Eines ist bei Doderer immer völlig ausgeschlossen, die Nähe zum Kunstgewerbe oder zur bloßen Rhetorik. Bei Thomas Mann ist sie das nicht immer. Doderer kann derb sein, sackgrob sogar und manchmal unverschämt misogyn. Wenn er Figuren aus seinem Roman kickt, wie die erwähnten Finy und Feverl in den Wasserfällen, dann können sie von Glück reden, wenn er es nicht mit Stiefeln, sondern nur mit Filzpatschen tut.
Der austriakische Kaktus, wie er selbst sich nannte, war stachlig. Dabei ist er höchst sensitiv. Doderer ist ein kakanischer Proust, überschäumend von schwarzem Witz. Ganz wie Proust – und anders als Mann – hat er ein meditatives Verhältnis zu Weißdorn, Flieder, Kastanie; anders als beide war er nicht nur in Filzpatschen im Salon unterwegs. Doderer war als berittener Soldat viel unter freiem Himmel. So unnachahmlich er das Straßenbahnquietschen eines Wiener Platzes im neunten Bezirk oder das Weichbild einer balkanischen Großstadt schildern kann, am eigentümlichsten, am dodereskesten ist er in der Natur. Es gibt seit Adalbert Stifter keinen Autor, der Landschaften so stark und geheimnisvoll auflädt. Schattige Wälder und besonnte Täler, Gebirgsauen und Bäche und Tümpel, in denen sich Wasserschlangen oder Molche tummeln – Doderer malt sie so eindringlich, als sähe er sie gleichsam von innen. Wer wie Doderer in der Strudlhofstiege eine Bärenjagd beschreibt, der hat eben eine Bärenjagd mitgemacht. Ausnahme von der Regel: Die Wasserfälle von Slunj hat er nie gesehen; er hat sie nach Ansichtskarten beschrieben. Wenn man in einem Satz sagen müßte, was Doderer allen zeitgenössischen Autoren voraushat: Kein anderer erreicht ihn in der Intensität des Waldgefühls.
Unübertroffen ist er aber auch als Seelenschilderer. Bei Doderer gibt es Sätze, über die man einfach nur staunen kann. Sie folgen keinem erkennbaren und darum nachzuahmenden Prinzip, sie drücken sehr spezielle Gedanken auf die offenbar einzig mögliche, diesem Speziellen Genüge tuende Weise aus. Behelfsweise möchte man das Wort Wahrheitsdringlichkeit vorschlagen. In seiner eigenen verstiegenen Schreibmetaphysik ging es Doderer immer ums kontemplative Sich-Versenken und den Aufstieg aus dem Vorsprachlichen. Im Tagebuch liest sich das so:
Sehen wir in unser Inneres, so ist’s wie ein gestörter Teich durch die Steine des Wort-Denkens, die da unaufhörlich hineinfliegen … Man muß lange warten, lang durch den endlich beruhigten Spiegel gegen den Grund blicken, bis im geklärten Wasser sich endlich wieder was regt und heranschwimmt: silbernes Fischlein, ich grüße Dich! – schon aber fesselt mein Aug’ tiefere Bewegung, am Grunde: ja, es ist ein langsam kriechender Krebs; und wer weiß, wer weiß, was Du da drunten noch alles wirst zu sehen bekommen … Wir haben gestört. Nun rühren wir uns nicht mehr … Kälte und Nüchternheit steh’ uns immer bei! Laß’ uns das nüchterne Chaos sehen, und nicht von den Reflexen der zittrigen Oberfläche geblendet werden, wo unsere Wörter und Worte wie berauschte Korken tanzten …
Thomas Mann hätte mit einer solchen Stelle überhaupt nichts anfangen können. Es wäre halbgare Mystik für ihn gewesen. Sein Konkurrent, gläubiger Katholik, traute dem bewußten Schöpfungsvorgang nicht, für ihn kam immer noch etwas geheimnisvoll anderes dazu. Er werde nie verstehen können, daß er umfängliche, komplizierte und gelungene Arbeiten habe hervorbringen können, schreibt Doderer im Tagebuch: «der Scherben, der ich bin, macht das Gewächs unverständlich». Umgekehrt hatte Doderer dem Zauberberg-Verfasser zwar den Nobelpreis gegönnt, ihn aber letztlich als Auslaufmodell empfunden. Auf ihn, den Lübecker Großschriftsteller, der sich jeden Vormittag pedantisch sein Pensum abzwang, paßte sicher nicht, was Doderer in das strenge Bild faßt:
«Denken wie der Tiger springt; schreiben wie der Bogenschütze schießt; wachsam sein und scharf sehen wie ein Raubvogel in den Lüften: das zusammen macht einen Autor.»
