Scharfe Krallen rissen mir meine Gedärme aus dem Körper. Ich fiel auf die Knie. Die Schmerzen nahmen mir jegliche Luft zum Atmen. Ungläubig wandte ich mich zu dem Portal. Akula. Er war zurück.
Mit einem überheblichen Lächeln sah er auf mich herab. Seine dunkle Haut glänzte im Schein der Lampen, die die Tätowierungen auf seinem Oberkörper und seinem kahlrasierten Schädel besonders gut in Szene setzten.
»Kinder«, verspottete er mich mit seiner tiefen grollenden Stimme. »Ihr solltet euch nicht auf Erwachsenenspiele einlassen. Ihr könnt sie nicht gewinnen.« Langsam hob er seinen rechten Arm und sein schadenfrohes Lächeln wurde noch breiter. »Sag deinem Mädchen auf Wiedersehen. Sie gehört uns.«
Ich kämpfte gegen die Schmerzen an und versuchte Luft in meine Lunge zu pumpen. Akula beherrschte den Wind. Er würde mich mit einer einzigen Handbewegung ebenso von dieser Plattform fegen, wie er es mit Kieron getan hatte. Und er würde Lua töten. Langsam hob ich den Kopf und sah in sein siegessicheres Gesicht. Dann öffnete ich zitternd meine rechte Hand.
Mein Feuer traf ihn völlig unvorbereitet. Überheblich, wie er nach sechstausend Jahren geworden war, hatte er sich zu lange in meinem Anblick gesuhlt. Er hatte nicht mehr mit Gegenwehr gerechnet. Er zerfiel zu Asche. Und ich nahm mir fest vor, mir selbst eine jährliche Erinnerungsmail zu schreiben, in der ich mich vor Hochmut warnte. Das war offensichtlich die Todesursache Nummer eins unter Dämonen.
Gorzata hingegen war verschwunden. Durch das offene Portal erkannte ich die Bucht von San Francisco und hatte keine Chance, ihm zu folgen. Wenige Sekunden später war das Portal erloschen.
Kurz schloss ich die Augen, dann rappelte ich mich auf. Ich rief mir ins Gedächtnis, dass es nicht mein Körper war, der verletzt war, nicht meine Gedärme, die ihren angestammten Ort verlassen hatten – es waren seine.
Lua starrte auf eine Stelle unterhalb der Plattform. Ich hatte Mühe, zu ihr zu gehen, wollte mich noch nicht dem stellen, was ich dort zu sehen bekam, aber ich musste Kieron retten. Ich musste uns retten. Egal wer von uns dreien starb, es würde in jedem Fall den Tod von uns allen bedeuten – und damit auch den Untergang der Menschheit. Ich verfluchte unsere verschiedenen Verbindungen nicht zum ersten Mal, aber es lag nicht in meiner Macht, auch nur eine davon zu lösen.
Kieron war etwa vier Meter in die Tiefe gestürzt und lag auf einem Weg, umgeben von uralten Bäumen und Büschen. Aus seinem Bauch ragte ein Ast von mindestens zehn Zentimetern Durchmesser. Er bewegte sich nicht.
Ich rief Lua zu, dass sie sich verstecken sollte, plötzlich hatte ich Angst, dass Gorzata jetzt, wo wir geschwächt waren, noch einmal zurückkehren würde. Schließlich zog ich mein Handy aus der Tasche, wählte panisch eine Nummer und rannte den Hügel hinab.
»Sam, bitte, du musst sofort zum Portal kommen ... Es ist Kieron, ich bringe ihn dir.«
Ich legte auf und sprang die letzten Meter hinunter. Dann kniete ich mich neben meinen besten Freund. Er atmete. Flach, aber er atmete.
