Ob sie einen Ghostwriter hatte, bleibt die offene Frage, aber: Im Zweifelsfall für die Angeklagte respektive Sünderin (so der Titel des Films, der sie 1951 wegen einer kurzen Nacktszene zur Skandalfigur machte). Hildegard Knef ist zumindest einer älteren Generation sowohl bekannt als auch erschreckend unbekannt. Bekannt aus den Coverbildern von Stern und Quick und als Chansonnière mit rauchiger Stimme. Unbekannt als Virtuosin der Sprache. Die Verfasserin der Memoiren Der geschenkte Gaul ist eine Erzählerin ersten Rangs. Ihre in vielen Dialekten und Argots gewiefte, expressiv farbige, nervöse, klischeefreie, immer originelle, lustvoll übertreibende und sicher oft auch flunkernde Prosa erinnert an den Ulrich Becher der Murmeljagd, die ein Jahr vor dem Geschenkten Gaul erschien. Wie blaß dagegen die gerühmte Kunstprosa Christa Wolfs. Sakrileg! Aber wir stehen hier und können nicht anders: Für Knefs Memoiren gäben wir die ganze Kassandra.
Knef setzt die Pointen vom ersten Satz an. Sie beginnt ihr Buch mit einer Hommage an ihren geliebten Großvater.
Er trug den Kopf sehr gerade, die Wirbelsäule auch, und er hatte einen großen Mund mit vielen Zähnen; er hatte sie noch alle 32, als er mit 81 Jahren Selbstmord machte. Sein Jähzorn war das Schönste an ihm, erstens weil er sich nie gegen mich richtete und weil er so wild und rasch kam, wie er verging, und wenn vergangen, wurde sein Gesicht warm wie ein Dorfteich in der Sommersonne und seine Bewegungen verlegen und einem fischenden Bären gleich.
Da pfeift der Teufel durch die Zahnlücke, wie man in Norddeutschland sagt. Allein das Bild des verlegen fischenden Bären! Was zeichnet ihn noch aus, den jähzornigen Großvater? «Er klopfte jeden Abend mit der rechten großen Zehe gegen die untere Bettwand – sechsmal – und schwor darauf, daß er nur dadurch Punkt sechs erwachen könne.» Eines der hundert Knef-Details, die man nicht vergessen wird. So wie die Schilderung ihres ersten Hollywood-Aufenthalts 1948, der ihr zwar keine Filmrollen eintrug, aber den Rat, Marcel Proust und Manns Doktor Faustus zu lesen. Beides hat sie offenbar getan. In dieser Zeit freundet Knef sich mit Marlene Dietrich an. Ihr erstes Treffen: «Aus dem Dunkel des teuersten und finstersten Restaurants in Hollywood, dem philippinischen ‹Beachcomber›, leuchtete ein weißes, hellumrandetes Dreieck. ‹Hallo›, hauchte es über das Gesäge der Hawaiigitarren hinweg und lächelte amüsiert.» Es folgen fünf Seiten von akkuratester Komik – allein für diese Szene lohnte sich der Geschenkte Gaul.
Der auch Die Sieben Leben der Hilde Knef hätte heißen können. Es ist schwer vorstellbar, was sie alles durchgestanden und doch überlebt hat, angefangen mit den letzten Kriegsmonaten im zerbombten Berlin. Die junge Frau auf der Flucht vor der einrückenden russischen Armee:
Über uns Bomber, Jagdflieger. Zwei Jäger kommen, spielen Mäusebussard, gucken mal rein, machen brr brrr, sind weg – holen Verstärkung, kommen wieder. Der neben mir sagt Himmel, Arsch und Zwirn, springt durchs Fenster, springt auf Schienen und Schotter, reißt Beine nach hinten, reißt Arme nach vorn, brüllt. Aus der Jacke quillt Rotes. Sie wühlen zur Tür, lassen sich fallen, zwischen Waggons, kriechen runter – ich lieg zwischen Puffern, denk: Wenn der Zug jetzt fährt, bin ich Matsch. Er fährt nicht, die Lok brennt. Bussardfamilie weg. Es weint und röchelt, es macht tatütata. Ich sitz’ auf der Böschung, guck’ anderslang. Laufe ein, zwei Stunden – komm zum Bahnhof, frag’, wo ich bin – nicht mal Nürnberg. Zwanzig Stunden unterwegs und nicht mal Nürnberg. Um vier Uhr morgens kommt Sonderzug, stottert weiter, verschnauft in Salzburg. Ich sehe Häuser, Häuser mit Dach, mit Fenster, Balkon mit Blumen, sage: Ist Österreich schön. Der mit der roten Mütze und Kelle dreht sich um, glotzt mich an, wird mützenrot petunienlila, brüllt: Sie meinen wohl Ostmark.
