So wie es Graubrot gibt, geschmacksarmes, plastikverpackt, so gibt es auch Graudeutsch. Es zeichnet sich aus durch viele, langweilige latinisierende Fremdwörter; kein originelles Verb; wenn Bilder, dann nur die abgegriffensten, Münzen ohne Prägerand. Fast alle akademischen Publikationen zermalmen oder zelebrieren dieses Graubrot, daß es eine Art hat. Es sind graue Begriffsbrocken, die sich aufeinandertürmen; Klapperbleche, mit denen man nicht Spatzen, sondern Leserschwärme verscheucht. Man will es nicht einmal zitieren.
So wie das Graubrot gibt es aber auch das tortenhaft Überschmückte, Überzuckerte, das, was man im Englischen overwritten nennt. Jeder einzelne Satz für sich glänzt, glänzt vielleicht ein bißchen zu sehr, hat oft ein kostbares Adjektiv zuviel. Wolfgang Koeppens Tauben im Gras: Jeder Satz macht auf sich aufmerksam, einer folgt dem andern im Stakkato. Jeder winkt: «Hier bin ich!» Kein Satz als einzelner ist zu tadeln, aber über viele Romanseiten hinweg strengen sie an. Die Wörter sind wie eine reflektierende Scheibe vor den Sachen. Sie stören bei dem Transfer-Akt, das gelesene oder gehörte Wort möglichst lichtschnell in eine Vorstellung zu verwandeln. (Für Lyrik gelten andere Gesetze.) Ein Bild für diese übertüftelte Art Prosa fände sich in Andersens Märchen Die chinesische Nachtigall. Dort hängt an jeder Blume im Kaiserlichen Garten ein Glöckchen.
Manierismus kann sich an einem einzigen Wort zeigen, auf das der Autor wie unter Zwang zurückkommt. Bei einem bekannten Frankfurter Gastronomie-Kritiker war es das magische Wort «Textur». Es war ein wöchentliches Vergnügen, beim Lesen seiner Feinschmecker-Kolumne darauf zu lauern: Wann würde das heilige Wort zum ersten Mal sein Köpfchen aus dem Gehege der Prosa recken? Wenn diese Textur einmal fehlte, verschlug es einem glatt den Appetit. Wie? Heute keine Textur? Wo man sich seit Jahrzehnten daran gewöhnt hatte, ein Wort über die Textur des Saiblings, die Textur der Artischockenblüte oder die Textur des Kalbsbäckchens zu erfahren? Sie war oft fein, diese Textur, ließ öfter aber auch zu wünschen übrig, denn der Kritiker war streng und nicht davon abzubringen, den kulinarischen Verblendungszusammenhang ordentlich zu durchleuchten. – Das war ein Beispiel für Abschweifung. Sie ist eigentlich unerwünscht, aber seit Laurence Sterne sind Ausnahmen erlaubt. Solange die Textur stimmt.
Ist das Folgende overwritten? Ist es Glöckchenprosa? Oder Graubrot? Es handelt von Isothermen und Isotheren:
Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering.
An dieser Stelle wird der Autor bei seiner Berliner Lesung unterbrochen. Ein Zuhörer steht auf und ruft: «Ham Se’s nich ’ne Nummer kleiner?!» Robert Musil schaut vom Manuskript auf, wartet ein paar Sekunden und fährt fort:
Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.
Der Zwischenrufer, sichtlich zufrieden, setzt sich wieder. «Na, ham’ Se ja wat dazujelernt!»
Vermutlich hat es weder eine Berliner Lesung noch diesen Zwischenrufer gegeben. Aber der Romanbeginn des Mann ohne Eigenschaften, einer der berühmten Romananfänge der Literatur, ist die Ausfaltung der Frage, ob man es nicht eine Nummer kleiner habe. Musil zeigt die Instrumente und legt sie dann wieder in die Truhe zurück.
Es gibt Stil-Exzentriker, die sie nicht zurücklegen. Wer zu diesen Exzentrikern zählt, ist eine schwierige Frage. Hans Henny Jahnn und Rudolf Borchardt? Warum Robert Walser nicht, aber Franz Overbeck mit Sicherheit? Kleist und Jean Paul vielleicht knapp noch nicht, aber Fritz von Herzmanovsky-Orlando auf jeden Fall?
Die Frage ist so komplex wie die, über der in Kehlmanns Roman Tyll der Vater Eulenspiegels fast verzweifelt. Ab wann ist ein Körnerhaufen kein Haufen mehr? Wie viele Körner muß man wegnehmen, damit er seinen Haufen-Charakter verliert? Mit wieviel Sonderbarkeiten und Regelbrüchen weniger wäre man kein Exzentriker mehr? Die Frage, versteht sich, ist unlösbar. Aber nur als annähernde Antwort: Hans Henny Jahnn will die Regeln und den stilistischen Komment brechen. Über jeder seiner Parforce-Passagen weht der rote Wimpel: «Stil! Ausdruck! Extravaganz!» Bei Robert Walser weht da gar nichts; wir spüren: Er schreibt einfach so.
Schließen Manierismen oder Exzentrik guten Stil aus? Mitnichten. Man kann auch Manierist sein, und es schadet überhaupt nicht, wenn denn ein Stil vorliegt. Es gibt überhaupt keinen Personalstil ohne gewisse wiederkehrende Vorlieben und Eigenarten, Schrullen und Tics, die dem Schreiber oft unbewußt sind. Nur im schlimmsten Fall wird es zum Tourette-Syndrom. Allerdings locken diese Schrullen den Parodisten an.
Exzentrische Stilisten – à la bonne heure. Es gibt viele Wohnungen im Haus der Sprache. Und es gibt Hausmeister, die den Personalstil überhaupt ablehnen.