Noch stehen wir aber gewissermaßen im Vorhof und immer noch im Modus der Aussparung. Eine Sondertechnik dieser Aussparung besteht darin, daß dem Leser ausdrücklich mitgeteilt wird, warum die folgende Szene nun eben nicht erzählt werde. Warum nicht? Weil man ohnehin wisse, was jetzt folge, ist die Begründung, die Kleist in der Erzählung Die Verlobung in St. Domingo gibt. Nach dem Blick des älteren Offiziers auf das vor ihm kniende Mädchen und ihre jungen Brüste heißt es: «Was weiter erfolgte, brauchen wir nicht zu melden, weil es jeder, der an diese Stelle kommt, von selbst liest.» Der Leser kann sich selber denken, was sich im Bett zwischen Mädchen und Offizier abspielen wird.
Etwas ausführlicher wird Heimito von Doderer in seinem letzten und, Gott sei’s geklagt, Fragment gebliebenen Roman Der Grenzwald. Dort schleppt eine junge Frau in Wien den mürrischen Karrieristen und späteren Mörder Heinrich Zienhammer ab. Es ist die wichtigste Begegnung des Buchs, denn die Frau wird bei diesem Hotelintermezzo wie gewünscht schwanger, was keine der später aufeinanderstoßenden Figuren, weder ihr daraus entsprossener Sohn noch dessen wahrer Vater, je erfahren wird; das ist eine der vielen Finessen des Romans. Warum er bei Zienhammers Entjungferung (man nenne das ja auch bei Männern so, heißt es einmal bei Thomas Mann) im Vagen bleibe, erklärt uns Doderer so:
Das folgende wird nicht des Anstandes wegen undeutlich gegeben, sondern weil es für beide Teile undeutlich war und auch zu rasch geschah als daß irgendeine Ausführlichkeit sich hätte in diesen Ablauf verbreiternd einschieben können. Einzelheiten waren aufgehoben, Details sistiert (solche erschienen dem Heinrich erst viel später).
Prüderie also ist nicht schuld an der Knappheit der Darstellung, was beim Autor der Merowinger aber auch nicht überrascht. So ganz sprachohnmächtig ist es nicht, was Doderer dann immerhin doch noch gibt:
Er blickte in ihre weit aufgerissenen Augen und ihr sandig-blondes Gesicht und war nichts als Gehorsam. Sie hatte den Befehl: mit kurzen, alles andere ausschließenden Gebärden. Schon lag er gänzlich entkleidet auf dem Bett. Das Geräusch, welches sie erzeugte, indem sie alles von sich warf, war erheblich und ungehemmt, ihr auf einen Stuhl geworfenes Mieder tat geradezu einen Schlag. Dann kam eine weiße Hitze und ein unbeschreiblicher Dunst über ihn, sie ging mit ihm um wie mit einem gänzlich Unwissenden, der er ja auch war, und schon auch stand sie wieder ganz angekleidet da, die weiße Tür klappte und sie war verschwunden.
Die weiße Hitze erinnert an den «heißen Gletscher», durch den im Vorgängerroman, den Wasserfällen von Slunji, der junge Zdenko überwältigt wird. Daß ihr sandig-blondes Gesicht möglicherweise nur beflaumt sei, fällt dem indifferenten Heinrich Zienhammer erst später ein.
Seinen Keks behalten und ihn dennoch genüßlich knabbern, das gelingt vorzüglich auch dem Erzählermönch Clemens in Thomas Manns Roman Der Erwählte. Es gilt, die Hochzeitsnacht zwischen Grigorß und seiner Mutter zu beschreiben, oder diese Beschreibung aus drei gründlich erläuterten Gründen zu verweigern. Clemens weiß wohl, daß es dem Leser nicht schmecken wird, wenn er sich jetzt wortkarg gibt. «Mancher wird mir zürnen, daß ich diesen Auftritt ins Dunkel verweise und ihn nicht zur Gegenwart zulasse, denn viel mißliche Holdheit und ängstliche Herzensunterhaltung wäre ihm zweifellos abzugewinnen.»
