»Wird höchste Zeit, dass wir reingehen«, sagt Kati. »In der ersten Stunde haben wir Frau Gemetzel. Die bringt uns um, wenn wir zu spät sind.«
»Geht ihr schon mal vor, ich komme gleich nach«, sage ich.
»Was hast du denn vor?«, will Leon wissen
»Gehen wir noch schnell beim Bäcker vorbei und kaufen Rosinenschnecken? Ich liebe Rosinenschnecken!«, schwärmt Dieter.
»Das erzähl ich euch später«, sage ich.
Leon, Kati und Anna sehen sich verwundert an, fragen aber nicht weiter nach, sondern winken mir zum Abschied zu und laufen ins Schulgebäude, um auf jeden Fall vor unserer Mathelehrerin in der Klasse zu sein.
»Und jetzt kaufen wird Rosinenschnecken, richtig?« Dieter leckt sich mit der Zunge über seine Lippen.
»Falsch«, antworte ich und gehe zu Jessica rüber.
»Was willst du denn von der?«, fragt Dieter neben mir. »Schon vergessen, wie blöd die immer zu uns war?«
»Natürlich nicht«, antworte ich. »Aber jetzt tut sie mir trotzdem leid und vielleicht kann sie uns erzählen, wie ihr Einhorn verschwunden ist. Und vielleicht können wir damit auch Nora helfen, Mathilde wiederzubekommen.«
»Ich hätte aber viel lieber eine Rosinenschnecke als ein Zebra. Oder besser noch zwei oder drei davon«, brummt Dieter.
»Meine Schwester will Mathilde aber wiederhaben, ist doch klar. Und ich auch, damit es Nora wieder besser geht.«
Dieter schnaubt abfällig, aber ich habe den Verdacht, dass er nur sauer ist, weil das nicht seine Idee war, Jessica über das Verschwinden ihres Einhorns zu befragen und so vielleicht einen Hinweis zu erhalten, wo Noras Zebra abgeblieben ist.
Jessica tut so, als würde sie gar nicht bemerken, dass wir auf sie zukommen. Dabei hat sie uns garantiert schon gesehen.
»Was willst du denn mit deiner dicken Stinknudel von mir?«, fragt sie und rümpft dabei hörbar die Nase, als ich vor ihr stehe. »Kannst du deinem Stinktier nicht mal ein anständiges Deo kaufen?«
Dieter will etwas erwidern, aber ich nehme ihn schnell hoch und halte ihm die Schnauze zu, damit er nichts Blödes zu Jessica sagt. Schließlich will ich ein paar Infos von ihr haben, und da ist es nicht sehr hilfreich, wenn Dieter hier rumpöbelt.
»Warum bist du denn so ganz alleine?«, erkundige ich mich, ohne auf ihre Beleidigungen einzugehen.
»Ich wollte einfach mal ein paar Minuten für mich sein, da habe ich die anderen weggejagt«, antwortet Jessica trotzig, aber das glaube ich ihr nicht. »Die haben mich gestört und das tust du auch. Also hau ab!«
Das mache ich natürlich nicht, stattdessen frage ich sie direkt: »Ich habe gehört, dein Einhorn ist nicht mehr da. Stimmt das?«
»Siehst du es hier irgendwo?«, fragt Jessica zurück.
Ich schüttele den Kopf.
»Siehst du, ich sehe es auch nicht! Also ist es wohl weg.« Jessica schaut an mir vorbei in die Ecke, in der ihre Freundin Lili mit den anderen Kindern steht.
»Das Zebra meiner Schwester ist auch verschwunden«, sage ich.
»Echt? Pech für sie.« Das soll wahrscheinlich cool klingen, hört sich in meinen Ohren aber ganz furchtbar traurig an.
»Hast du vielleicht irgendetwas Verdächtiges bemerkt, bevor dein Einhorn verschwunden ist?«, will ich von ihr wissen.
Jessica zögert.
»Etwas, das anders war als sonst«, hake ich nach. »Irgendwas Ungewöhnliches.«
»Da war ein Schatten mit einem langen Stock … dann gab es einen leisen Schrei und Wattebällchen war weg, einfach weg«, erzählt Jessica leise.
