Einer der Größten in erotici ist aber vielleicht jener bekannte austriakische Kaktus. Die Erotik in all ihren Ausgestaltungen war eines seiner Haupt- und Herzthemen. Der Liebhaber dicker Damen, mit denen er Peitschenspiele pflegte – im Tagebuch ist nicht zu unterscheiden, ob mit dem Kürzel «DD» jene dicken Damen oder doch sein Roman Die Dämonen gemeint sind –, dieser Erotomane schreibt im Tagebuch:
Gegen das Sexuelle ankämpfen zu wollen erscheint mir närrisch. In der gesamten griechischen Mythologie, wo doch die Heroen sogar gegen die Götter losgehen, findet sich keiner, der mit dem himmlischen Raubersbuam Eros anbindet, nicht einmal der Herakles, der ja sonst kaum vor etwas zurückscheute …
Und darum müsse man im Gegenteil für das Sexuelle kämpfen.
Daß es auch in seinem berühmtesten Roman, der Strudlhofstiege, vor allen Dingen um den Gott Eros geht, faßt Doderer in folgendes Bild: In der Ehe zwischen der im Eingangssatz um ein Bein amputierten, jetzt aber noch zweibeinigen Mary und ihrem Ehemann Oskar seien die Nächte «eine Angel, welche im Dunkel eingepflanzt, jeden hellen Tag um sich schwingen ließ und seinen Kreislauf von sich abhängig hielt». Der Autor liebt die vertrackten Bilder; nicht immer übrigens schwingen sie im Gleichmaß und vertragen sie das schärfste Tageslicht, aber welcher Reichtum davon!
Ebenfalls in der Strudlhofstiege führt Doderer uns den Akt der Defloration vor, und wie in Brechts Liebesgedicht Als ich nachher von dir ging läuft die Pointe auf die hier nicht genannten «geschicktren Beine» hinaus.
Zwei Paare besteigen einen der Wiener Hausberge, die Rax. Beim Abstieg kommt sich eines der beiden Paare näher, das andere ist schon außer Sichtweite. Der Held, Doderers Alter ego René Stangeler, hilft Editha, die etwas erschöpft und deren Lodenrock hinaufgerutscht ist, aus ihrer labilen Lage. Sie stützt sich auf ihn und nähert sich seinem Kopf.
Sie blieben, wie sie waren, eine halbe Minute vielleicht. Dann begann er sie zu küssen und tat jetzt nichts situationsgemäß Verkehrtes, als er ihr weißes Sporthemd entknöpfelte und mit der rechten Hand unter ihre linke Brust glitt. Hinunter ließ sie sich beinahe tragen, es war nicht ganz einfach, sie blieb dicht an ihm, doch glückten diese ein-und-einhalb Meter bis zum Waldboden. – Sie schrie nur einmal unterdrückt und kurz auf im Schmerz, dann umklammerte sie René ganz fest, und nicht nur mit den Armen.
Wir sehen, wie auch hier wieder der Gedankenstrich zu seinem seit Kleist klassischen Einsatz gelangt.
Hochraffiniert ist es, wie Doderer in der nächsten Liebesszene zwischen René und Editha unauffällig ein physiologisches Detail vermerkt. René beginnt, sie mit Küssen zu bedecken, von den Schultern und dem Schlüsselbein nach abwärts. «Als er ihre Lenden erreichte, sah er die allerzarteste Haut – fein gefächert, wie Wasser, über das der Wind streicht, hell, atlasglänzend – einer fast verschwundenen Operations-Narbe, wohl ein Blinddarm-Schnitt. Er küßte auch diese Stelle neben vielen anderen.»