Allein, es stehen drei Gründe dagegen. Zum ersten ist die Schilderung von Liebesauftritten Clemens’ Stande und Kleide nicht schicklich. Bitte, er ist ein Mönch! Zum zweiten sieht er Grigorß Augen lieber in, wie es heißt, außergewöhnlicher Sammlung die Bewegungen eines Gegners überwachen, als daß er sie schmachtend sich brechend sehe in «süß entmannender Minne». Er sieht ihn also lieber kämpfen als mit Frauen im Bett. Ein erotisches Argument, Clemens, leugnet es nicht! Und zum dritten ruhe alles, was da geseufzt und zärtlich verübt wurde, auf einer so greulichen, vom Teufel selbst veranstalteten Mißkennung dessen, was den einen zum andern zog, daß er, Clemens, nicht dabeisein wolle und nur durch einen Schleier von Tränen der Scham und Angst – nun der Keks schon so gülden leuchtend daliegt, kann auch das Mönchlein nicht widerstehen – daß er, der brave Chronist, nur durch einen Schleier von Tränen zu sehen vermöchte: wie sie denn also seinen Kopf zwischen ihren Händen hält und er, den Mund ganz nahe dem ihren, zum ersten Mal ihren Namen haucht und ihre Lippen ineinandersinken, zu langem Verstummen.
Das ist noch nicht die Mutzenbacher; aber es ist doch mehr als nichts. Anschließend macht sich Clemens sogar noch Gedanken darüber, daß es ihm trotz allem Pfui der Natur lieber ist, Gregor sei, in heutigen Worten, in dieser Nacht nicht impotent gewesen, das wäre unritterlich und hätte er ihm nun auch nicht gewünscht.
In dem Hauptwerk seines Bruders Heinrich hätte Thomas Mann ebenfalls ein Inzest-Motiv anklingen hören können, wenn er für solche Motive denn hellhörig war. In der Jugend des Königs Henri Quatre trifft sich der junge Henri in einem Gartenlabyrinth mit der von Kind an begehrten Königstochter Margot. Margots Mutter hat Henris Mutter vergiftet, das steht denn doch zwischen ihnen. Aber Margot ist als seine Braut vorgesehen, und er ist kurz davor, mit ihr intim zu werden. Da erscheint ihm plötzlich, sein Blick ist in dem grünen Labyrinth abgeirrt, das Bild seiner Mutter, und er ruft: «Mama.» Margot wirft sich an seine Brust und erklärt ihm schluchzend und lachend, dort stehe nur ein Spiegel, damit man sich noch mehr verirre in den Gängen, und was er gesehen habe, sei nur sie, seine Margot, und jetzt sei sie da, denn sie liebe ihn.
Die Erscheinung oder Schein-Erscheinung der Mutter ist vieldeutig. Gibt sie ihrem Sohn die symbolische Erlaubnis, auf Rache für ihren Tod zu verzichten? Braucht Henri ihr Ja-Wort, bevor er mit der Tochter ihrer Mörderin anbandelt? Aber wie kann er, bei aller Macht der Projektion, Margot mit der Mutter verwechseln? Thomas Mann hätte es erotisch gedeutet, Heinrich läßt es offen. Jedenfalls genügt Margots Erklärung, und Henri beginnt, ihren weiten, aufgespannten Rock zu raffen. Dabei denkt er, sie werde ihren früheren Liebhaber nun nicht mehr brauchen. «Denn während ihrer größten Regungen vergessen die Menschen ihre ganz gemeinen keineswegs.»
Bei der folgenden metaphorischen Umschiffung kann man geteilter Meinung sein. Ist es schwülstig? Ist es packend, gar groß?
Aber diese unheiligen Gedanken trieben nur wie hilflose Kähne auf dem gewaltigen Meer, und das war die Leidenschaft. Dunkles Leben, schweigende Taten allseits, nur sie beide waren hinausgelangt in einen berauschenden Sturm. In dies Meer wollen wir springen, und nie wird wieder von uns gehört werden! So verharrten sie aneinandergeklammert: die beste Zeit, die einzig unvergeßliche.
Wie ist das? Der folgende Schluß jedenfalls, für den würden wir stark plädieren, schon wegen des olfaktorischen Details, aber auch wegen der Lakonie, die ein mühselig verwickeltes Leben, oder eigentlich zwei, in einem Halbsatz zusammenfaßt.
Noch wenn sie, gealtert, einander gelegentlich begegneten, und hatte inzwischen jeder den anderen oftmals belächelt oder gehaßt: auf einmal wurde das wieder der Mann des Labyrinths und das Mädchen der dumpf und schwer riechenden Gänge.
Wenn Heinrich Mann einmal großartig ist, dann ist er wirklich großartig.