Wolfgang Herrndorf. Tschick

Sommerferien, zwei Außenseiter, der vierzehnjährige Ich-Erzähler Maik aus Marzahn und der rußlandstämmige Tschick, machen zusammen in einem von Tschick geklauten Lada einen Trip mit dem vagen Ziel der Walachei, von der niemand genau weiß, ob es sie überhaupt gibt. Sie fahren durch den kargen Osten, und irgendwann landen sie in einem Kornfeld.

Stilistisch fällt Wolfgang Herrndorfs 2010 veröffentlichter Roman Tschick ins Fach der Rollenprosa. Wenn der Autor in seinem später als Buch veröffentlichten Blog Arbeit und Struktur Tagebuch führt, dann schreibt er als Wolfgang Herrndorf. Das heißt nicht, daß er nicht seine Gedanken in literarische Formen gießt, aber er spricht für sich als Person. Wenn er Tschick schreibt, kommt die

Ich schlug vor, Tschick sollte versuchen, unsere Namen in den Weizen zu schreiben, sodass man sie von einem Hubschrauber aus lesen konnte oder später bei Google Earth. Schon beim Querbalken vom T verloren wir die Übersicht. Wir fuhren einfach nur herum, krochen immer weiter einen Hügel hinauf, und als wir ganz oben waren, war das Feld plötzlich zu Ende. Tschick bremste in letzter Sekunde. Mit der hinteren Hälfte standen wir noch im Korn, mit der Schnauze guckte der Lada in die Landschaft hinaus. Sattgrün und steil abfallend erstreckte sich eine Kuhweide vor uns und gab den Blick frei auf endlose Felder, Baumgruppen und kleine Straßen, Hügel und Hügelketten und Berge und Wiesen und Wald. Man sah Wetterleuchten über einem fernen Kirchturm, aber es war totenstill. Der vierte Regentropfen klatschte auf die Scheibe. Tschick stellte den Motor ab. Ich drehte Clayderman aus.

Minutenlang schauten wir einfach nur. Kleinere, hellere Wolken flogen unter den schwarzen hindurch. Blaugraue Schleier liefen über die entfernten Hügelketten, über die näheren Hügelketten. Die Wolken hoben sich und kamen wie eine Walze auf uns zu.

«Independence Day», sagte Tschick.

Als Tschick und Maik das Benzin ausgeht, suchen sie auf einer Müllkippe nach einem Plastikschlauch. Dort streunt ein Mädchen herum, das ihnen hilft und sie schließlich auf der gemeinsamen Suche nach Brombeeren verfolgt. Die beiden halten das für keine gute Idee, zumal das Mädchen schon lange kein Bad mehr genommen hat; für eine ähnlich schlechte Idee wie eine freiwillige Fußamputation. Dann jedoch fängt Ida an zu singen.

Ich dachte auch, dass das Mädchen irgendwann von allein zurückgehen würde, aber sie lief wirklich drei oder vier Kilometer weit mit bis zu dieser Brombeerhecke. Mittlerweile hatte ich auch schon wieder Hunger und Tschick auch, und wir stürzten uns zu dritt in die Brombeeren.

«Wir müssen die irgendwie loswerden», flüsterte Tschick, und ich sah ihn an, als hätte er gesagt, wir sollten uns nicht die Füße absägen.

Und dann fing das Mädchen an zu singen. Ganz leise erst, auf Englisch, und immer unterbrochen von kleinen Pausen, wenn sie Brombeeren kaute.

«Jetzt singt sie auch noch kacke», sagte Tschick, und ich sagte nichts, denn im Ernst sang sie nicht kacke. Sie sang «Survivor» von Beyoncé. Ihre Aussprache war absurd. Sie konnte überhaupt kein Englisch, hatte ich den Eindruck, sie machte nur die Worte nach. Aber sie sang wahnsinnig schön. Ich

Es ist ganz zurückgenommen und zart, wie Herrndorf sich die Jugendsprache anverwandelt – seit Salingers Catcher in the Rye ist es nicht mehr so geglückt wie in Tschick; ein Vergleich, dessen der Autor bald überdrüssig wurde. Motivisch bleibt seine Welt ganz nah bei der Romantik, nicht nur mit der Zaubermacht der Musik und des Gesangs, auch mit der romantischen Vorliebe für den Zusammenklang der Sinne: Maik fühlt die dornige Ranke, er schmeckt die Brombeeren, er sieht das Rot der Abenddämmerung, er hört das Mädchen singen und den Verkehr rauschen, und die Sinne verschmelzen zu einem seltsamen, Freud hätte gesagt: ozeanischen Gefühl.

Ida, das letztlich doch schön singende, brombeeressende Mädchen, wird in Herrndorfs letztem, unvollendeten Roman Bilder deiner großen Liebe zur Hauptfigur. Es ist eine große, leicht halluzinierende Prosa, weniger an Eichendorff erinnernd als an Büchners Lenz.

Über mir steht eine schwarze Wolke. Dann wird der ganze Himmel schwarz, es fängt schlagartig an zu schütten. Mit dem Rücken an den Stamm einer Eiche gelehnt hocke ich da. Wasser und Schlamm spritzen hoch bis an meine Knie.

Der Wind wird heftiger, er treibt mich um den Stamm herum. Die Wiese schäumt und wirft Blasen. Im Licht der Blitze

Im Kobaltblau und dem branstigen Orange verrät sich eher der Maler, der Herrndorf war, als die verwirrte jugendliche Isa, auch die starken Metaphern traut man ihr kaum zu, was nichts an deren Stärke ändert. Der Autor, wenige Wochen vor seinem Suizid, mit den sich emsig weiterspinnenden Tumorfäden im Hirn, die den Geist zunehmend abschnürten, konnte nicht mehr Rücksicht auf formale Erzählregeln legen und spricht, anders als noch in Tschick, über den Horizont der Figuren hinaus.

Isas Abschied, Herrndorfs Abschied, der Abschied von allem, findet auf einem Boot statt.

Langsam entfernen die Stimmen sich, werden leiser, zuletzt kaum hörbares Lachen, dann Stille, und dann nur noch das am Bug kaum wahrnehmbare Surren des Motors, so gleiten wir in die Nacht, untermalt vom Plätschern der Wellen unten, Castor und Pollux über uns.

So gleiten wir in die Nacht. Wolfgang Herrndorf ist einer der Großen, nicht nur mit Tschick. Sein Anti-Thriller Sand ist ein düster-komisches Monument ohne Vorbild; Bilder deiner großen Liebe bleibt ein schwarzschimmerndes Fragment, für das man bedenkenlos jedes frühromantische gäbe.