Unica Zürn: Seide, Nebel, Tinte, Schaum

Das folgende Gedicht trägt den Eichendorffschen Titel: Aus dem Leben eines Taugenichts. Es ist aber mehr als ein Titel, es ist eine Gebrauchsanweisung, eine strenge Rezeptur.

Es liegt Schnee. Bei Tau und Samen

Leuchtet es im Sand. Sieben Augen

saugen Seide, Nebel, Tinte, Schaum.

Es entlaubt sich eine muede Gans.

Wie taktlos. Unica Zürn, 1916 in Berlin geboren, wurde verrückt. 1959 wurde sie das erste Mal in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und litt bis zu ihrem Freitod 1970 unter psychotischen Schüben. Es entleibte sich eine müde, seit langem sehr müde und hochpotente Dichterin mit größten Gaben. Minus der, nicht an die falschen Männer zu geraten (ein Dauerthema bei Dichterinnen). Zürn lebte, nach ihrer ersten gescheiterten Ehe, mit dem Surrealisten Bellmer in Paris, sie verkehrten mit der künstlerischen Avantgarde, es half nur alles nichts, sie blieb krank, und bei einem kurzen Klinikurlaub stürzte sie sich aus dem Fenster.

Avantgarde war Zürn in gewisser Weise selbst. Ihre Anagramm-Exerzitien nahmen etwas voraus, was in Paris in der Oulipo-Gruppe um ihren Gründer Raymond Queneau Schule machte. Der Begriff war ein Akronym aus L’Ouvroir de Littérature Potentielle (Werkstatt für Potentielle Literatur), und die Idee war wie bei Zürn die einer freiwillig angelegten Fessel, einer sogenannten Contrainte. Freiwillige Exzentrik ist keine mehr, könnte man sagen. Es ist Geistes-Akrobatik, es ist das Go innerhalb der Poesie.

Ein Jahr vor Zürns Suizid schrieb Georges Perec einen Roman mit einer besonders stachligen solchen Fessel, ein sogenanntes

Dreißig Jahre nach Perecs Tod fand sein Roman einen deutschen Übersetzer, der bereit war, sich dieselbe stachlige Fessel anzulegen. Auch er entfernte das «e» aus seiner Tastatur, bevor er La Disparition übertrug. Bei Eugen Helmlé lautete der neue Titel Anton Voyls Fortgang. Nachweisbar «e»-frei. Und was macht Helmlé, wenn jemand aus dem Fenster schaut? Grinst uns aus dem Fenster nicht der e-Beelzebub entgegen? Das Unaussprechliche heißt bei Helmlé «Wandloch mit Glas davor». Respekt! Und dennoch: Feiern wir unsere Vokale.