Lange mit ihm befreundet, später fast sein bester Intimfeind, teilt Eckhard Henscheid mit Hans Wollschläger ein ähnliches literarisches Los. Die Manier, der Manierismus bedrohte sie am Ende beide. Davor steht ein erzählerisches Werk, das mit der Novelle Maria Schnee einen bis heute merk- und denkwürdigen Höhepunkt erreicht.

Der raffiniert schlichte Ton, in dem sie eine Episode aus dem Leben des unklar vagabundierenden Helden Hermann erzählt, hat Anklänge, aber keine direkten Vorläufer. Wenn Stil unter anderem bedeutet, nach drei Sätzen erkannt zu werden, ist Henscheid unter den Stilisten der Neuen Frankfurter Schule der mit Abstand markanteste.

Der sonst auch zu Satzkaskaden fähige Autor wählt in Maria Schnee einen behutsam parataktischen Prosafluß, in dem etwas vom Kafka des Verschollenen anklingt, etwas vom Schatzkästlein des Johann Peter Hebel, mit Anklängen auch an Thomas Bernhard, dessen minimalistische Monotonie Henscheid in einer Erzählung parodiert hat. Es ist ein brüchig-goldener Legendenton, der zwischen dem Rührenden und dem Komischen hin- und herschwingt. Das Geheimnis dieses Tons und der zart komischen Grundierung liegt in der Erzählperspektive. Sie ist strikt personal. Der Autor bleibt in der Figur, es gibt keinerlei auktoriale Draufsicht, wir Leser sind eingesperrt in die Hirnstube jenes Hermann. Und dieser Hermann ist ein moderner Parsifal, ein reiner, gutmütiger Tor, der höchstens die Hälfte von dem begreift, was um ihn herum geschieht.

Vor Hermanns Augen flimmerte weich die Luft. In seinem Bauch klopfte etwas. Das war sicherlich der Hunger.

Nun, wenn es im Magen klopft, dann mag es wohl der Hunger sein. Gibt seine Begriffsstutzigkeit dem Helden etwas leicht Komisches, so macht ihn seine Ängstlichkeit und Hypochondrie wiederum rührend. Bei der zitierten Stelle stehen wir kurz vor dem stillen Höhepunkt der stark christologisch unterfütterten Novelle. Hermann, halb Schubertscher Wanderer, halb grenzdebil, drückt vergeblich die Klinke eines leeren Kirchleins. Will sagen: Der sakrale Raum ist versperrt, er ist nur mehr ein Sehnsuchtsort, zu dem es keinen Zugang mehr gibt.

Der eigentliche Plot-Höhepunkt ist, daß diesem Hermann in dem Wirtshaus, in dem er abgestiegen ist, ein Baby zum Kauf angeboten wird. Für 10 Mark könne er es jederzeit haben, erklärt ihm die junge, überforderte Mutter. Der liebesbedürftige Hermann willigt in den Kauf ein. Diese unerhörte Begebenheit bereitet die Novelle zweihundert Seiten lang im Schneckentempo vor; Schneckentempo nicht nur im Vergleich zu einer Novelle Kleists.

Der Schluß, Hermann ist das Baby wieder losgeworden und nimmt Abschied von dem Gasthaus, klingt milde bizarr und unvergeßlich aus:

Hermann straffte den Körper unter seinem Reisebündel und drehte ihn herum, einen wahrscheinlich letzten Blick noch auf das gelbe Haus zu werfen. Stahlblauer Rauch drang aus dem Schornstein in den strahlend blauen Himmel. Hermann sah lang in die Luft hoch und ließ endlich die Augen

