Aus Schwyz stammt eine andere subtile Stilistin, deren Rang vermutlich deshalb gelegentlich unterschätzt wird, weil sie, musikalisch gesprochen, eher in der Chopin-Tonlage schreibt als in derjenigen Bruckners. Getrude Leuteneggers Prosastücke sind nicht umfangreich, ihre Sprache ist makellos und graziös, mit ab und zu aufblitzendem schalkhaftem Witz. Es ist eine Prosa zum Lautlesen, jeder Satz ist unauffällig rhythmisiert, diese Alchemie beherrscht sie wie wenige. Thematisch wurzelt sie in der Schweiz; als zartes Wasserzeichen auf ihrem Büttenpapier ist etwas Katholisches eingeprägt, was so wenig wie bei Doderer oder Mosebach einen Zug ins Humoristische hindert. Das Anti-Dramatische – das, was man gewöhnlich das Stille nennt – teilt sie mit dem zehn Jahre älteren Salzburger Walter Kappacher, auch er ein Prosa-Autor von Rang.
Leutenegger hat den Blick für das kleine farbige Detail; zum Beispiel die ungebührlichen Schürzen in Gletschernähe:
«Mit Beschwörungen versuchte man einst dem stark zunehmenden Fieschergletscher im Wallis Einhalt zu gebieten und gelobte für immer drei Dinge: jährlich eine Prozession in den Ernerwald zu machen, den verborgenen Tänzen abzuschwören, Frauen und Töchter keine roten Schürzen mehr tragen zu lassen.»
Offenbar hatte man sich daran gehalten und die roten Schürzen verbannt; heute ist der Gletscher stark abgeschmolzen. Die Miniatur ist aus der Sammlung Das Klavier auf dem Schillerstein, darin ein Stück besser als das andere, am besten vielleicht der fast reportagehaft einsetzende Essay über Catherine Colomb (1892–1956), eine fast vergessene französischsprachige Schweizer Autorin.
Blick, vor dem Morgengrauen, ins Innere eines Hauses: Eingesperrt in ihrem Zimmer schlafen, angekleidet, mit offenem Mund, die Luft ist zum Ersticken, Laubschneiderinnen aus Savoyen. Bei unverschlossener Tür wären sie schon um zwei Uhr nachts hinausgelaufen, blind und schweigend durch die Schlucht gewatet, wie Plesiosaurier in den Weinbergen eingefallen und hätten, bevor es hell wurde, vielleicht sogar das Tragholz abgeschnitten, denn sie drängen darauf, nach Leistung bezahlt, zu ihren an der Wand aufgehängten, mit Branntwein betäubten Säuglingen zurückzukehren […]
Allein die Plesiosaurier! Und die betäubten Säuglinge an der Wand. Schreibt’s besser, Schweizer oder nicht!
Und dann gibt es auch noch den Roman. Erinnern sich die Leserinnen noch an Eyjafjallajökull? Das war der isländische Vulkan, der 2010 explodierte und durch seinen Ascheausstoß den Flugverkehr über Nord- und Mitteleuropa lahmlegte. Hätte der Vulkan ruhig gehalten, gäbe es das schönste Buch Leuteneggers nicht: Panischer Frühling. Die Autorin war zum Zeitpunkt des Flugverbots in London gefangen und hatte viel Zeit fürs Flanieren am Ufer der Themse.
Fast unmerklich stieg die Flut, umspülte die Steine, vertrieb die herumhüpfenden Tauben, löschte Spuren von Menschen und Tieren. Eine Flipflopsandale, eingebacken in Sand, leistete lange Widerstand, dann wurde sie fortgeschwemmt. Der Meergeruch hatte sich verflüchtigt. Die Sphinxe träumten mit offenen Augen, ihre Blicke gingen die Themse hinauf und hinab, aber sie hatten das Chaos der schwankenden Segler und Schiffe mit ihren exotischen Frachten nicht mehr gesehen.