Der Leser denkt: schön und zart beschrieben – und sonst denkt er sich nichts. Aber damit übersieht er das Entscheidende. Das ist nicht nur eine metaphorisch außerordentlich gelungene Beschreibung einer Blinddarmnarbe. Es ist die minimalinvasive Offenlegung des Plots. Denn es handelt sich bei dieser zweiten Liebesbegegnung eben nicht um Editha, die René auf der Rax entjungfert hatte. Es handelt sich um ihre verschollen geglaubte Zwillingsschwester, die ihr gleicht wie ein Ei dem andern. René ahnt davon nichts – und nur der sehr genaue Leser merkt es bei der Zweitlektüre auch an anderen Details. Weitere zweihundert Seiten später wird René von Editha zur Liebe aufgefordert. Oder ist es doch wieder ihre Zwillingsschwester? René neigt dazu, sie für die echte Editha zu halten, und siehe da, bei seinen intimen Küssen findet er den letzten Beweis: «Er preßte das Gesicht gegen ihren Körper. Über der Lende war von einer Narbe keine leiseste Spur zu sehen.» Diesmal hält er also die Rechte umfangen.
Das Neuartige und Interessante daran ist, technisch gesprochen, daß das Erotische in den Dienst des Plots gestellt wird und nicht, wie sonst üblich, umgekehrt. Sonst wird, sobald Eros auf den Plan tritt, der Plot vernachlässigt; er ist oft fadenscheinig und hat keinen anderen Zweck, als das Paar endlich in die Horizontale zu bringen. Hier gerät der Gott Eros, mit dem man besser nicht anbinde, auf einmal unter die Zügel eines strengen Konstrukteurs.
Dem in den Dämonen diese Zügel allerdings wieder entgleiten. In dem merkwürdigsten Kapitel dieses Romans wird ein an den dünnsten Plothaaren herbeigezogenes fiktives Dokument eines Hexenprozesses aus dem frühen sechzehnten Jahrhundert abgedruckt, das bestimmte Obsessionen des Verfassers ausmalt. Sprachlich auf Distanz gehalten wird es, ähnlich wie bei Castorps französischem Erguß vor Clawdia Chauchat, durch ein fingiertes (und ziemlich scheußliches) Luther-Deutsch. Die gefangenen Hexen sind sexuell willfährig, der junge und arglose Chronist beobachtet sie in den wüsten Nächten, dann wird er selbst zum Mittreiben bestimmt. Der Hauptakteur heißt «Heimo» und hat ein kleines SM-Penchant. Sein Sadismus ist aber sanft, eher Spiel und Ritual als Lust am Schmerz. Er schlägt die Hexen, heißt es, «aus krefften undt mit dem sammet, das mocht ihn’ wenig tuen».
Mit Samtpeitschen also, ohne die auch der andere Heimo nie zum Weibe ging. Das «Sodhom undt Ghommorcha», als welches der Chronist die Nächte mit den Hexen empfindet, ist ein wienerisch gemütliches, von echten Hexenprozessen zum Glück weit entfernt. Es ist offensichtlich, daß das aus dem Romanton fallende Kapitel neben dem Ausbreiten historischen Materials (und einer Anspielung auf Dostojewskis Vorgänger-Dämonen) dem Hauptzweck dient, die private Sau rauszulassen; wenn auch, um im Bild zu bleiben, mit den Hufen in Pantoffeln aus Samt.
Doderers Dämonen sind auch sonst reich an erotischen Szenen. Eine der stilistisch reizvollsten schildert die Begegnung zwischen René Stangeler (den wir aus der Strudlhofstiege kennen) und der Frau Professor Käthe Storch. René ist alleine zu Hause, die Hausherrin Grete ist unterwegs. Käthe Storch klingelt und gibt ein paar Päckchen ab, die sie für Frau Grete besorgt hat. Sie will nun aber nach dem Abladen der Päckchen partout nicht gehen und streift noch in der Küche herum. René beginnt, sie näher zu betrachten. Hatten seine Blicke eben vorhin noch «in einer einzigen Garbe Frau Käthe’s Gesamterscheinung bestrichen, so schoß er jetzt schon Punktfeuer auf Einzelheiten». Man sieht, der Offizier Doderer verleugnet sich auch in seiner Metaphorik nicht. «Das aschblonde Haar. Die trockene reine Haut. Dann bemerkte er – jetzt erst – und zwar mit einer Art tiefem Erschrecken, ihre sehr hohe Brust.»