»Kieron, mach jetzt keinen Scheiß, okay? Halt durch. Sam kommt, er kriegt dich wieder hin. Du musst durchhalten.«
Ein schiefes Grinsen fand den Weg in sein Gesicht. »Könnte schwierig werden.«
Ich schüttelte den Kopf. »Oh nein, ganz sicher nicht. Ich habe es schließlich damals auch geschafft. Das hier ist kleiner als bei mir, also hör auf, hier die Memme zu machen.« Seine Augen flackerten. Scheiße. »Kieron, hör mir gut zu. Ich werde dir jetzt mal ein kleines Geheimnis verraten. Auch wenn du es dir nicht vorstellen kannst, habe ich noch nicht mit Lua geschlafen. Aber ... ich ... ich will nichts auf der Welt mehr, als es irgendwann zu tun, weil ich weiß, dass es das Beste sein wird, was ich in meinem ganzen beschissenen Leben erlebt habe. Und das wirst du mir jetzt nicht versauen, verstanden?«
Es war ein völlig bescheuertes Geheimnis und es war nicht einmal wahr. Natürlich wollte ich irgendwann mit ihr schlafen, aber es stand auf meiner Prioritätenliste ganz sicher nicht an erster Stelle, da gab es vorher noch eine Menge anderer Punkte, die Lua betrafen. Aber Kieron tickte anders. Und ich brauchte etwas, womit ich ihn triggern konnte.
Es funktionierte. Er öffnete die Augen und grinste mich breit an. Seine Stimme war leise, trotzdem klar. »Ich werde auf gar keinen Fall derjenige sein, der Schuld daran ist, dass sie ungevögelt stirbt. Versprochen. Das hat sie nicht verdient.«
Ich hatte ihn wieder. »Okay, das wird jetzt wehtun, aber das weißt du vermutlich.«
Er nickte. »Vermutlich ja.« Ich zog ihn zum Sitzen hoch, was ihm ein heftiges Stöhnen entlockte. Der Ast war direkt an seinem Rücken abgebrochen, ragte lediglich vorne ein kleines Stück heraus. Das war gut, so konnte ich ihn besser transportieren. Wenn ich das Ding hätte rausziehen müssen, wäre er verblutet, bis Sam hier war.
Sehr langsam trug ich ihn den Berg hinauf, zurück auf die Plattform. Er stöhnte ein paarmal, biss jedoch die Zähne zusammen. Die Bewusstlosigkeit zog an ihm. Oben angekommen öffnete ich das Portal. Sam stand bereits mit angespannter Miene auf der anderen Seite.
Diese riesige tätowierte Frohnatur, mit der ich mein gesamtes Leben geteilt hatte, hing tonnenschwer und leblos in meinen Armen. Seine Augen waren längst wieder geschlossen, Schweiß hatte sich auf seiner Stirn gebildet, sein Atem ging flach.
Ich sah Sam in die Augen und flehte ihn an. »Er muss es schaffen. Er hat es mir versprochen.«
Sam lächelte gequält. »Dann sollte ich wohl dafür sorgen, dass er sein Versprechen hält.«
Ich nickte ihm zu und übergab Kieron in seine Arme. Wenn einer ihn retten konnte, dann er.
Für ein paar Sekunden schloss ich die Augen und atmete tief durch. Wir hatten wieder versagt, der Stein war noch immer nicht in unserem Besitz. Vielleicht würde er es nie sein, gerade jetzt hing alles davon ab, ob Kieron es schaffen würde. Doch sein Leben lag nicht mehr in meiner Hand. Ein anderes hingegen schon.
Lua. Sie hatte sich keinen Millimeter vom Fleck bewegt. Völlig regungslos starrte sie auf die Stelle, an der Kieron gelegen hatte. Ein riesiger Blutfleck auf dem festgetretenen Boden war das Einzige, was von dem zeugte, was hier eben passiert war. Ansonsten war das Areal völlig unberührt.
Stille Tränen liefen über ihre Wangen. Ich stellte mich vor sie und nahm ihr die Sicht auf das Blut. Es war, als hätte sie mich gar nicht bemerkt. Vorsichtig bettete ich ihr Gesicht in meine Hände und hob es ein wenig an. Ihr Blick war leer.
Stumm strich ich ihr übers Haar und wischte ein paar Tränen weg. Ich hätte ihr so gerne den Schrecken genommen, hätte nichts lieber getan, als ihr Worte der Zuversicht zuzusprechen. Aber ich hatte diese Worte nicht. Ich konnte ihr nicht versprechen, dass er es schaffte, konnte nicht versprechen, dass wir es schafften.