Nicht: Im Fenster war Hubmeiers Kopf erschienen. Henscheid weiß, wir Leser wissen, daß es schlecht anders möglich ist, als daß mit dem «Rumpf» des Wirts auch dessen Kopf im Fenster erscheint. Aber genau diese fast nonsensehaften Partikel machen Henscheids unverwechselbaren Ton. Ein anderes Mittel dieses Tons sind die kleinen Wortumstellungen, wie sie sich z.B. Joseph Roth nur selten erlaubt hat (und Heinrich Mann sie sich immerzu erlaubt). Henscheid schreibt nicht: Ertappt winkte Hermann dem Wirte zu, sondern: «ertappt nickte dem Wirte Hermann zu». Er schreibt nicht: strich die Morgenbrise hin, er schreibt: «strich hin die Morgenbrise». «Am Himmel die Sterne blinzelten golden und silbrig.» Das ist nun allerdings doch Joseph Roth. Die Wortstellung richtet sich gegen das Gewohnte und die Gepflogenheit, sie unterwirft sich ganz dem Rhythmus. Bei der flachen, fächelnden freundlichen Hand regieren die sanften Assonanzen.

Ist das manieriert, gar kokett? Das wiederum nicht. Henscheid schmiegt sich, darin Robert Walser nah, seinem schüchternen, unbeholfenen Helden an, der sich die Welt, die ihm fast vor Sinnlosigkeit birst, verschönern will. Es ist etwas Zwangsneurotisches an dieser Prosa, ja fast etwas Katatonisches. Biegsam hypotaktische, logisch in Unter- und Nebensätze gegliederte Sätze verbieten sich für diesen Typus Held.

Die Novelle Maria Schnee leitet Henscheids Spätwerk ein, oder dieses Spätwerk besteht schon fast aus ihr. Bekannt, ja über

Auf Herrn Leobolds bewegende Bitte hin nahmen auch wir Wanderer rasch noch einen Obstschnaps, ein «Zischerl», wie Alfred Leobold sich neuerdings ausdrückte, dann ging es hinein in die erhabene und glänzende Bergwelt, Hölderlin nennt sie sogar «edelmütig», und recht hat er. Auf einer Wiese lungerten ein paar Golfspieler. Beim näheren Hinsehen stellte sich heraus, daß es scheckige Kühe waren. Naja, auch gut.

Was macht diesen Ton? Er ist uneigentlich, sich immer selbst bewußt, er pastichiert und überzieht und quillt über, er ist unökonomisch und alliterationssüchtig, er mischt das Sublime mit dem Groben, das Ätherische mit dem Vulgären, den Nonsense mit dem Theologischen. Obwohl überall sofort wiederzuerkennen, ist der Henscheid-Ton dabei variabel und registerreich, in Maria Schnee, wie wir gesehen haben, viel zurückgenommener als in der frühen Trilogie.

Was Henscheid mit anderen großen Autoren – und eben nicht Wollschläger – verbindet, ist die Kunst des genauen Hinhörens. In Geht in Ordnung sind es weizenbierselige Wirtshaus-Grantler, die der Erzähler so plastisch-komisch zu Wort kommen läßt, daß man meint, es habe ihnen noch nie jemand so aufmerksam gelauscht. Der Ort des Geschehens ist die süddeutsche Stadt Seelburg, die sich von dem oberpfälzischen Vorbild Amberg, der Heimatstadt Henscheids, ableiten läßt, wenn man das «Am» zur französischen

In Seelburg also lauscht dieser Ich-Erzähler den wortkargen Äußerungen des inzwischen aus dem Teppichladen ausgeschiedenen Herrn Leobold, dessen Erdenwandel und versteckte Heiligkeit schriftstellerisch nachzubilden er kurz vor Romanschluß beschließt. Sein zärtliches Überwachen des Todkranken findet im «Seelburger Hof» oder der italienischen Velhornwirtschaft «Wacker-Mathild» statt. Dort verbringen die Herrschaften um Alfred Leobold und seinen Ex-Kollegen Hans Duschke ihre Tage bei Bier, Schnaps und Kartenspiel. Was Kneipenszenen betrifft, gibt es ein prä- und ein post-Henscheid, das muß man nüchtern feststellen, auch wenn schon Heimito von Doderer ein Meister der Kaffee- und Wirtshausszene war. Hören wir einen Moment hinein, es geht um eines der verzwicktesten Probleme beim Kartenspiel «Watten»: Ob man mit zwei Achten und zwei Königen die Könige als Trumpf ansagt?

