Bei ihrer Laudatio auf den Kleistpreis-Träger Martin Mosebach im Herbst 2002 geriet Brigitte Kronauer kurz vorm Ende ihrer Rede ins Stocken. Sie hatte die letzte Seite ihres Manuskripts verlegt. Es war ein Discursus interruptus; das Publikum mußte der anschließenden Dankesrede des Preisträgers lauschen, ohne in den Genuß des Lob-Finales gekommen zu sein. Daß sie selbst nicht in den Genuß einer Kleist-Laudatio kam, ist ein historisches Versehen.

Ein chef d’œuvre in Kronauers reichem Werk vom Berittenen Bogenschützen aus dem Jahr 1986 bis zu den 2019 postum veröffentlichten Romangeschichten Das Schöne, Schäbige, Schwankende ist ein trügerisch schmales Bändchen, eine Sammlung von 26 Kurztexten, betitelt Die Kleider der Frauen. Alles, was Kronauer kann, entfaltet sich in diesen jeweils nur wenige Seiten langen Prosa-Miniaturen.

Eine dieser Kurzgeschichten, mit einem an die Berliner Abendblätter erinnernden Stoff, heißt Die Verfluchung. Kronauer beschreibt am Anfang, wie eine Frau in Depression verfällt, weil in ihrer Stadt nach dem Wechsel des Bürgermeisters immer mehr alte Häuser abgerissen werden.

«Ein Baum nach dem andern fiel, nein, sank nicht tragisch, sondern wurde am Stamm lächerlich zerstückelt. Neue Häuser beseitigten mit ihrem rundum aus allen Fensterlöchern dringenden Elektrizitätsüberschwang die ehemals schwarzen Nächte der Waldkäuzchen.»

Was macht diesen Stil? Man muß es nicht erklären: Der «Überschwang» macht es, das Waldkäuzchen in der schwarzen Nacht; die Klangschönheit mit ihren Assonanzen und der Poetisierung im Kontrast zur häßlichen Zerstückelung. Kronauer hat einen ganz eigenen Ton und einen ganz eigenen Blick, den sie in den Kleidern der Frauen raffiniert rückbindet, falls man Blicke binden

Auch Tante Fritzchen in Weiß erzählt aus der Sicht dieses scharfsichtigen naiven Mädchens. Die geliebte Tante, die sonst immerzu Tränen hinter ihrer dicken Brille vergießt, putzt plötzlich auffällig oft die Fenster. Das Mädchen bemerkt bald, warum: Vor dem Fenster arbeitet ein Kranführer, dem die Tante ihre Brüste präsentiert. Das Mädchen und ihr älterer Bruder sind über diese Brüste empört. Die Tante erschien ihnen geschlechtlos, und nun trägt sie sogar spitze Büstenhalter. «Jaja, in den Märchen und Filmen ist es beliebt, eine Figur zu zeigen, die man für jung hält, dann wendet sie sich um oder hebt den Schleier, und man nimmt zu seinem Entsetzen auf einen Schlag, noch mit der Erwartung des Glatten, ihr runzliges Alter wahr wie etwas Abscheuliches, wie einen Fluch und eine Strafe Gottes.» Hier nun, mit Tante Fritzchen, passiert das Umgekehrte: «Sie enthüllte in unverschämter, nicht erlaubter Offensichtlichkeit, daß sie gar nicht alt, sondern eine junge Frau war!»

Die Erzählung beginnt mit dem Satz «Für mich ist die Farbe des Verrats ein schreiendes Weiß». Die Erklärung erfolgt drei Seiten später; wieder geht es um den Besuch Tante Fritzchens und ihre immer auffälliger werdenden Brüste. Der Kronauersche Twist liegt in dem Vergleich, den das Mädchen findet – halb komisch, halb poetisch oder umgekehrt.

Dann hatte sie plötzlich an ihrem freien Mittwochnachmittag, an dem sie uns gehörte mit Haut und Haar, einen schneeweißen Angorapullover an, der wie das Bauchstück eines Katzenfellchens die offenbar noch etwas spitzeren Brüste umschmeichelte. Ihre obere Hälfte sah aus wie im Jahr davor ein wilder Kirschbaum am Bahndamm in voller Blüte, auf dessen Früchte man allerdings pfeifen konnte.

