Die Präzision hätte auch einer anderen Autorin gefallen, die mit Herta Müller den bewundernswerten Drang des Alles-genau-wissen-Wollens teilt und die Allergie gegen jedes sentimentale Ungefähr. Marie-Luise Scherer: Ihr Ruf ist so legendär wie ihr Œuvre schmal. Sie sei nicht nur die Beste, wenn sie schreibe, befand ein Kollege von ihr, sie sei auch noch besser als die meisten, wenn sie nicht schreibe. Marie-Luise Scherer hat aus den Reportagen, die sie von 1974 bis 1998 für den Spiegel verfaßte, eine eigene Kunstform geschaffen, für die der rechte Begriff noch nicht gefunden ist. Scherer sucht nächtelang kettenrauchend nach dem mot juste und hat einen Proustschen Sinn fürs Detail. Anders als Herta Müller ist sie dabei nicht sprachschöpferisch ambitioniert. In ihren kalt schimmernden, gehärteten Prosastücken emaniert der Stil aus der ganz hinter die Sache zurücktretenden Genauigkeit. Die berüchtigten fact checker beim New Yorker könnten bei Marie-Luise Scherer ihr Büro verlassen und Kaffepause mit einem Donut machen – bei ihr stimmt jede Winzigkeit. Wenn sie in ihrer Studie über einen Serienmörder Die Bestie von Paris einmal erwähnt, in ihrer Erregung setze eine Madame Bailiche «die Tüte mit dem Vogelfutter zu hart auf ihrem Wohnzimmertisch auf, sodass die Körner auf den Boden rieseln», hat sie es offenbar von Madame Bailiche persönlich, erfunden haben wird sie es jedenfalls nicht.
Marie-Luise Scherer, 1938 in Saarbrücken geboren, begann als Berliner Lokalreporterin, wovon ihr Vater, ein großzügiger, faillierter und leicht mythomanischer Geschäftsmann, nichts wissen wollte. Um in der Straßenbahn, wenn Bekannte ihn ansprachen, von der eigenen Schande abzulenken, erklärte er seine Tocher zur Kulturreferentin bei der UNESCO in New York. Scherers Aufzählung ihrer tatsächlichen Tätigkeit zeigt neben ihrer Selbstironie ihren Sinn fürs Kuriose:
In Wahrheit schrieb ich über Inventuren in Berliner Zoogeschäften; über die Darmverschlingung des See-Elefanten Bolle; von einem Eichhörnchen, das Pipo hieß und an einer Pfeife zog, in der eine nahrhafte Paste steckte. «Pipo Paste» lautete die Titelzeile. Ich besuchte die Weihnachtsfeier des Pinselohraffenclubs in der Marokko-Bar. Titelzeile: «Bürsten Sie Ihren?» Ein belangvolleres Stück handelte von der Abluft aus Krematorien, mit der man Wohnungen beheizen sollte. Ein anderes von den Plänen des Senats, vom Fluglärm zermürbte Mieter aus Tempelhof umzusetzen und statt ihrer Taubstumme anzusiedeln.
Unter Scherers frühen Reportagen werden bis heute die Porträts Der RAF-Anwalt Otto Schily, Ungeheurer Alltag oder Wenn Lehmann nich mehr is hervorgehoben. Ihr Berlinerisch in Lehmann ist bedeutend besser als das von Döblin im Alexanderplatz, dabei ist er Berliner und Scherer Saarländerin. Lehmann ist übrigens ein Hund.
Burkhard Müller rühmt zu Recht zwei Eigenschaften, aus deren Balance Scherers Stil hervorgehe: Neugier und Takt. Die Neugier führe sie zu Stoffen, an denen andere vorbeigegangen wären. Ihr Taktgefühl verhindere, daß diese auf Anhieb bloß skurril wirkenden Funde der Lächerlichkeit preisgegeben würden.
