Die gelöschte Kerze

Thomas Manns lebenslanges Vorbild Goethe war in den Wahlverwandtschaften ebenso diskret. Bei ihm dringt der Leser aber immerhin bis ins Schlafgemach vor. Die Pointe der sich dort vollziehenden Liebesnacht bildet das Herzstück des Romans. Eigentlich sind es nämlich zwei Liebesnächte, die Goethe uns erzählt: die reale, die Charlotte mit ihrem Ehemann Eduard verbringt, und die imaginierte, in der sie beide in ihrer Phantasie fremdgehen und Eduard mit der begehrten jungen Ottilie schläft und Charlotte mit dem begehrten Hauptmann. Das in dieser Nacht gezeugte Kind sieht dann sprechender- und mysteriöserweise den beiden ähnlich, die die Nacht gerade nicht miteinander verbracht haben.

Über die Anbahnung dieses chiastischen Vierers teilt uns der Roman folgendes mit: Es klopft an ihrer Tür. Charlotte hofft, es sei der Hauptmann, allein es ist ihr Gemahl Eduard. Der erklärt den offenbar selten gewordenen nächtlichen Besuch damit, daß er ein Gelübde getan habe, an diesem Abend noch Charlottes Schuh zu küssen.

Es folgt eine verklausulierte Umschreibung davon, daß Charlotte ihrem Mann seit jeher eher spröde begegnet war und auch an diesem Abend keine Lust auf ihn hat. «Wie sehnlich wünschte sie den Gatten weg; denn die Luftgestalt des Freundes schien ihr Vorwürfe zu machen.» Es hilft nur nichts: «Aber das, was Eduarden hätte entfernen sollen, zog ihn nur mehr an.»

Und er gibt sich alle Mühe. «Eduard war so liebenswürdig, so freundlich, so dringend; er bat sie, bei ihr bleiben zu dürfen, er forderte nicht, bald ernst bald scherzhaft suchte er sie zu bereden, er dachte nicht daran, daß er Rechte habe, und löschte zuletzt mutwillig die Kerze aus.»

Die Kerze, die in der Hochliteratur zu diesem Anlaß gerne gelöscht wird. Und nun die Pointe:

In der Lampendämmerung sogleich behauptete die innere Neigung, behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche: Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen, Charlotten schwebte der Hauptmann näher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und wonnevoll durcheinander.

Der letzte Satz ist unbestreitbar wieder Goethe-Prosa auf ihrer Höhe, nicht zuletzt wegen der wonnereichen Wiederholung der insgesamt sieben Ws.

Weit gefehlt, wer glaubt, der Olympier sei immer so züchtig

Das folgende Epigramm müßte selbst einer Catherine M. gefallen; es handelt von Auto-Cunnilingus. Das darauf folgende mit seiner komischen Kaffee-Pointe zeigt Goethe als Kenner des französischen Verbs branler. Beim dritten kann man sich schlecht etwas anderes vorstellen als das, was noch bei Musil Sodomie genannt wird.

Was ich am meisten besorge: Bettina wird immer geschickter,

Immer beweglicher wird jegliches Gliedchen an ihr;

Endlich bringt sie das Züngelchen noch ins zierliche F…,

Spielt mit dem artigen Selbst, achtet die Männer nicht viel.

 

«Kaffee wollen wir trinken, mein Fremder!» – Da meint sie branlieren;

Hab ich doch, Freunde, mit Recht immer den Kaffee gehaßt.

 

Knaben liebt ich wohl auch, doch lieber sind mir die Mädchen;

Hab ich als Mädchen sie satt, dient sie als Knabe mir noch.

Ein klassischer Chiasmus, dieses letzte Epigramm, so wie in: «Welch ein Glück, geliebt zu werden / Und lieben, Götter, welch ein Glück.» Die formale Strenge dieser rhythmisch akkuraten Kühn- oder Unverschämtheiten macht deren stilistischen Reiz.