reiche Heirat und eisernen Fleiß zum Sektionschef im Unterrichtsministerium auf. Gerade fünfzig geworden, wird er durch den Brief seiner jüdischen Jugendgeliebten Vera von seiner Vergangenheit eingeholt. Drei große Gespräche führt Leonidas im Lauf der Novelle, bei jedem reagiert er überraschend anders, als er es sich vorgenommen hat. Er ist ein schwacher, dabei nicht unsympathischer Charakter, der sich bei seinem steilen Aufstieg immer so fühlt, als sei er ein demnächst abstürzender Hochstapler. Nur durch Vera, die Liebe seines Lebens, weht ihn etwas an, das sein wahres Inneres berührt.
Das erste dieser Gespräche findet bei der Sitzung im Ministerrat statt, bei der Leonidas sich zum ersten Mal gegen den Komment auflehnt. Es geht um das Medizin-Ordinariat, das zu vergeben ist und von dem man den renommierten Herzspezialisten Alexander Bloch, der bald nur noch Abraham Bloch genannt wird, mit allerlei Ausflüchten fernzuhalten gedenkt. Man schreibt das Jahr 1937 und will den deutschen Nachbarn nicht reizen. Leonidas, der sich durch Veras Brief unversehens als Vater eines nichtarischen Sohnes fühlt, verteidigt Bloch und wehrt auch die Kompensationsvorschläge des Ministers ab, der sich gerne als schlichtes bäuerisches Gemüt tarnt – «Er zeigte seine schlechten Zähne und erklärte gutmütig: ‹No, no, ich habe das nur als ein einfacher Mensch gesagt, als ein Bauer …›»
Wie lange Leonidas die Opposition aufrechterhält und wie es weitergeht, muß man selber nachlesen, mit den zwei großen Beichtgesprächen, das eine mit Leonidas’ Frau, das zweite mit Vera, beide mit den kühnsten Wendungen; sie alleine machen Werfels Novelle zu einer der Preziosen der österreichischen Literatur. Aber Werfel kann alles, den Monolog des Kabinettschefs über seinen Urlaub, wie wir gehört haben – «Ich bitte!» –, aber er kann auch Wetterbeschreibungen:
Die Welt präsentierte sich heute als ein lauer Oktobertag, der in einer Art von launisch gezwungener Jugendlichkeit einem Apriltage glich. Über den Weinbergen der Bannmeile schob sich dickes hastiges Gewölk, schneeweiß und mit scharf gezeichneten Rändern. Wo der Himmel frei war, bot er ein nacktes, für diese Jahreszeit beinahe schamloses Frühlingsblau dar. Der Garten vor der Terrasse, der sich noch kaum verfärbt hatte, wahrte eine ledrig hartnäckige Sommerlichkeit. Kleine gassenbübische Winde sprangen mutwillig mit dem Laub um, das noch recht fest zu hängen schien.
Jedes Detail, jedes Beiwort bis zum «gassenbübischen» ist schön gefunden, schön gesehen und spiegelt die gute Laune des seine Geburtstagspost durchmusternden Leonidas. Aber noch am selben Tag wechseln das Wetter und die Stimmung des Beobachters, die umgeschlagen ist nach der Lektüre des Briefes in blaßblauer Frauenschrift.
Der Himmel war überall zugewachsen und zeigte keine schamlos nackten Stellen mehr. Die Wolken eilten nicht länger dampfweiß und scharfgerändert, sondern lasteten unbeweglich tief und hatten die Farbe schmutziger Möbelüberzüge. Eine Windstille wie aus dickem Flanell herrschte ringsum. […] Ein unnatürlich warmes, ein verschlagenes Wetter, das bei älteren Leuten die Angst vor einem plötzlichen Tode förderte. Es konnte sich zu allem entscheiden: zu Gewitter und Hagelschlag, zu griesgrämigem Landregen oder zu einem faulen Friedensschluß mit der Herbstsonne. Leonidas mißbilligte von ganzem Herzen diese Witterung, die den Atem bedrängte und auf seinen eigenen Gemütszustand zweideutig gemünzt schien.
Der faule Friedensschluß ist nicht nur mit der Herbstsonne möglich, wie man spätestens bemerkt, wenn man das Buch zugeschlagen hat. Leonidas hat ganz recht mit seinem Verdacht, die Witterung sei auf seinen Gemütszustand gemünzt. Der faule Friedensschluß ist das, was sein Leben am Ende bestimmen wird. Das Ende der Erzählung: Leonidas ist in der Oper eingeschlafen, aber er weiß im Schlaf, «daß heute ein Angebot zur Rettung an ihn ergangen ist, dunkel, halblaut, unbestimmt, wie alle Angebote dieser Art. Er weiß, daß er daran gescheitert ist. Er weiß, daß ein neues Angebot nicht wieder erfolgen wird.»
Werfel kann mehr, als man denkt, nicht nur gut Wetter machen, das steht nun einmal unzweideutig fest.