Es folgt ein Absatz und Doderers Bild für die Erektion: «Die Kraft sprang aus dem Zwinger.» Bei Thomas Mann heißt das – so ruft es die Frau des Potiphar verzweifelt aus, als der keusche Joseph, zum Esel geworden, in letzter Sekunde vor ihr flieht –: «Ich habe seine Stärke gesehen!»
Nun, Herr Stangeler fühlt also, wie die Kraft aus dem Zwinger springt, und jetzt wechselt Doderer metaphorisch zum Beruf seines Vaters über, dem Wiener Eisenbahnbaron. Frau Käthe läßt sich die Hände küssen, sinkt auf die Chaiselongue, stellt zwei Keks-Büchsen auf den Boden und schlägt die Hände vors Gesicht. «Mehr als dieses auf ‹frei› gestellte Einfahrtssignal brauchte der jetzt einherbrausende Expreß-Zug der Lust nicht. Sie sank zurück. Stangelers Hände flogen.» Schließlich, Frau Käthe ist entblättert und sinkt glatt dahin in Renés Armen: «Die Kraftentwicklung war kolossalisch, unter einem Platzregen von Küssen, schließlich rasten sie beiden zusammen durch’s Ziel. René vermeinte, Donner in den Ohren zu haben.» – Donnerwetter!
Aber jetzt klingelt es, werden sie ertappt?! Die Hausherrin Grete kommt zurück. Frau Storch schließt sich im Zimmer ein und instruiert René Stangeler, er solle eine Unpäßlichkeit ihrerseits vorschützen. «Da lag das neugeschmiedete Glied einer Kette von Lügen, es lag blank da und glänzte.» Die Frau sei vielleicht noch mehr krank, als sie ahne, bemerkt die Hausherrin, nachdem die Tür hinter Frau Storch ins Schloß gefallen ist. Und sie behält recht, obwohl ihr angebliches Unwohlsein ja nur eine Notlüge war. Ein Jahr nach dem Intermezzo mit René ist Frau Storch tot. Die zwei blauen Keks-Büchsen, die sie vor dem Einbrausen des Lust-Expreß neben dem Diwan abgestellt hatte, erscheinen René später wie «Schwammerln, die inzwischen hier gewachsen sind». Es sind solche Details, an denen man den Meister erkennt.
Zur gleichen Zeit und nur fünf Seiten vorher kommt es im selben Haus ein Stockwerk höher zu einer ähnlich spontanen und heftigen Sexualbegegnung. Und diesmal zwischen zwei Frauen. Die eine, Fella, schminkt sich im Badezimmer am Waschtisch, die andere, Trix, sitzt auf einem Sessel, also einem Stuhl, dicht neben ihr.
Noch fehlten wohl einige Millimeter bis zu Fella’s Hüfte im lavendelblauen Kleid. Jetzt aber lag Trix mit ihrem rotblonden Kopf schon dran. Fella wandte sich ruhig ein wenig zu Trix hin, nun schon die Hand in ihrem rötlichem Haar; plötzlich drängte sich das Gesicht darunter gegen Fella, es wühlte sich ein. Fella hielt mit einer Art von Behutsamkeit stand, als wolle sie durchaus nicht stören, was bei Trix vorging. Ja, auch die Bewegung, mit der sie jetzt ganz sanft ihr lavendelblaues Kleidchen allmählich heraufschürzte, und auch darunter noch was wegzog und wegschob, hatte durchaus eine behutsame Weise. Trix empfand im Augenblick etwas für sie absolut Neues: als trete sie hinter Fella’s Äußeres, hinter Fella’s Gesicht, als trete sie in Fella ein. Aber der Duft, in den sie jetzt sich tief drängte, ließ plötzlich in ihr einen derart ungeheuerlichen Vorgang geschehen, daß sie vom Gürtel abwärts zerschmolz und zerlief; es war der Griff einer übermächtigen Hand, die ihren kleinen Bauch, ihr kleines Geweid, ganz umschloß und in einem Schmelzfluss löste. Sie sank zusammen. Fella blieb fast unbeweglich. Vorsichtig wurde was zurechtgezogen und das Röckchen fiel.
Aber auch hier schlägt nun leider die Türklingel an.