Verbotne Früchte. Der Gedankenstrich

Wir wollten mit der Klassik beginnen. Friedrich Hölderlin als Erotiker? Nach allem, was wir von Hyperion gehört haben? «Es ist hier eine Lücke in meinem Dasein», hatte er erklärt, bevor er am Herzen des himmlischen Mädchens erstarb. So blaß das Sinnenglück geschildert wird, das Hyperion mit seiner Geliebten Diotima erfährt, so subkutan heißblütig wird es, wenn er an seine Freundschaft mit Alabanda denkt. Den entscheidenden Hinweis gibt

Die verbotene Frucht wird bald darauf kaum verstohlen gepflückt. Hölderlin behandelt das Homoerotische für seine Zeit erstaunlich offen. Alabanda, nach Isaak von Sinclair gezeichnet, ist ein wilder, energischer Freiheitskämpfer, mit dem Hyperion eine Weile in «herrlicher Strenge und Kühnheit» zusammenlebt. Hölderlin camoufliert viel weniger, als daß er offenlegt. Hyperions Siebter Brief ist ein dramatischer Liebes- und Eheroman. «Mußten so in freudig stürmischer Eile nicht die beiden Jünglinge sich umfassen?» Hyperion fragt rhetorisch. Er nennt das, was die beiden miteinander erleben, «Bräutigamstage». Er hält an der Ehe-Metapher fest, auch als die emotionalen Stürme aufziehen. Hyperion verzehrt sich vor Eifersucht, als er Besuch von Alabandas ihm bislang unbekannten grobschlächtigen Freunden bekommt: «Mir war, wie einer Braut, wenn sie erfährt, daß ihr Geliebter insgeheim mit einer Dirne lebe.» Der Schmerz darüber ist wie eine Schlange, die ihm ihre giftigen Zähne in Brust und Nacken schlägt. Es folgen bewegte Szenen, in denen die Geliebten sich in die Arme fallen und küssen wollen, es aber aus Stolz nicht tun. Zehn Jahre vor Kleists Penthesilea bricht es aus Hyperion heraus: «Wir zerstörten mit Gewalt den Garten unsrer Liebe.» Daß diese Liebe nicht nur platonischer Natur ist, macht Hölderlin sehr viel deutlicher als nach ihm August Graf von Platen, H.C. Andersen oder Stefan George. Nach dem vorübergehenden Zerwürfnis erinnert sich Hyperion an Alabanda: «Und doch war ich unaussprechlich glücklich gewesen mit ihm, war so oft untergegangen in seinen Umarmungen, um aus ihnen zu erwachen mit Unüberwindlichkeit in der Brust.»

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Hölderlins Zeitgenosse Heinrich von Kleist hat den sexuellen Akt ebenfalls durch eine Lücke bezeichnet, diese Lücke aber mit einem Satzzeichen markiert. Es findet sich in seiner Novelle Die Marquise von O … Kleist erzählt darin von der verwitweten Marquise, die in Italien zurückgezogen in der Zitadelle ihres Vaters lebt. Diese Zitadelle wird im Krieg von russischen Soldaten gestürmt. Kurz bevor der Marquise Gewalt und Schändung drohen, stellt sich ein russischer Graf schützend vor sie. Die Marquise fällt in Ohnmacht und findet sich danach in anderen Umständen wieder, ohne zu wissen, wie sie in diese geraten ist. Sie sucht den Kindsvater per Zeitungsannonce. Daß der russische Graf ihre Ohnmacht ausgenutzt hat, wird er später reumütig zugeben, dem Leser aber wird es durch ein einziges Satzzeichen signalisiert, dem berühmtesten Gedankenstrich der deutschen Literatur.

Die Marquise liegt in Ohnmacht, der Graf ist alleine mit ihr. «Hier – traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen, Anstalten, einen Arzt zu rufen; versicherte, indem er sich den Hut aufsetzte, daß sie sich bald erholen würde; und kehrte in den Kampf zurück.»

Indem er sich den Hut aufsetzte, den er in actu offenbar wenigstens taktvollerweise abgesetzt hatte. Der Gedankenstrich ist wie ein ostentatives Räuspern: Hier – geschah etwas, was wir nicht erzählen wollen, können oder brauchen …

Hundert Jahre später greift ein Autor die Idee Kleists auf und

In Robert Musils Tonka aus den Drei Frauen wird das, was Brecht «das große Heute» tauft, vom nicht sehr empfindsamen Erzähler wie ein Bürotermin zuvor festgelegt. Seine jungfräuliche Freundin zaudert und zögert, als er pünktlich erscheint. Das Bett ist schon aufgeschlagen, aber sie setzt sich noch einmal hin, schließlich löst sie mit weggewandtem Gesicht ihre Kleider, steht noch einen Moment «im Ungeschick ihrer ersten Nacktheit» und schiebt sich mit einer ungewohnten Bewegung ins Bett; «die Haut schloß sich rührend wie ein zu enges Kleid um ihren Körper».

Er hielt noch einmal ein, und Tonka lag im Bett mit geschlossenen Augen und zur Mauer gewandtem Kopf, endlos lang, in fürchterlich einsamer Angst. Als sie ihn endlich neben sich fühlte, waren ihre Augen warm von Tränen. Es kam dann eine neue Welle der Angst, Entsetzen über ihre Undankbarkeit, ein sinnloses, Hilfe suchendes Wort, durch einen endlosen, einsamen Gang hervorstürzend, verwandelte sich in seinen Namen, und dann – war sie sein geworden.

Während des Gedankenstrichs vollzieht sich der Akt, den Musil noch ganz altmodisch als Besitznahme umschreibt. So einfühlsam er sich in die weibliche Hauptfigur versetzt – wie er sich überhaupt großartig in Frauen einfühlt –, so sehr bringt er den Stilkritiker ins Grübeln. Ist dieser einsame Gang, durch den ein Wort stürzt, um sich in einen Namen zu verwandeln, wirklich anschaulich? Vielleicht ist es ja genial? Ganz genau weiß man es bei Musil selten; anders als Joseph Roth hat er oft etwas leicht Angestrengtes.