Wolfgang Hilbig: Alte Abdeckerei

Der aus Meuselwitz bei Leipzig stammende, in einer Bergarbeiterfamilie aufgewachsene Dichter, der im Westen, wohin er 1985 übersiedelte, so wenig zurechtkam wie im alten Osten, hat eine nicht riesige, aber stabile Lesergemeinde, die oft den Erfahrungshorizont der DDR-Sozialisation – Sozialismus-Sozialisation wäre ein Zungenbrecher – mit dem Autor teilt. Als West-Pflanze tut man sich vielleicht etwas schwerer mit ihm.

Hilbigs melodiöse Prosa, wie sie sich in der 1990 veröffentlichten Erzählung Alte Abdeckerei entfaltet, die vielen als sein Hauptwerk gilt, fällt zunächst ins große Fach der Sprache, die sich selbst zum Dauerthema macht. Diese Meta-Ebene erklärt Ingo Schulze in seinem Nachwort zur Abdeckerei zum geradezu notwendigen Merkmal moderner Prosa.

Solche selbstreflektive Literatur neigt sonst zum Blassen oder Anaeroben. Die Prosa Wolfgang Hilbigs ist im Gegenteil tellurisch-vegetativ. Sie hat, um es im Bild zu sagen, etwas

Frei davon, und am stärksten, sind Hilbigs Naturschilderungen:

Ich ließ den Blick weiter schweifen: das Flüßchen enteilte in eine Wildnis mannshoher Brennesseln, die noch grün waren; irgendwo schnellten, die Weiden ablösend, Pappeln in die Höhe, die offenbar zuerst kahl waren im Herbst; und bald sah ich sie von den reglosen Klumpen schwarzer Vögel belaubt, die auf den Sonnenuntergang mit klagenden Schreien reagierten.

Da möchte man kein Wort verändern, es ist gesehen, gehört und vor allem in dem Verb «belauben» gefunden. Klanglich wie rhythmisch ohne Fehl ist auch das folgende originelle, aber nicht überkünstelte Bild:

«In einiger Entfernung, in einer Senke, lagen die reglosen Augen zweier runder Waldseen, den Blick nach innen, schon halb unter die dunklen Lider gekehrt, die der Schatten des Waldrands über ihren gleichmütigen Schlummer schob.»

Bei dem «Wer ist wer?»-Quiz, das bald folgen wird, bliebe Hilbig mit diesem Satz sicher undetektiert.