»Wer ist Wattebällchen?«
»Na, mein Einhorn natürlich. Wer sonst?«
Würde ich Dieter nicht die Schnauze zuhalten, würde er jetzt laut loslachen. Das kann ich spüren.
»Klar, wer sonst«, nuschele ich.
»Aber wahrscheinlich habe ich das alles nur geträumt«, sagt Jessica.
Im selben Moment klingelt die Schulglocke. Jessica schaut mich lange an, dann flüstert sie: »Ganz bestimmt habe ich das mit dem Schatten nur geträumt. Vergiss das mit dem Schatten.«
Jessica rempelt mich an, als sie an mir vorbei zum Schuleingang läuft. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie weint.
»Wattebällchen!« Dieter kriegt sich kaum ein vor Lachen, als ich meine Finger um seine Schnauze wieder lockere. »So ein saudoofer Name! Und dann die Sache mit dem Stock und dem Schatten. Die spinnt doch, die spinnt doch total!«
»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht«, erwidere ich und mache mich auch auf den Weg in unsere Klasse.
Von den Schulstunden bekomme ich an diesem Tag nicht viel mit, weil ich mir Sorgen um Nora mache und meine Gedanken in meinem Kopf Fangen spielen. Da ist es mir auch ganz egal, dass Frau Gemetzel mit mir schimpft, weil ich erst nach ihr in das Klassenzimmer komme. Später nimmt sie mich deswegen auch noch dran und stellt mir eine Rechenaufgabe. Dieter muss mir vorsagen, sonst hätte sie in ihrem Heft hinter meinem Namen wieder ein dickes rotes Minus geschrieben. Dieter kann gut rechnen. Zumindest für ein Stinktier. Seit er bei mir ist, haben sich meine Mathenoten deutlich verbessert. Frau Gemetzel glaubt, das läge an ihrem wunderbaren Unterricht, und ein bisschen ärgert sie sich auch darüber, weil sie lieber schlechte als gute Noten verteilt. So eine Art von Lehrerin ist sie nämlich.
Unser Deutschlehrer, Herr Schwarm, ist da ganz anders. Und das nicht nur, weil er einen großen weißen Wolf namens Rolf als Begleiter hat. Herr Schwarm ist schrecklich nett und macht ganz tolle Deutschstunden, in denen man auch etwas lernt, was man nicht nur in der Schule brauchen kann, sondern richtig fürs Leben. Trotzdem bin ich heute mit meinen Gedanken ganz weit weg und höre ihm nicht richtig zu. Nur am Anfang passe ich auf, ob Rolf bei ihm ist. Aber als ich sehe, dass sich sein Wolf wie immer zu Füßen meines Lieblingslehrers zusammenrollt, überlege ich weiter, was ich tun kann, damit Nora wieder glücklich wird. Dabei weiß ich doch eigentlich schon, dass es dafür nur einen einzigen Weg gibt: Ich muss Mathilde wiederfinden und das Zebra zu Nora zurückbringen.
Ich weiß bloß noch nicht, wie.
Den ganzen Vormittag brüte ich über dieses »wie«. Sogar in den Pausen. Ich stehe einfach schweigend daneben und murmele abwesend »ja, ja« oder »nein, nein«, wenn Anna, Kati oder Leon mich etwas fragen. Dabei sind die drei ja die Lösung, auch wenn ich das erst kurz vor Schulschluss kapiere.
Schließlich sind wir ein Club!
Und wozu ist so ein Club gut?
Natürlich dazu, dass man sich gegenseitig hilft und zusammen Probleme löst, die man alleine nicht lösen kann. Und wenn das Problem ein verschwundenes Zebra ist, dann werden wir es eben einfach gemeinsam suchen. Das kann ja nicht so schwer sein. Ich muss das den anderen nur erklären, dann machen die bestimmt mit. Da bin mir ganz sicher.
»Und wenn wir alle zusammen Mathilde gefunden haben, wird es meiner Schwester bestimmt auch wieder besser gehen«, erkläre ich Kati, Leon und Anna, als wir nach der Schule vor dem Schultor stehen.
