Stefan, ein Lehrer aus dem Salzburger Land und Alter ego des Autors, zieht sich in Freijahren gern für den Sommer in ein altes abgelegenes Bauernhaus in der Toskana zurück, das ihm zur Wiederinstandsetzung von dem deutschen Eigentümer überlassen wird. Die Handlung spielt zu einer Zeit, als Toskana-Trips noch nicht modisch waren, wie der Autor dieses Romans, Walter Kappacher, überhaupt quer zu allen Moden steht. Stefan schätzt das einfache Leben und stört sich nicht daran, daß es weder Strom noch fließendes Wasser gibt. Bei der Ankunft überprüft er das Wichtigste:
Es wurde dunkel. Fledermäuse flatterten und kreisten jetzt über ihm, seit vielen Jahren boten die Ställe ihnen Unterschlupf. Er ging noch einmal in den Stall auf der Südseite des Hauses, dem einzigen verschließbaren, wo er die Gasflasche, den Campingkocher, die Sense und den Werkzeugkasten untergebracht hatte. Als er den fest zugeschraubten Verschluß der Gasflasche mit dem Schraubenschlüssel ein wenig aufdrehte, zischte es: Der Tee am nächsten Morgen war gesichert.
Walter Kappachers scheuer, introvertierter Held werkelt herum, er mäht und rodet Gestrüpp, er liest italienische Klassiker, er hat Kontakt mit den Dorfbewohnern, sitzt aber am liebsten vorm Haus auf einem Stuhl und läßt die Natur auf sich einwirken. Schwalben fliegen, Grillen zirpen, später kommen die hell summenden Stechmücken; die Olivenbäume verlieren in der Dämmerung ihre Farbe, ein Käuzchen schreit, eine Wildkatze läßt sich nicht von kleinen Schinkenstückchen anlocken, im Dachbalken versteckt sich eine Fledermaus. Abends enthüllen sich die Sternbilder: «Zuerst war Arktur zu sehen, eine Viertelstunde später die Wega, dann, über dem Hügel im Norden der am stärksten leuchtende Stern des großen Bären.»
Und das sind schon, mit zwei Ausnahmen, die Höhepunkte der Handlung. Unerhört, aber wahr: Auf 250 Seiten passiert in diesem Roman so gut wie nichts. Nichts. Und man wundert sich, warum man sich dennoch nicht langweilt. Wie schafft es der von Handke wie von Wollschläger gerühmte Autor, eine so strahlende Stille zu erzeugen? Es muß eine Art Übertragungsprozeß sein. Es überträgt sich bei der Lektüre etwas von dem kontemplativen Gefühl, mit dem Stefan das bloße Verstreichen der Zeit genießt. Jeder seiner Tage verläuft ähnlich, wie jeden Morgen die Sonne aufgeht, aber in ihrem Licht glitzern jeden Tag neue Details. Man könnte Selina eine Schule der Wahrnehmung nennen, wenn Schule nicht zu pädagogisch klänge.
Im Geäst des Pflaumenbaums lärmte eine Zikade. An der Hausmauer dröhnte eine Hummel auf und ab, inspizierte die Mauerlöcher und Ritzen. Wenn die eine Zikade im Pflaumenbaum schwieg, zirpte in den Büschen auf den Terrassen, die sich rechts vom Haus den Hang hinaufzogen, wie als eine Antwort ein ganzer Schwarm. Am Gegenhang vorne, auf den Feldern von Gello, blubberte kaum hörbar ein Traktor. Wohltuend die Pausen, wenn alles schwieg. Er erhob sich vom Stuhl, suchte die Zikade im Baum. Sie stand gut getarnt auf der Rinde des Stamms. Dunkelgrauer Leib, die großen angelegten Flügel durchsichtig; obwohl sie vor seiner Nase gelärmt hatte, hatte er sie lange nicht entdeckt.
Kappachers Stil ist uneitel und zurückgenommen, bei allem Gleichförmigen ohne Bernhardschen Wiederholungsfuror, sparsam in der Metaphorik, bedächtig genau bis zur Umständlichkeit, darin spät-stiftersch, nie auf den Effekt bedacht. Kappacher sucht nicht die Pointe, er will die Gegenstände aus sich selbst heraus zum Leuchten bringen. Er ist das Gegenteil dessen, was man im Schauspieler-Jargon einen Fliegenfänger nennt: die Nebenfigur, die während des dramatischen Monologs des Helden am Rand der Bühne nach einer imaginären Fliege hascht, um die Blicke des Publikums auf sich zu ziehen.
Der Titel Selina greift das letzte, Fragment gebliebene Buch von Jean Paul auf, eine an Das Kampaner Tal anknüpfende Reflexion über die Unsterblichkeit. Stefan liest darin, als sich seine Toskana-Zeit dem Ende nähert. Auch er denkt über die Unsterblichkeit nach, das ist der Unterstrom all seiner einsamen Träumereien. Auch die Gottesfrage stellt er sich. Aber wie sollte ein Mensch, bescheiden wie Stefan, sich anmaßen, etwas über allen Begriffen Stehendes zu beurteilen?