Stattdessen zog ich sie fest in meine Arme, legte mein Gesicht auf ihre Haare und sog ihren Duft ein. Frühling, Sonne, frisches Grün. Wie oft würde ich dazu noch Gelegenheit haben? Noch konnte ich Kieron spüren. Er war schwach, aber er lebte.
Ich merkte, wie Luas Beine nachgaben. Meine eigenen hielten mich auch nicht mehr besonders sicher, also setzte ich mich mit ihr auf den Boden und zog sie auf meinen Schoß.
Dort verharrten wir. Eng umschlungen, in stummer Angst um unser Leben, voller verzweifelter Liebe, mit der wir uns aneinanderklammerten und uns überschütteten. Mit einer Liebe, die entweder alles überstehen oder uns den Tod bringen würde.
Ich verlor jedes Zeitgefühl. Es konnten Minuten oder Stunden vergangen sein, als ich unerwartet ihre leise Stimme an meiner Brust hörte. »Er darf nicht unseretwegen sterben. Es ist nicht sein Kampf.«
»Ich kann ihn spüren, Würmchen, er lebt.«
Langsam hob sie den Kopf, das Mondlicht schien in ihr Gesicht. Es war rot und geschwollen, die Tränen noch immer nicht vollends versiegt. »Glaubst du, er wird es schaffen?«
»Ich weiß es nicht«, gab ich nach kurzem Zögern zu. »Aber hey, es ist Kieron. Er wird dem Tod vermutlich ins Gesicht lachen und ihm den Mittelfinger zeigen.« Endlich regte sich bei Lua der Hauch eines Lächelns. Ich sah auf die Uhr. »Es ist bereits über eine Stunde her und er ist seitdem nicht schwächer geworden. Das ist ein ziemlich gutes Zeichen.«
»Wo hast du ihn hingebracht?«
»Zu seinem Vater.«
Obwohl die Verzweiflung sie nach wie vor fest im Griff hatte, tauchten eine Menge Fragezeichen in ihrem Gesicht auf.
»Sein Vater heißt Sam«, erklärte ich ihr deshalb. »Eigentlich Samuel. Er ist ein über sechshundert Jahre alter Nachtmahr und für uns der beste Arzt der ganzen Welt. Er könnte es schaffen, ihn zu retten.« Dankbar lehnte sie sich erneut an meine Brust. Ich spürte, wie sich ein Funken Hoffnung in ihr regte, und hoffte, dass er berechtigt war.
Mein Shirt war von ihren Tränen inzwischen völlig durchnässt und sie zitterte, selbst in meinen Armen war ihr kalt. Wir hatten eindeutig lange genug hier gesessen. Langsam erhob ich mich und zog sie auf ihre Füße. Sie war so erschöpft, dass sie nicht in der Lage war, auch nur die ersten Meter des Abstiegs allein zu schaffen. Ich hätte einen Großteil des Weges fliegen können, wusste allerdings, dass mich das Warten auf eine Nachricht oder ein sich veränderndes Gefühl ohnehin wahnsinnig machen würde. Also nahm ich sie auf meinen Arm und machte mich zu Fuß auf den Weg, so war ich wenigstens beschäftigt.
»Ich kann laufen, ehrlich.«
Was musste eigentlich passieren, damit sie das eines Tages nicht mehr sagen würde? Ich wollte es lieber nicht herausfinden. »Du lügst.«
»Nur ein ganz kleines bisschen«, seufzte sie an meiner Brust.
Eineinhalb Stunden später waren wir zurück in unserer Pension. Wir konnten weder essen noch schlafen, weder duschen noch uns anders ablenken. Wir wussten nicht, wie viel gemeinsame Zeit uns blieb – ein ganzes unsterbliches Leben, ein paar Wochen oder nur ein paar Minuten. Also saßen wir eng umschlungen auf dem Bett und warteten. Minute um Minute kroch quälend langsam dahin, während wir auf die erlösende Nachricht hofften, dass Kieron es schaffen würde. Zwei Stunden lang. Es waren die zwei längsten Stunden meines Lebens.
