Hans Henny Jahnn. Krokodile unter sich

Wird ein Geheimtip nicht irgendwann auch modrig? Seit Erscheinen des Fluß ohne Ufer, seinem Hauptwerk, ist er ein Geheimtip geblieben, der Mann mit dem unbuchstabierbaren Namen: Hans Henny Jahnn. Fluß ohne Ufer – gerühmt sei, wer ihn überquerte. Jahnn wird, ähnlich wie Musil oder Döblin, immer wieder von Thomas-Mann-Verächtern gegen ihn, Mann, in Stellung gebracht. Botho Strauß hält den Fluß ohne Ufer für eines der prächtigsten Prosawerke deutscher Sprache. Wolfgang Rihm schließt sich

Der Verfasser gesteht, daß es ihm unmöglich ist, das Werk Hans Henny Jahnns in toto oder auch nur in längeren Kapiteln zu lesen. Wer malt seine Erleichterung, als ihm der Kritiker Felix Philipp Ingold die Mühe abgenommen und ein hochdosiertes Stil-Extrakt aus Perrudja ausgezogen hat? Wir zitieren mit Dank aus dem kritisch-sympathisierenden Essay, der folgende Passage aus dem 19. Perrudja-Kapitel für repräsentativ erklärt:

Sie schrieen sich an, weil sie sich schön fanden, bissen ihre Zähne ineinander, weil sie sich fühlten und der Schmerz eine taube Nuss war. Und eine Stille kam. Das Meer wie Glas. Wie eine Kerze die Sonne. Das Grün der Bäume hielt an. Die Hunde wedelten mit dem Schwanze. Die Pferde fraßen. Die Neger lachten. Libellen schwebten. Teichrosen: weiß, grün, gelb. Siebenblättrige Lotosblüten. Schnecke am Blattrand. Dengelndes Schiff. Dünen. Sand rieselte. Ein Buch. Die Buchstaben tot. Kirchhof der Worte. Kein Richter. Leere Gefängnisse. Die letzte Gerichtete ist zum Himmel eingegangen. Alle schwarzen Mondsteine wurden weiß. Zwillingsbrüder schliefen im gemeinsamen Bett. Eine Tigerin, eine Tigerin, die schwanger ist und deshalb frisst. Frisst, um zu gebären. Gebiert um zu säugen. Säugt, damit die Nacht still wird. Das Krokodil schloss das Maul und war nicht mehr. Die Zeit hielt tausend Jahre an.

Ein Stil? Ganz sicher. Expressionistisch nennt man ihn wohl, voller Lyrismen, die die Prosa durchsetzen oder überwuchern. Kein Kirchhof der Worte, sondern verrätselt-anspielungsreich, halluzinativ an der Grenze zum Delirierenden, man möchte nicht wissen, welchen Tigerkrallensud der Autor zu sich genommen hat vor der

Aber Poesie darf alles. – Ein Stil, ganz sicher, aber ein auf Dauer in Prosaform schwer erträglicher. Warum genau? Abgesehen vom strengen Krokodil- und Pferdestallgeruch bei Jahnn und dem Säftemix aus Blut, Schweiß, Sperma und Urin ist es das Fehlen eines anderen Fluidums, das Jahnns Prosa so schwer goutabel macht. Es gibt in ihr keinen Tropfen Humor. Dafür droht ihr immerzu die Gefahr der unfreiwilligen Komik. Alles Steile, expressiv Gesteilte bis hin zu George schwebt in dieser Gefahr.

Thomas Mann – und Kafka – trieben ähnliche Unaussprechlichkeiten um wie George oder Jahnn. Ein Krokodil gibt es auch beim Autor der Joseph-Romane. Allerdings schließt es nicht wie in Perrudja das Maul, sondern frißt sich im Gegenteil, in der Drohung von Potiphars lüsterner Gattin, am Schenkel des spröden Beischlafverweigerers Joseph empor. Eine Schilderung, durch die ihr Erfinder ausweislich des Tagebuchs «sinnliche Erschütterung» erfuhr. Krokodil hin, Krokodil her – wo ist der Unterschied?

Es gibt einen großen Unterschied. Thomas Mann hat, anders als George oder Jahnn, seine Dämonen in das konservierende Kältemedium der Ironie getaucht. Darum, unter anderem, hat er heute mehr Leser als die kleine Gemeinde am Fluß ohne Ufer oder die Besucher des totgesagten Parks; wobei die Leserzahl nichts über die Qualität besagen muß, darüber keine Mißverständnisse.

Und auch darüber keine: Wilde Metaphorik muß nicht pathetisch und kitschnah sein wie bei Jahnn. Lesen wir einmal ganz neutral folgende Stelle:

Interessante Prosa, kühne, aber einleuchtende Bilder – was ist das für kurioses Zeug? Es ist aus dem Roman Doctor Billig am Ende des sich selbst so titulierenden Dadasophen Richard Huelsenbeck (1892–1974), ein Freund Hugo Balls, Psychiater im Brotberuf, Mitbegründers des Cabaret Voltaire. Ja, und warum nicht?