Ein anderer Romantiker ist Botho Strauß. Als 1993 im Spiegel sein Anschwellender Bocksgesang erschien, wurde ihm eine stilkritische Polemik des Verfassers zuteil. Inzwischen sind fast drei Jahrzehnte vergangen. Und was Botho Strauß in seiner Prosasammlung Der Fortführer vorlegt, ringt dem früheren Kritiker mehr als Respekt ab, nämlich Bewunderung.
Was als erstes auffällt: Botho Strauß zeigt im Spätwerk überraschend komische Züge.
Vieles zu sagen schwer mir fällt. Nicht gut. Ich meine: Vieles fällt mir schwer zu sagen. Nicht gut. Ich will sagen: Es fällt mir vieles zu sagen schwer. Nicht gut. Ich will sagen: Vieles, was ich sagen will, fällt mir schwer. Ich krieg’s nicht hin.
Er kriegt’s nicht hin, und das Verrückte ist: Er steckt den Leser damit an. Wie würde man es denn richtig sagen? Wir bekämen es auch nicht hin. Es fiele uns zu schwer. Ratlosigkeit. Auch über die hat Strauß einen trutzigen Eintrag: «Gäbe es für mich ein Problem, würde ich sofort die Weltgemeinschaft um Rat fragen. Aber ich habe keine Probleme.»
Erleichterung bei der Weltgemeinschaft! Und was die Probleme betrifft, von denen hat Strauß zumindest eines nicht mehr, das Problem der Prätention. Wenn er das Bildungsschwere pflegt, dann nicht ohne Selbstironie. Sehr schön seine die Zeitachse spiegelnde stolze Bemerkung: «Meine Minuzien werden auch im 17. Jahrhundert noch zu verstehen sein.» Will sagen: Natürlich glaubt er momentweise, er wär der Kääs, wie es im Schwäbischen heißt. Aber vielleicht ist er es?
In seinem Alterswerk zeigt Strauß sich als wahrer Stilist, dem es immer um die Sache geht. Kann er die immer einfach ausdrücken? Strauß steht in der Schule Meister Eckharts und der deutschen Mystik. Die Sprache rückt hier möglichst nah ans Unsagbare heran. Es sind Sätze darunter, die aus einer Rilkeschen Elegie sein könnten. «Vorbei, daß es war, wie es war. Der Lilienton unendlich reiner Zeit: nie.» Schwierige Gedanken suchen ihre Sprachprägung, die nicht immer simpel ausfallen kann; nicht aus Prätention, sondern weil Sprache und Gedanke unter niedrigeren Temperaturen nicht amalgamieren. Das liest sich dann nicht immer leicht, aber es lohnt sich; die Gedanken sind es wert.
Der Stilist hat Einfälle – Botho Strauß hat viele davon. Es ist ein Aphoristiker an ihm verlorengegangen. «Ich habe nie mitten im Leben gestanden. Wo mag das sein?» Die Frage, die das «mitten im» als Ortsbezeichnung wörtlich nimmt, hat den Tiefsinn von Kinderfragen. Dichtermund tut Wahrheit kund. Aber auch dem Dichter fällt es schwer, zu sagen, was er leide. «Den Kummer etwas sagen zu lassen ist beinahe wie ein Pferd zum Sprechen zu bringen.» – Ein anderer Satz – man streicht so viele bei ihm an – könnte aus Canettis Masse und Macht sein: «Der Krieger, gewohnt, tiefe Verletzungen auszuhalten, glaubt am Ende, daß auch der Tod nur eine weitere Verletzung sei, eine Wunde, die dann anderswo heilt.»
Dieses Anderswo, kann man sich darüber humoristisch äußern? Nein, eigentlich nicht. Aber Strauß gelingt dieses Schwierigste überraschenderweise doch, weil das Thema die eigene Profession ist: «Das Jenseits der Schriftsteller: Sie stehen am Weg der sich hinschleppenden Seelen, jeder hält sein aufgeschlagenes Hauptwerk vor die Brust wie die Zeugen Jehovas ihren ‹Wachtturm›.»
Botho Strauß hat nicht nur Humor, er bemerkt die Kleinigkeiten. Die hundert Gedanken, die hinter dem Zusammenstellen eines Blumenstraußes stehen; der Moment, wenn er dann überreicht wird. «Geschenke begegnen zuweilen einer urtümlichen Enttäuschung. Diese wird binnen Sekunden zivilisiert. Manchmal dauert es etwas zu lange, man hört es im archaischen Grund förmlich knirschen beim Umdrehen der Gefühle.» Jeder kennt es. Jeder kennt es, daß man beim inneren Raisonieren plötzlich stehenbleibt. «Das plötzliche Stehenbleiben als Austragungsort erbitterter Flügelkämpfe eines Mannes, der mit sich geteilter Meinung ist.»