»Aber ist das nicht gefährlich?«, fragt Leon.
»Und ich kann das Zebra doch sowieso nicht sehen«, bemerkt Kati. »Wie soll ich denn da bei der Suche helfen?«
Ehrlich gesagt, hatte ich gedacht, dass meine Freunde mit mehr Begeisterung auf meinen Vorschlag reagieren. Der Einzige, die meine Idee auf Anhieb gut findet, ist Leons Ratte Jasper.
»Ach was, das wird toll!«, ruft er. »Wir werden Detektive! Genau wie Sherlock Holmes und sein Gehilfe Doktor Watson. Ich bin Holmes und das Stinktier ist Watson. Das wird megahypersuperklasse!«
»Wenn hier einer von uns Sherlock Holmes ist, dann ja wohl ich«, erwidert Dieter. »Schließlich ist allgemein bekannt, dass der berühmte Detektiv damals auch einen unsichtbaren Begleiter hatte. Und zwar ein genauso schönes und kluges Stinktier, wie ich eines bin.«
»Dass ich nicht lache.« Jasper ist vor Aufregung von Leons Schulter auf dessen Kopf geklettert. »Es war eine Ratte, die ihn begleitet hat.«
»Es war ein Stinktier!«
»Eine Ratte!«
»Stinktier!«
Während die beiden streiten, wer Sherlock Holmes sein darf und wer Doktor Watson sein muss, schaue ich Anna an.
»Und was meinst du?«, frage ich sie.
»Klingt cool«, antwortet Anna und sogar Paula, ihr Faultier, wacht kurz aus ihrem Dauerschlaf auf und murmelt: »Bin dabei.«
Ich bin so froh, dass ich die zwei am liebsten umarmen würde. Aber das geht schlecht, weil Paula an Annas rechtem Oberarm hängt und ich Dieter trage. Wenn man ein Stinktier mit sich rumschleppt, gehen die Leute, die das sehen können, instinktiv auf Abstand und lassen einen nicht so gern in ihre Nähe. Das habe ich schon bemerkt. Deswegen belasse ich es bei einem dankbaren Lächeln und wende mich wieder Kati und Leon zu.
»Was soll schon passieren? Wir suchen ein Zebra und keinen entlaufenen Tiger oder so«, sage ich Leon, und Kati verspreche ich: »Ich leihe dir die Pfeife von meiner Oma, damit kannst du die Tiere auch sehen.«
Die beiden sehen zwar immer noch nicht begeistert aus, nicken dann aber doch.
»Dann ist das also abgemacht! Wir, der Club der super Tiere, suchen Noras Zebra und bringen es ihr zurück.« Ich halte meine Hand in die Mitte, sodass alle einschlagen können. Anna tut das sofort, bei ihrem Faultier dauert es etwas länger, weil sich Paula meistens nur in Zeitlupentempo bewegt. Kati und Leon zögern noch einen kurzen Moment, schlagen dann aber auch ein.
»Stinktier!«
»Ratte!«
»Stinktier!«
»Ratte!«
»Könnt ihr mal mit dem kindischen Quatsch aufhören und einschlagen«, sage ich zu Dieter und Jasper, die sich immer noch streiten.
Die beiden stutzen einen Augenblick, dann legt das Stinktier seine Tatze auf die Hände der anderen. Jasper klettert an Leons Arm herunter, damit er mit seiner Pfote auch einschlagen kann.
»Es lebe der Club der super Tiere«, brülle ich, und weil es sich so gut anfühlt, gleich noch mal. »Es lebe der Club der super Tiere.« Beim dritten Mal brüllen alle mit.
Genau in diesem Augenblick kommt Jessicas Freundin Lili mit ihrem fiesen Fuchs aus dem Schulgebäude. Die beiden haben unseren letzten Schrei gehört und lachen sich halb tot, weil sie unsere Tiere nicht ganz so super finden wie wir.
»Dumm wie Brot, alle beide«, knurrt Dieter.
Jasper nickt zustimmend, und das ist einer der seltenen Momente, an dem die beiden einer Meinung sind.