Holzmann atmete tief und mit Wonne durch. «Freilich, schau, das ist so», rief er in den Freiraum, «du mußt ja bedenken, daß einer von den vier Königen – der Max – Trumpf von Haus aus ist, so daß nur noch drei Könige Trumpf

«Er kann natürlich», sagte nach vielleicht einer Sekunde Pause Alfred Leobold leise, aber fest, «auch Achter sagen.»

Es ginge also auch umgekehrt. Die Kunst des Dialogs zeigt sich gerade in der Demonstration seiner Sinnlosigkeit. Auch Samuel Beckett ist einer der Ahnen Henscheids und Leobolds. Richtig zuhören kann nur der spätere Erzähler, alle andern reden aneinander vorbei. Auch der Erzähler ist dabei tingiert von der Höllenwelt, in die er sich als mitwirkender Inspektor begibt. «Herrgottl von Biberach!» klagt er über die vermuffte Bundesrepublik in den Zeiten der 1970er. Die folgenden Adjektivhäufungen, schiefen Bilder und italienischen Einsprengsel sind Henscheids stilistisches Erkennungsmerkmal.

Herrgottl von Biberach! Diese saurierzäh-mesozoisch abgebrühte, sturmgestählte, entfesselte, dröhnende Kardinalsnarkose! Ah! Sii Maledetto! Im Souterrain, in den Gewölben der Katholizität und der Handelsblüte die ganze, schöne, abgestandene Pornographie des lauthals verglimmenden Daseins – – – Und ich in meinem behaglichen

Das «Umgekehrt»-Motiv wiederholt sich bei einem gravierenderen Thema: Angeblich erwäge Herr Leobold, seine geschiedene Frau mit in den Hades zu zerren. Es sei dort über die Feiertage das Gerücht aufgetaucht, Alfred Leobold habe 2000 Mark für jemanden ausgelobt, der seine geschiedene Frau töte.

«Und das Schönste!», lachte der Runzelige, «und das will auch der Mogger gehört haben, das mit den 2000 Mark hat er nicht gehört, aber das hat er gehört: der Leobold hat gesagt: ‹zuerst bring ich mich um und dann bring ich sie um.› Jetzt hat der Mogger, erzählt er mir, gesagt: ‹Umgekehrt, Alfred! Wenn schon, dann zuerst sie, dann dich umbringen!› Da hat Leobold», nicht ganz ohne Gefühl, aber überwiegend lustig schleuderte Hans Duschke den Kopf hin und her, «hat der Alfredl angeblich geantwortet: ‹Oder umgekehrt!›»

In dieser Szene, in ihrer grotesken Komik, hat man den ganzen Henscheid. Was den Stil seiner Trilogie auszeichnet, sind die großen Sprachamplituden. Der arme Hund Alfred Leopold, der sich zum Romanende erschießt (nicht aber danach noch seine geschiedene Frau), kommt praktisch mit den drei Floskeln des Titels aus: Geht in Ordnung. Sowieso. Genau. Herr Leobold trinkt mehr Sechsämter am Tag, als ihm Worte zu Gebote stehen. Der Erzähler dagegen schwelgt und badet in Wörtern, seine Sprache ist so funkelnd reich und hochprozentig barock wie romantisch verplappert. Sie übertönt, dies die ästhetische Idee, das sprachnackte Elend im Innern der verfumfeiten Existenzen. Kurz vorm Ende

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In der Bibliothek, in der wir hier von Regal zu Regal schlendern und unsere Lieblingsbücher herauszupfen, findet man eine Unterscheidung nicht: die zwischen Hoch- und Unterhaltungsliteratur. Es gibt Bücher, die man gerne liest, und es gibt die anderen. Bitte, seien wir ehrlich: Wer würde auf die einsame Insel Finnegans Wake mitnehmen, wenn im Köfferchen auch Platz für Harry Potter wäre? Darum sei niemand überrascht, wenn wir uns einer Autorin zuwenden, die in den üblichen Literaturbetrachtungen fehlt.