Viel Zeit hat sie auch zum Sinnieren. Die erzwungene Freiheit läßt auch in ihr etwas aufsteigen, sie wird überschwemmt von den Erinnerungen an ihre Kindheit, ihre Eltern, Tanten und Onkel, den Pfarrhof, das Sommerhaus. Und dann entdeckt sie eines Tages auf der London Bridge einen jungen Mann, der eine Obdachlosenzeitung verkauft. Er hat ein großes verunstaltendes Feuermal im Gesicht. Sie kommen ins Gespräch, der junge Mann erzählt von seiner Kindheit in einem Fischerdorf in Cornwall. Ein merkantiles Genie ist er nicht, er weigert sich geradezu, ihr ein Exemplar der Zeitung zu verkaufen. Sie möge auf die nächste Nummer warten, da werde vielleicht vom Vulkanausbruch die Rede sein. Die Erzählerin ist halb abgestoßen, halb zieht es sie zu ihm hin.
Bald darauf könnte sie wieder fliegen, das Verbot ist aufgehoben, aber da geht es der Erzählerin nicht anders als Hans Castorp im Hotel Berghof: Irgend etwas, genauer: irgend jemand hindert sie an der Abreise. Sie spaziert jetzt täglich auf die London Bridge und spricht mit ihrem Zeitungsverkäufer. Auch sie erzählt jetzt von ihrer Kindheit, sie braucht ihn als Zuhörer, und allmählich schlingt sich ein zartes Band um die beiden. Wie heißt er überhaupt?
Jonathan! Das also war sein Name. Achtlos, bestimmt ohne es zu bemerken, hatte er mir seinen Namen zugeworfen, aber ich hielt ihn fest wie eine jener vom Meer auf die Promenade von Penzance geschleuderten Meeralgen, samt dem bizarr geschwollenen Wurzelstock, und die Algenblätter klebten nun an mir wie eine zerfledderte schwarze Fahne.
Unmerklich wird ihr Jonathan immer wichtiger. Das Band zieht sich immer enger. Sie ist viel älter als er, und er ist unberechenbar. Er spricht oft von aufgespießten Köpfen und gepfählten Verrätern; er hat einen Hang zum Morbiden.
Aus seinen grauen Augen traf mich, kurz, doch unmißverständlich, etwas Drohendes. Die scharf begrenzte Linie seines Feuermals wirkte so rot und geschwollen, als könnte die Entstellung jeden Augenblick, wie bei einem Dammbruch, überschwappen auf die unversehrte Gesichtshälfte.
Dammbruch, der droht auch bei ihr; weshalb sie zu dieser Metapher greift. Ist sie verliebt? Oder ist es katholische Caritas, daß sie sich dem entstellten Outsider widmet? Ist es eine moderne Version von La Belle et la Bête? Im Panischen des Titels steckt immerhin der große Pan, der Hirtengott und Wollüstling mit dem virilen Unterleib. Aber nein, es bleibt alles ganz keusch, die Erzählerin berührt ihren Jonathan nicht bis zum Schluß. Und dann ist er plötzlich verschwunden. Jetzt wird ihr bewußt, wie sehr sie ihn vermißt: «Ich ertappte mich, daß ich in meinem Inneren mit Jonathan schon wie mit einem Toten redete. Jetzt, da du alles weißt, und ich ergriff seine beiden Hände. Stürmisch!»
Leutenegger ist eben nicht nur zart und apart, sie kann auch stürmisch sein. Der Panische Frühling handelt auf versteckte Art nicht nur von Liebe und Eros, sondern vom Tod. Im Roman, anders als im Leben, behält er bei ihr nicht das letzte Wort. Im Schlußsatz beschließt die Erzählerin – aber bitte, das lese man selber nach. Es gibt Züge nach Cornwall, soviel sei angedeutet. Wir danken Island und seinen Vulkanen für die Mitwirkung an diesem schlanken schönen Roman.