Skurril, auf den ersten Blick, ist auch das Thema ihres 1994 im Spiegel veröffentlichten großen Stücks Die Hundegrenze. Mit ihm beweist Marie-Luise Scherer, wie durchlässig und unbewacht die Grenze zwischen Reportage und literarischer Hochkunst ist. Worum geht es? Mitte der sechziger Jahre hatten die Grenztruppen der DDR begonnen, zur Bewachung schwer zu sichernder Abschnitte im Sperrgebiet sogenannte Hundelaufleinenanlagen zu installieren. Durch einen Signalzaun von den Bewohnern des Sperrgebiets getrennt, liefen die Hunde an einem Drahtzaun entlang, an der gesamten Grenze zuletzt fast tausend Hunde (957, um es mit Scherer zu präzisieren). Die Grenzkommandos unterhielten ein verzweigtes System der Hundebeschaffung in der gesamten DDR. Die auf knapp 90 Seiten dokumentierte Geschichte dieser Hunde, die am Ende mit einer Ausnahme (dem gelben Colliemischling Alf) auf tauendem Eis einbrechen und jämmerlich ersaufen, bezieht ihre literarische Energie nicht allein aus der Schererschen Detailfreude, die sich bei ihrem Spezialgebiet, den Hunden, noch einmal steigert. Der erste Auftritt des gelben Alf:
Er war inzwischen halb aus dem Gebüsch getreten, was ihn die volle Länge seiner Laufleine kostete. Seine Erscheinung strahlte eine gewisse Festlichkeit aus. Ein Geriesel von Schafgarbenblüten bildete ein Dreieck auf seiner Stirn, passend darunter die erfreute Miene. Das gelbe Gesicht lag in einem löwenhaften, etwas helleren Kragen. Die Ohren hielt er so lange hochgestellt, bis Herbig ihn ansprach und er in Überschwang geriet. Wie eine Machete schlug die Rute aus, dass es den ganzen Körper mitriss bis zum Kopf, und die kleine Wildnis, aus der er ragte, rechts und links zur Seite knickte. Gleichzeitig wollte er nach vorne springen, wobei die stramm gespannte Leine ihn zurückriss. Aufrecht, mit rudernden Pfoten, hing er in seiner Fessel. «Das ist Alf», sagte der Soldat, «den könnten Sie mit einer Mütze totschlagen.»
Alf, der als einziger überleben wird. – Die Pointe der Hundegrenze ist nicht, daß sie mit Thomas Manns Herr und Hund konkurrieren kann, was die Einfühlungsgabe betrifft. Ihre Pointe ist, daß sie etwas viel Größeres erzählt, als sie es vorgeblich tut. Wie dieser Staat funktionierte oder dysfunktionierte, wie bürokratisch-ausgeklügelt er noch das allerletzte Schlupfloch zu versiegeln suchte, durch das man dem sozialistischen Zwangsparadies hätte entwischen können; wie die einfachen Leute sich durch Tauschhandel über Wasser hielten und mit dem Machtapparat arrangierten, wie genuin sick in seiner preußisch-sächsischen Ausgetüfteltheit dieser von Stalin-Traumatisierten gelenkte Apparat dabei war – wer Die Hundegrenze gelesen hat, der weiß, warum es schiefgehen mußte mit der Deutschen Demokratischen Republik. Scherer verliert darüber kein Wort. Das Große Ganze zeigt sich im pfeifenden Drahtseil, an dem die Hunde angekettet sind.
Wilhelm Tews hatte einen Logenplatz auf die Hunde an der Staatsgrenze. […] Das engmaschige Rhombengitter entrückte das dahinterliegende Geschehen etwas. Für den flüchtigen Blick war alles weichgezeichnet wie durch Gaze, die Hunde einvernehmlich mit der Natur, in gleichmäßigem Eifer ihr Revier ausmessend. Sie liefen ein kleines Oval um ihre Hütte und längs des Drahtseils ein großes, als vollführten sie eine Kür auf Schienen. Sie trugen, als wollten sie Kunststücke zeigen, ihre Näpfe hin und her. Sie gruben Löcher, in denen sie ganz verschwanden. Über Stunden schossen die Sandfontänen hoch.
Wilhelm Tews aber ist ein Hundekenner wie Scherer.
Tews wusste, dass diese Erdarbeiten Verzweiflungstaten waren. Nicht Possierlichkeit, sondern Verlassenheit schickte den Pottschlepper und Kürläufer auf seine Bahn. Die ganze Szenerie des Fleißes und der Fertigkeiten war ein Trugbild. Tews kannte alle Nuancen des Hundeunglücks.