Das Stakkatohafte, der Verzicht auf Artikel, das syntaktisch Gehetzte – der Stil paßt sich dem Geschilderten an, der ruhelosen, fiebrigen Flucht. Die politische Pointe der «Ostmark» setzt Knef an den Schluß. Sie erzählt hier, wie es auch Johannes Mario Simmel hätte erzählen können. Was keineswegs abschätzig gemeint ist: Simmels Es muß nicht immer Kaviar sein ist ein so reicher und praller Roman, daß vieles aus der Hochliteratur dagegen anämisch wirkt.
Anämie, war sie auch unter ihren Krankheiten? Nein, aber Typhus, Gelbsucht, Kinderlähmung, Meningitis, Encephalitis, Blinddarmdurchbruch – die Aufzählung erstreckt sich über weitere neun Zeilen. Hildegard Knef ist von Kindheit an mit allen nur denkbaren Gebresten geschlagen. In einer Szene schildert sie, wie sie 1968 nach einer Gallenkolik in ihrem Pariser Hotel von einem Arzt nach ihren Vorerkrankungen befragt wird. Ihr Mann geht solange ins Kino, trinkt Kaffee und kehrt anschließend zu ihr ins Hotel zurück. Da ist Hilde im Jahr 1959 angelangt. «Du weißt», erklärt der Arzt ihm nach weiteren dreißig Minuten aschfahl, «ich habe Hilde immer für ein Musterbeispiel des kraftvollen deutschen Weibes gehalten, und nun erfahre ich, daß sie ein Museum des Grauens ist.»
Knefs Selbstironie ist bezaubernd, ihr Blick auf die Menschen scharf, aber nicht ätzend. Von einem mächtigen Studioboß, der sie vergeblich in sein Schlafzimmer zu locken versucht, sagt sie nur: «Seine Persönlichkeit würde kaum das Wandsafe eines Dorfnotars füllen.» Ihre Charakterisierungen Edith Piafs, Henry Millers, Billy Wilders oder Friedrich Torbergs sind so pikant wie präzis. «Wieder lächelte sie dieses spöttische Lächeln, wie jemand, der sich gern hat und seine kleinen Fehler in Kauf nimmt» – das Lächeln Marlene Dietrichs.
Auch das Aussparen gehört zur Kunst des Erzählens.
Jahre später, in Rhodesiens Busch, sah ich einen Kudu. Er stand, nur wenige Meter von mir entfernt, auf langen graziösen Beinen, stand hoheitsvoll und unerschrocken, seine sich nach oben verjüngenden Korkenzieherhörner endeten wie Ausrufezeichen. «Er ist alt, die Herde hat ihn verstoßen», sagte der Landrover-Fahrer. Stolz, unzugänglich sah er uns an, nichts erwartend und durch nichts mehr zu enttäuschen.
Ende des Absatzes. Ausbuchstabieren muß es sich die Leserin selbst, was der Kudu zu tun hat mit der durch eine Wüste der Krankheiten und Mißerfolge gehetzten Knef. Außer dem Anfangsbuchstaben.
Ein letztes Beispiel für ihre Kunst des Porträts. Ihr alter Berliner Theaterregisseur Barlog besucht sie in New York. Im Taxi rutscht er tiefer in den Sitz und versucht, die Spitzen der Wolkenkratzer auszumachen. «‹Mensch, Mensch›, murmelte er, offenlassend ob überwältigt oder enttäuscht.» Er hat Hilde in ihrem Broadway-Stück gesehen. Anschließend bei ihr auf dem Sofa folgt die Detailkritik:
«Paß ma auf, in der eenen Szene, wenn er det Lied singt und du stur dasitzt, also da kiek nich jradeaus, kiek runter.» Er hielt den Kopf schräg, sah angewidert auf den Boden, als verfolge er den Weg einer Küchenschabe. «Und wenn de auftrittst, laß die Pause länger, bevor du redest. Dann, det Abendkleid, also wenn du det vorführst, sei noch unsicher, det darf nich elejant sein, vastehste.» Er drehte sich hin und her wie eine Robbe, die einen Wasserball balanciert: «Det muß ihr richtig peinlich sein – komm, steh ma uff …»
Nicht nur die Stimmenimitation, auch die Vergleiche, besonders die Robbe mit Wasserball, verraten die genuin komische Erzählerin. Hildegard Knef – Berliner Pflanze, Berliner Schnauze, Herz am rechten Fleck: hier werden die Klischees, die sie immer mied, einmal wahr.