Die Kurzerzählung Die kleinen Hunde an ihren Leinen beginnt unverkennbar kronauersch, das heißt: scharf konturiert im Abseitigen, überraschend in den Synonymen und im Gedanken- und Satzverlauf, mit kühler Komikunterströmung:

Noch immer, als wäre nichts passiert, als wäre heute in Wirklichkeit vorgestern und viel weiter zurück, sieht man die angeleinten Hunde der älteren Frauen zwischen Krokussen an den Straßenrändern ihre anders gefärbten Häufchen absondern und einfach dazugruppieren. Die Frauen stehen daneben, sprechen auf die endlich erschienenen Blumenwitzbolde ein, entschuldigen sich und ruckeln ab und zu an der Leine, um irgendwie den Schein guter Sitte aufrechtzuerhalten. Es gehört seit Jahrhunderten unbedingt dazu, dieses Ruckeln, wie früher die Straßenbahnschaffner es mit der Leine über ihrem Kopf machten, um zu klingeln. Danach gehen sie schrittchenweise, beige Zylinder mit leicht gesenktem grauweißem Kopf, weiter voran, der kleine Seelentröster vornewegziehend oder hinterhergezogen.

Zu den grauweißen Köpfen äußert sich die Erzählerin auch ein andermal. Sie beschreibt ihre gealterte Mutter aus den Augen des Kindes, das Spezielle ihres Körpers, der ein sehr langer Kinderkörper war «unter den wie aus Zerstreutheit grau gewordenen Haaren». Das ist wieder gefunden und nicht gesucht, und also Stil.

In der Geschichte Annegret, die in Sachen Frauenpsychologie Romane ersetzt, ist die Erzählerin eine Sprachmimose, die einen bestimmten Abschiedsgruß nur schwer erträgt. Die Pointe ist, daß sie ihn nur beschreibt, aber nicht nennt.

Sie verabschiedeten sich mit einer vorsichtigen Umarmung, umfaßten sich und hielten zugleich beide gekonnt Abstand, da sie schwitzten, und während sie jeweils in ihr Auto einstiegen, brachen sie in den mir verhaßten, hoch angesetzten, im Norden weit verbreiteten einsilbigen, jedoch vor lauter Herzlichkeit auf zwei Silben gestreckten Schrei aus. Der Umlaut wird dabei zerschlagen von einem eingefügten «h» oder, wenn man es lieber möchte: Er nimmt das «h» sandwichartig in die Klemme, aber richtig macht man es nur, und keine einzige Frau macht das hier falsch, wenn man das «h» als Schubkraft für den Ausstoß der zweiten, langgezogenen Silbe benutzt.

Und hört man es nicht vor sich, das hanseatisch skandierte «Tschü-hüüüß»?

Um aber zurückzukommen auf Die Verfluchung und die Stadt, in der seit dem Bürgermeisterwechsel die Bäume am Stamm lächerlich zerstückelt werden: Das Ende dieser großen Miniatur wird schon auf der zweiten Seite vorweggenommen, aber so verschlüsselt, daß man es noch nicht verstehen kann. Die Erzählerin kündigt die Geschichte einer Frau an, die ihr neues Kostüm, den passenden Hut, Tasche und Schuhe, alles sehr auffällig, «aus schwermütigem Eigennutz an ihre Putzfrau verschenkte». Aus schwermütigem Eigennutz verschenkt – was soll das denn heißen?

Vier Seiten später erfahren wir es. Die depressive schöne Frau, um die ihr Mann, ein erfolgreicher häßlicher Anwalt, sich Sorgen macht, weshalb er die gemeinsame Tochter ein Auge auf sie haben läßt, scheint eines Tages besserer Stimmung: Sie geht endlich wieder einmal ins Städtchen und kleidet sich neu ein. Heimlich

Es folgt der gewaltige Schluß, die Coda, die man in ihrer Pointiertheit und der Sicherheit, mit der es syntaktisch gedrängt über viele kleine Dämme und Staustufen hinweg auf das letzte Verb hinausläuft, als ein Beispiel für souveräne Kleist-Nachfolge ansprechen darf.

Die Putzfrau machte alles wie besprochen und bemerkte nicht oder bemerkte doch, wunderte sich aber nicht darüber, wie ihr die kleine Tochter der Frau folgte, treulich auch in die Straßenbahn folgte bis zum Ziel außerhalb. Dort erst, abgelenkt von der neuen Kleidung und bemüht, die Mutter zu überwachen, heimlich, wie vom Vater eingeschärft, wohl weil seine Frau ihm Vorwürfe wegen der Observierung gemacht hatte, erkannte das Kind die Täuschung, während sich die Frau des Anwalts zur selben Zeit ungehindert im See ertränkte.

Kronauer hatte beim Kleistpreis nur die Lobrede gehalten, fast bis zu Ende; niemand hätte ihn mehr verdient gehabt als sie.