Zum Niederknien das Folgende, ein Herbstbild von berückender Präzision.
Die Wiesen lagen unter leichten feinen Batistkissen, die jedoch vor der Sonne schnell und fast diskret verschwanden. Die Sonne erzeugte jetzt Zustände im Prater, die man herbstrauchig aber nicht eigentlich neblig nennen könnte. Manche Bäume ließen eine Art langer Schoten fallen, gewunden wie Schlangenleiber; so lagen sie auf dem feuchten Gras. Und dann war es so weit, daß die ersten Roßkastanien fettglänzend hellbraun aus ihren beim Herabfallen geplatzten Stachelbälgen lugten und auf der Hauptallee immer mehr tabakfarbene fingrige Kastanienblätter den Boden bedeckten.
Makellos, wie die frisch geschlüpfte Kastanie. Dann hier – die ländliche Nacht:
Von den Gärten und Wiesen kam dick und stark ambrosischer Gründuft, der in der Windstille ruhte, verstärkt durch das nächtliche Ausatmen der Bäume. Auf den Wiesen lag zum Teil noch die zweite Mahd. Conrad sah den Mond als Sichel über dem Dorfe; und hier, auf dem eingezäunten Wege zwischen den Feldern, stand der Grillenton ohne Unterbrechung im Ohr.
Ist das guter Stil oder nicht? Dafür läßt mancher seinen Thomas Mann stehen.
Und um ein letztes Mal zu den Wasserfällen zu pilgern: Eingeschoben in die dramatische Handlung finden sich Schilderungen des Innenlebens Zdenkos, der sich auf seinem Pferd auf einmal überwältigt fühlt von einer neuen Erkenntnis, von der Erkenntnis seiner Furchtlosigkeit. Der Grund dafür klingt bizarr: Es ist der Fortfall einer Gefühlserscheinung, die er schon in Wien erfahren hatte und die darin bestand, daß er den Sonnenglast «oft als dunkel empfand, bei leichtem Schwindel».
Plötzlich erkannte er’s mit voller Klarheit, daß der Gang hier über den Fall ihm hätte furchtbar werden können, wäre jenes dunkelnde und schwindlige Gedrücktsein gegen den Boden noch in ihm gewesen. Es war fort. Scharfen Lichtes, hell und glänzend, lag die Weiße des schäumenden Wassers in der Sonne. In diesem Augenblick empfand er Sicherheit, ja Kraft. Was er vor sich sah, das hatte er gleichsam fest und bändigend in der Hand. Vielleicht lächelte Ivo eben deshalb, als Zdenko ihm jetzt in die Augen sah. Dieses Lächeln war anschmiegsam und unterwürfig zugleich.
Der Ausdruck Ivos wird sich freilich ändern, als er bemerkt, daß Zdenko diese neugewonnene Sicherheit auch nach dem schrecklichen Unglück nicht verliert. Der Autor schildert diese doppelte Perspektive wieder durch den Austausch von Blicken. Zdenko und sein Knappe Ivo stehen neben dem Leichnam Donalds:
Zdenko blickte, nachdem gebetet worden war, in die Planei hinaus, über das schäumende Wasser, in die Sonne. Dann auf Ivo. Es mag sein, daß Zdenko’s Augen geblitzt hatten. In den noch feuchten Blick des Reitburschen trat etwas wie ein erschrockenes Staunen, fast ein ehrliches Entsetzen. Zdenko sah weg. Von jetzt an wußte er, daß es galt, sich zu beherrschen, den seltsamen neuen Mut zu verbergen, der ihn, und gerade angesichts dieses Toten, erfüllte, notwendigerweise beleidigend für jeden Zeugen der Stunde, die Trauer gebot.
Die komplizierte Syntax des Schlußsatzes entspricht den komplizierten, fast nicht in Worte zu bringenden Gefühlen. Der Roman ist demnächst zu Ende, es folgt rein gar nichts auf diese geheimnisvolle innere Entwicklung einer Nebenfigur. Aber genau darin besteht Doderers Größe, daß er noch auf dem vorletzten Meter vorm Ziel nicht müde wird, uns etwas menschlich Sonderbares, etwas Dunkles, aber Wahres möglichst genau zu erhellen. Es sind Stellen, in denen Stil so sehr verschmilzt mit dem subtil Empfundenen und Gedachten, daß man auf der Sprachebene fast nichts mehr zeigen oder nachweisen, sondern nur noch ergeben die Hände nach außen wenden kann.
Essays wie Bruder Hitler freilich durfte man von ihm nicht erwarten.