Das Leseerlebnis mit Undine Gruenters Hauptwerk Sommergäste in Trouville ist das Folgende: Nach ein paar Seiten perfekter Prosa wartet man, halb bang, halb mißtrauisch, auf den ersten nicht guten, auf den ersten störenden Satz. Er kommt nicht.
Sommergäste in Trouville versammelt fünfzehn Erzählungen, die lokal an den Titelort gebunden sind und einen Reigen von Personal vorführen, vom Aristokraten zum Dienstmädchen, vom pubertierenden Mädchen zum Greis, alles unauffällig, aber hochmusikalisch miteinander verbunden, oft in Rondo-Form.
Was zeichnet Gruenters Prosa vor allem aus? Sie ist eine Meisterin der Atmosphäre und der stillen, unausgesprochenen Pointe. Ihr Stilgestus ist nicht auftrumpfend: metaphernsparsam, präzise, rhythmisch schön tariert, kein falsches Wort, nie auf den Effekt bedacht. Gruenter aquarelliert Stimmungen und Lebensmomente so sicher und schlank; entsetzlich schwer nachzumachen und fast ebenso schwer vorzuführen. Zitieren ist darum fast sinnlos, es ist das Gewebe, das feinste Textgewebe, das ganz leise knisternde atmosphärische Spannung erzeugt, obwohl nicht das geringste von novellistischem Interesse passiert. Diese Spannung ist besonders erotischer und darin wiederum erotisch-illegitimer Natur: Ehefrau mit gerade eingetroffenem Sommergast, Stiefmutter Miriam mit dem jungen Alexandre –
Sie hatten ein Picknick, in einem schattigen Tal, einem Hain, in dem Elstern und Krähen von Wipfel zu Wipfel flogen und ein später Kuckuck rief, bevor gegen drei unter den brütenden Kronen die Stille ausbrach. Alexandre schlief, auf dem Bauch liegend, das Gesicht zwischen den Ellbogen, und vielleicht fiel eine Haarsträhne so über Stirn oder Arm, daß Miriam sich verlieben mußte. Sie kaute auf einem Strohhalm und bewachte den Schlaf der Haarsträhne, und bei jedem Atemzug des Schlafenden zitterten ihre kleinen Herzkammern.
Der «Schlaf» der Haarsträhne, die streng genommen zwar wachsen, aber weder wachen noch schlafen kann, ist die kleine poetische Freiheit und der Witz der Szene. Erzählt wird bei Gruenter immer nur die Vorgeschichte der jeweiligen liaison dangereuse, die Luft flimmert, die Erzählung stoppt an der Stelle, an der es zu einer heimlichen Verabredung kommt. Der Vorhang wird nicht gelüftet, aber eine zarte Hand öffnet einen feinen Spalt. Es ist ungefähr das Gegenteil von Borchardts Weltpuff Berlin.
Hier abermals eine Picknick-Szene, ein Champagnerfrühstück im Park eines verfallenden Schlößchens, geschildert aus der Sicht der Tochter Satie. Zum Geburtstag ihres Vaters, eines illustren Opernleiters und Lebemanns, reisen dessen zahlreiche früheren Frauen und Geliebte an, von der Tochter «Tanten» genannt. Eines der Geschenke für Papa ist eine ziselierte Silberkrücke, mit der er, wie die Großmama sagt, nach den «Enkeln junger Mädchen» angle. (Hier wird sich bei der polyglotten Großmama eine Verwechslung eingeschlichen haben, «Enkel» haben die jungen Mädchen sicher nicht, wohl aber die auf englisch ähnlich ausgesprochenen «ankles», Fußknöchel, die sich von einem Krückstock mit gerundetem Griff durchaus angeln lassen.)
Die Tanten machten ein wenig grämliche Gesichter, weil Papa tatsächlich bei seinem bevorzugten Alter blieb, wenn die Wahl auf eine neue Favoritin fiel: über zwanzig und unter dreißig. Auf einer winzigen Platte gab es jetzt winzige Sandwiches mit Kaviar, und die Sonne stand über den Wipfeln und trocknete Tau und kühle Schatten weg. Schon um acht spürte man die Hitze, und die ersten Hummeln flogen zwischen Mohn und Klee, wo der Park in die Landschaft überging. Auf der Treppe lag jetzt ein blaues Samttuch, auf dem die Geschenke, in einem kleinen Köfferchen transportiert, ausgebreitet lagen, hübsche Päckchen aus Rom, München, Paris und Nizza, und Tante Erste Ehefrau erinnerte Satie daran, daß sie selbst nach ihrer ersten Proust-Lektüre befunden habe, seine Sätze seien Pralinen für alte Tanten, in bonbonfarbenes Seidenpapier eingewickelt.
Wenn man diese von Proust und Keyserling getränkte Prosa delikat oder gar deliziös nennen würde, hätte man nichts Falsches gesagt, aber doch einen falschen Eindruck befördert: den des Bonbonfarben-Geschmäcklerischen. Das kann auf den deutschen Leser so wirken, weil alles in Frankreich und oft, keineswegs immer, in feiner Gesellschaft spielt und die Namen – Alexandre, Satie, Sorel – bedeutungsvoll abgekostet sind. Kaviar, Veuve Cliquot, Madeleines – schon klar. Aber Gruenter ist nicht geschmäcklerisch, sie kennt das beschriebene Milieu und kann auch ganz handfest sein. Auch der junge Ich-Erzähler als Gast auf dem Schloß der Fürstin kennt es:
«Und in der Nacht, wenn sie mich in meinem Zimmer besuchte und keine Lust hatte, durch den langen Flur bis zum Bad zu laufen, drehte sie den Wasserkran auf, und ich sah durch den transparenten Stoff ihre langen Beine, wenn sie sich – ganz aristokratische Freiheit – hinter dem Paravent auf das Waschbecken setzte.»
Undine Gruenter, erschütternd früh gestorben, kaum fünfzigjährig, balanciert mit den Sommergästen auf einem Stilniveau, einem Höhenpaß, zu dem berühmtere und wirkmächtigere Autoren nur matt hochlinsen könnten.