Strauß hat, wenn er die Präzeptorenkappe abstreift, das genaueste Ohr, den genauesten Blick, er hat Haare auf den Zähnen in dem Sinne, in dem Doderer den Ausdruck verwendet, als Bild für übergewöhnliche Fühlfähigkeit und Sensitivität.
«Menschen, die zu allem ein gesundes Urteil haben, ahnen gar nicht, wie ein Urteil beschaffen sein muß, um Bestand zu haben: daß es nämlich zuerst unter Zähneklappern, zitternd und fiebernd durch den Eiswald der Sachverhalte irren muß, um sich zu finden.»
Der schön gefundene Eiswald überklirrt die kleine logische Frage, wie ein und dasselbe Subjekt auf der Suche nach sich selbst herumirren kann; aber wir setzen es aufs Konto der Poesie. Und Strauß ist in Landschafts- und Naturbildern ein wahrer Poet. Wieviel origineller als bei Novalis seine Auffächerung der Farbe Blau:
Der blaue Brief, den der Nichtversetzte ungeöffnet gegen das Licht hält.
Glitzer eines Libellenflügels über dem Wasser, blauer Puls an eines alten Mannes dünner Schläfe.
Ulanenblau: der Himmel in Uniform.
Anders als bei der blauen Blume ist hier etwas gesehen. Kein Romantiker hätte die Gluthitze in das folgende Bild fassen können; zwei Sätze voller religiöser Assonanzen; zwei Sätze, in denen jedes Wort stimmt:
Das Land glüht wie ein Kelch, dem die Austeilung versagt wurde. Das Walnußlaub verrennt sich in ein Quittengelb, die Blätter des Pfaffenhütchens verrosten wie vom Zehrwurm befallen.
Man beachte die «Austeilung» des Kelchs und das Verb «verrennen». Es sind feinste Miniaturen, die Strauß im Fortführer versammelt, sie alle liegen in tiefem Abendrot. Jetzt, im Alter, stellt sich der Durst des Erinnerungskranken ein, «lechzend an der Tülle des Krugs, von der immer spärlicher die alten Stunden tropfen in seinen Mund».
Bei den Erinnerungen überwiegen indes die bitteren. Auch in der Liebe mehr Schmerz als Glück. Über Paare, die sich trennen, weiß er: «Daß dieser oder jene, wenn es zur Trennung kommt, wertvolle Erinnerungen mit sich nimmt, hat schon manchen gefuchst.» Und härter: «Das geköpfte Einst. Die Jakobinerin rechnet ab mit der süßen Zeit. Schafott Bett. Es war nie, was es hätte sein müssen.»
Der Grundklang des Fortführers ist von tiefer, serener Melancholie. Mag sein, Strauß hat sich selbst im Auge, wenn er von einer Art des Existierens schreibt, die einem bedeutungsvollen Sich-Räuspern gleiche «vor der großen Rede, die dann doch nie gehalten wird». Bis auf Barenboim, Angela Merkel und Günter Grass hat wohl jeder schon ein ähnliches Gefühl gehabt.
Der elegische Strauß: «Man reicht nicht hin. Man langt und langt, man dehnt und streckt sich aus sein Lebtag – und reicht nicht bis hin.» Und im Alter geht selbst das Strecken nicht mehr. «Hörst du es? Ein Tor nach dem andern fällt ins Schloß. Wie grausam! Bald ist alles Innen zu. Das Innen weltweit zugesperrt.» Es ist eine ganz neue Deutung des Wortes «weltweit», die Strauß hier unaufällig einschmuggelt. Ja, das Alter mit seinen Schrecken!
Es ist die Plage der Dürre und der Trockenheit, die der Tod vorausschickt über den alten Menschen. So wie das Herz auskörnt in Floskeln, so starr sind auch die Redewendungen, so abgezählt die Seelenregungen. Die alte Mutter könnte, wenn sie jetzt vom Unglück ihres Sohns erführe, keine Träne mehr vergießen.
Man beachte wieder das schöne Verb: «auskörnen». Halb komisch, halb elegisch seine Bemerkung: «Ein leiser Vorwurf kann dem Sein nicht erspart werden.» Ein Satz mit einer für Strauß typischen Stil-Temperatur.
Dennoch, er schreibt und lebt: «Ich bin – das heißt, ich überlebe in einer Luftblase wie der Bergmann in der gefluteten Grube.»
Der Bergmann, nach ältester Tradition schürfend, ziemlich allein dabei in seiner Grube – es ist immer wieder große Prosa, mit der uns der späte Strauß beschenkt.