Unsterblichkeit, Gott, die großen Themen fehlen nicht in Selina; und auch die Liebe fehlt nicht. Immer wieder grübelt Stefan über seine Freundin nach, von der er sich getrennt hat und die ihm in der Klausnerei doch manchmal fehlt. Und dann geschieht die unerhörte Begebenheit, wie sie in einer Novelle gefordert würde. Stefan ist auf dem Trödelmarkt in Arezzo und trifft die italienische Bekannte Loretta, die sich ihm anschließt – der Leser, wenn auch nicht Stefan, merkt: die sich ihm, unglücklich mit ihrem Ehemann, geradezu aufdrängt. Sie essen Lasagne bei einer Tante und fahren in Stefans Gehöft. Und nun die bemerkenswerte Szene, in der Stühle näher gerückt werden. Die beiden sitzen sich vor Stefans Haus gegenüber.
Da passiert jetzt etwas, das sehr schön ist, dachte er, während er sich leicht vom Stuhl erhob und ihn wieder ein Stück näher zu ihr rückte, was mit dem Weinglas in der Hand schwierig war. Etwas geschah, das nicht mehr aufzuhalten war. Loretta tat es ihm gleich, aber sie reichte ihm vorher ihr Glas. Bald würde er die Beine spreizen müssen, um ihr noch näher zu kommen, um Platz zu schaffen für Loretta und ihren Stuhl. Wenn uns jemand sehen würde, dachte er. Es dämmerte. Zum Essen hatten sie in Bibbiena eine halbe Flasche Roten bestellt, dann aber die ganze Flasche getrunken, und nun war auch diese Flasche leer; aber unmöglich durfte er sie jetzt fünf Minuten allein lassen, und beide hatten sie ja noch zwei Fingerbreit Wein im Glas. Dann war es soweit, Stuhl stand an Stuhl, sie hatte ihre Schenkel gespreizt und sie ihm auf seine gelegt, und jetzt küßten sie sich, und kein Gekicher und kein Lachen wäre jetzt mehr zu hören gewesen, falls oben auf der Straße jemand vorbeigegangen wäre. Er streichelte ihre Wange: «Du gefällst mir … sei molto … eccitante», er nahm ihre Hand und legte sie an sein Herz: «Senti …» – «Caro …» flüsterte sie und stellte ihre Füße auf die Erde, «du hast mir noch gar nicht dein Haus gezeigt, hast du auch ein Bett?» – «Gern zeig ich dir mein Bett», sagte er, «mein schmales Bett», und sah im Aufstehen die beiden Autos in der Zufahrt stehen und auf der Windschutzscheibe seines Simca sich irgendetwas widerspiegeln.
Als sie ins Haus treten, schließt Stefan die Türen und verriegelt sie. Kappacher ist viel zu diskret, um das Folgende noch weiter auszumalen.
Es gibt eine zweite unerhörte Begebenheit, auf die Kappacher von Anfang an unauffällig zusteuert oder die er anschwirrt wie eine Fledermaus. Wer hat seinem Stefan das Bauernhaus überhaupt verschafft? Heinrich, ein schon lange in der Toskana lebender älterer deutscher Herr mit einer gewissen Grandezza, einer Herzschwäche und einer Nichte namens Selina (ihre Mutter schwärmte für Jean Paul). Als Selina anreist, um ihren kranken Onkel zur Rückkehr nach Deutschland zu bewegen, verliebt sich Stefan in sie. Dann stirbt Heinrich, Selina fährt nach der Beerdigung zurück, ohne eine Adresse zu hinterlassen, und Stefan beginnt, Selina zu lesen.
Frau und Buch verschmelzen, sie sind nur durch eine Kursivierung getrennt. Erst das wahre Leben und der wirkliche Tod – Selina; dann die Lektüre über die Unsterblichkeit – Selina. Walter Kappacher war in seinem früheren Leben Motorradmechaniker, er versteht auch etwas von Technik und Montage und ist kein wirrer Träumer. Auch sein Buch, so somnambul es wirkt, ist klug montiert. Am Schluß macht es «klack», wenn er das letzte Kapitel mit dem ersten zusammensteckt. In beiden spricht die Hauptfigur jemanden direkt als «Du» an, jenen Heinrich, der zum Ende des Buchs unter der Erde liegt. Der ganze Roman, bemerkt man erst jetzt, ist eine Totenrede.
Er endet mit einem Satz, wie ihn nur Kappacher schreiben konnte, der nie aufs Pedal drückt, außer bei seinem Simca. «Beim Hineingehen streifte eine Spinnwebe seine Stirn und erinnerte ihn an irgend etwas Vergangenes.»
Sehen Sie, liebe Leserinnen und geschätzte Leser: Das sind Schlußsätze.