Vor allem hat Tews auch ein empfindliches Gehör:
Unter allen akustischen Besonderheiten, die die Grenze bereithielt, fand Tews nur eine wirklich behelligend: die von Anschlag zu Anschlag jagenden Eisenrollen, an denen die Laufbahnen hingen. Das pfiff und riss an den Nerven. Und die Hunde, die es bewirkten, machte es verrückt. Je besessener sie liefen, um dem Pfeifen zu entkommen, um so schneidender pfiff es. Tews konnte der Entstehung des Hundewahnsinns vom Garten aus zusehen.
Und wir Leser der Hundegrenze können dank Scherer dem schneidend pfeifenden Wahnsinn dieses Systems vom Logenplatz unseres Sessels aus zusehen, mit dem schlechten Gewissen der westseitig Nachgeborenen.
Ein anderes Genre, in dem Scherer eigene Maßstäbe setzt, ist die Dankesrede. Ihre in dem Band Unter jeder Lampe gab es Tanz veröffentlichten Reden sind fast Novellen und überbieten einen nicht geringen Teil der jährlichen Belletristik-Produktion. Immer Verlaß ist bei ihr auf die Motivkombination Hund und Tod. In ihrer Rede zum Ludwig-Börne-Preis erzählt sie von einem Kuba-Besuch im Jahr 1994. Scherer streift durch Havanna und bemitleidet nicht etwa die darbenden Menschen. Sie hält es mehr mit den herumstreunenden Hunden und sammelt in ihrem Hotel Essensreste, um sie damit zu füttern. Weil sie aber nun einmal Marie-Luise Scherer ist, entgeht ihrer Beobachtung nicht, was sie damit bei den anderen auslöst.
Ich spürte auch bald den Blick der Kellner. Sie standen am Fenster aufgereiht, jeder von tadelloser Erscheinung, und traten nur heran, um abzutragen und Platz zu schaffen für den jeweils nächsten gefüllten Teller, mit dem der Gast zurückkam vom Buffet. Ich hätte ihnen gern den Grund meiner Gier erklärt, fürchtete aber ihr Unverständnis, welches ich ihnen gleichzeitig zugestand.
So verlegte ich mich darauf, erst spät beim Essen zu erscheinen, wenn im Speisesaal fast nur noch Raucher saßen. Ich konnte jetzt die Reste überblicken, auch fremde, halbvolle Teller in meine Tüte kippen. Die Kellner standen jetzt mit dem Rücken zum Saal, was mich glauben machte, sie täten es – meines unappetitlichen Hantierens wegen – aus Diskretion. Ich schob nämlich auch Rührei in die Tüte. In Wahrheit wollten sie selber an die Reste. In jeder Fiber gespannt, manche sogar mit einem Bein zitternd, erwarteten sie mein Verschwinden.
Es ist nur ein Verb, das die ganze Geschichte erzählt: Im Zittern der vor Hunger fast umfallenden Kellner steckt die Selbstanklage der Erzählerin, deren Hunde-Puschel eine Seite hat, die ans Inhumane grenzt.
Mit den Hunden hat sie es wirklich, wie auch eine Bemerkung in ihrer Dankesrede zum Heinrich-Mann-Preis verrät: «Wie jeder, der noch lebt, weiß ich nichts vom Tod, bin aber ständig mit ihm befasst. Bei jeder Zigarette rechne ich mit seiner Ungeduld und habe soweit alles geregelt, auch den Verbleib meines frisch geimpften Hundes.» Scherer läßt so schnell nichts ungeregelt, sie überweist dem Friedhofsamt zu jedem 1. Dezember 47 Euro für ihr auf dreißig Jahre Liegedauer gebuchtes Grab, am liebsten hätte sie, genierte sie sich nicht vor ihrem Rechtsanwalt, auch noch testamentarisch angeordnet, bei ihrem Leichenschmaus «zu den Mettbrötchen beim gemütlichen Teil auf dem Saal mehr Zwiebeln zu reichen». On s’en occupera.