Dann vibrierte mein Handy. Sam. Mit zitternden Händen öffnete ich die Nachricht.
Sind mit der OP durch. Er ist stabil. Melde mich morgen. Möchte ihn gerade nicht allein lassen.
Ich schloss die Augen und atmete tief durch, als noch eine zweite Nachricht eintraf.
Sieht ganz so aus, als ob er sein Versprechen hält.
Langsam ließ ich die Worte in mir Fuß fassen. Er würde es schaffen, wir würden leben. Lua registrierte meinen Stimmungswechsel sofort. Sie nahm das Handy und las die Nachrichten ebenfalls. Ihre Erleichterung kam wie eine Flutwelle über mich.
Meine eigene hingegen konnte sich nicht ungehindert ausbreiten. Sie hatte inzwischen ziemlich laute Konkurrenz bekommen. Seit Kierons Unfall hatte sich eine Stimme in meinen Kopf geschlichen und diese Stimme versicherte mir wieder und wieder, dass ich es verbockt hatte. Es war nicht bloß Kieron heute beinahe gestorben, sondern mit ihm auch Lua. Und das nicht nur heute.
Und selbst wenn Kieron überlebte, war ihr Zustand beängstigend. Sie war zu schwach, um auch nur irgendetwas allein zu tun. Ich zog sie aus, trug sie ins Bad und half ihr beim Waschen. Anschließend brachte ich sie zurück ins Bett. Der Schlaf übermannte sie augenblicklich. Schon seit Stunden hatte sie nur noch die Angst wachgehalten.
Betrübt betrachtete ich für eine Weile ihr Gesicht. Ich hatte sie immer gerne im Schlaf angeschaut, jetzt konnte ich es nicht mehr genießen. Jetzt konnte ich lediglich versuchen, vor Sorge um ihr Leben nicht verrückt zu werden.
Vorsichtig schob ich die Bettdecke zur Seite. Die Brandverletzung vom Machu Picchu war erst eine Woche alt und längst nicht verheilt. Bekümmert betrachtete ich ihren kleinen Körper. Lua war schon immer zart und dünn gewesen, jetzt war sie furchtbar mager. Ihr Gesicht war noch schmaler geworden, am Körper konnte man inzwischen jede Rippe sehen. Ich hatte keine Ahnung, wie viel sie abgenommen hatte, aber es war eindeutig zu viel. Und ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich diesen Prozess aufhalten sollte. Bis zu ihrem Geburtstag waren es noch genau drei Monate. Es wurde mehr als dringend, dass wir den verdammten Stein in unseren Besitz brachten, um uns anschließend irgendwo zu verkriechen, damit sie sich bis zu ihrer Verwandlung endgültig erholen konnte.
Allerdings war ihr äußerer Zustand nicht das Einzige, um das ich mich sorgte. Wie es in ihrer Seele aussah, konnte ich nur ahnen. Sie war ein so reines, unschuldiges Geschöpf gewesen, als ich sie kennengelernt hatte. Hatte ihre Seele bei unserer verfluchten Suche am Ende Schaden genommen?
Sie hatte nicht allein die Bösartigkeit unserer Gegner über sich ergehen lassen müssen, sie hatte auch in Ansätzen gesehen, wozu Kieron und ich in der Lage waren. Darüber hinaus hatte sie selbst töten müssen, immer wieder. Ich wusste, wie sehr es ihr zuwider war, auch wenn es aus Notwehr geschah.
Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, schob ich ihr ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Ich würde morgen mit ihr nach Montana fliegen, zu Kierons Vater. Ich hatte keine Ahnung, wie sie einen solch langen Flug hinter sich bringen sollte, aber es würde das Letzte sein, was ich ihr antat. Danach würde sie sich bei Sam erholen können.
Denn eine Sache stand für mich fest: Sie durfte an dieser elenden Suche nicht mehr teilnehmen. Und je länger ich darüber nachdachte, umso sicherer wurde ich mir, dass es nicht bloß die Suche war. Es war mein ganzes verfluchtes Leben!