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17. Kieron

Schweiß, Alkohol, schimmliges Essen, all das vermischte sich zu einem furchtbaren Gestank, als ich in den Flur trat. Trotzdem zeigte mir das, dass das Glück ausnahmsweise mal auf meiner Seite war.

Seit Lua bei Sam war, war ich schon ein paarmal in Caelums Wohnungen gesprungen, um zu sehen, ob er sich in einer von ihnen verkrochen hatte, allerdings ohne Erfolg. Er hatte vermutlich geahnt, dass ich ihn suchen würde, also wollte er es mir nicht zu einfach machen. Ich hatte auch ein paar Abstecher nach San Francisco unternommen, die Stadt, die wir in dem Portal in San Sebastian gesehen hatten, aber auch dort hatte ich ihn nicht gefunden.

Nicht nur einmal hatte ich mir gewünscht, dass er in eine Notlage geraten würde, denn in einem solchen Fall hätte unsere Verbindung mir seinen Aufenthaltsort deutlich präsentiert. Aber den Gefallen tat er mir natürlich nicht. Und so spürte ich lediglich, dass er noch am Leben war. Mehr nicht.

Zu allem Überfluss war Caelums Präsenz in mir in den letzten drei Tagen schwächer geworden. Fast schien es, als ob er in der gleichen undurchdringlichen Blase gefangen war wie Lua. Und das hatte mich hoffen lassen, ihn jetzt doch in einem seiner Apartments zu finden.

Und tatsächlich, hier in New York hatte ich offenbar Erfolg. Dort, wo alles angefangen hatte.

Im Wohnzimmer und in der Küche stapelten sich Essensreste, Geschirr, Pizzakartons und vor allem Unmengen an Flaschen. Vorwiegend Schnaps. Es stank, als ob hier seit einem Jahr niemand geduscht und gelüftet hatte. Energisch riss ich die Fenster auf und ging nach oben.

Caelum saß auf dem Bett und starrte aus dem Dachfenster, im Ofen brannte ein Feuer. Seine Klamotten waren fleckig und er war definitiv der Auslöser des Schweißgeruchs, doch vor allem war er schlicht und einfach sternhagelvoll. Was eigentlich nicht möglich war, es sei denn, er hatte seit Tagen pausenlos Schnaps in sich hineingeschüttet. Davon war, dem Zustand seines Penthouses und der leeren Flasche in seiner Hand nach, allerdings auszugehen.

»Verpiss dich. Ich werde nicht mitkommen.«

Das könnte anstrengend werden. »So, wie du stinkst, werde ich dich auch nicht mitnehmen.« Die Antwort war ein Grunzen. »Okay, steh auf.«

»’n’ Scheiß werd ich«, nuschelte er.

Dann eben nicht. Ich nahm ihm die Flasche aus der Hand und zog ihn vom Bett. Er versuchte sich zu wehren und mich wegzuschieben, war jedoch zu betrunken, um mir irgendetwas entgegenzusetzen. Also zerrte ich ihn, von unflätigen Beschimpfungen begleitet, die Treppe runter und ins Bad. Dort schubste ich ihn in die Dusche, stellte das kalte Wasser an und hielt ihn unerbittlich fest.

Er schrie und tobte, drohte damit, mich umzubringen und ganz New York in die Luft zu jagen. Nach einer Viertelstunde war der Zauber vorbei.

»Stell das Wasser ab und lass mich los. Ich bin nüchtern. Und glaub nicht, dass ich mich dafür bei dir bedanke«, giftete er mich an.

»Es würde sowieso mehr helfen, wenn du dich wäschst und dir saubere Sachen anziehst. Und die hier kannst du direkt entsorgen, waschen hilft da nicht mehr.«

»Leck mich.«

Das ließ ich besser unkommentiert. Stattdessen wandte ich mich von ihm ab und ging ins Wohnzimmer. Ich hörte, wie nach einer Weile die Dusche erneut anging. Immerhin.

In der Zeit, in der er sich in einen hoffentlich brauchbaren Zustand versetzte, räumte ich ein bisschen auf. Es gelang mir nur in Ansätzen, aber wenigstens schaffte ich es, Sofa und Tresen freizuräumen, sodass wir uns hinsetzen konnten.

Das war allerdings nicht in seinem Interesse. Kaum, dass er, nur mit einem Jogger bekleidet, aus dem Schlafzimmer kam, ging er an den Kühlschrank und nahm sich eine weitere Flasche Schnaps.

»Pack die weg, du Idiot.«

»Meine Wohnung, mein Kühlschrank, mein Schnaps. Also Schnauze.«

Wütend riss ich ihm die Flasche aus der Hand und schmiss sie mit voller Wucht gegen die Wand. Billiger Fusel ergoss sich inmitten von Scherben über den Fußboden. Caelums Augen verengten sich zu Schlitzen und er knurrte mich an.

Ich ging einen Schritt auf ihn zu, bis mein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt war. »Du wirst mir jetzt zuhören, sonst lege ich deine komplette Wohnung in Trümmer.«

»Dann solltest du dich mit deiner Ansprache beeilen, meine Aufnahmekapazität ist gerade etwas begrenzt«, schnaubte er.

Okay, das konnte er haben. »Sie stirbt.«

»Du lügst. Sie lebt. Sie leidet nicht mal. Ich würde es spüren, wenn es so wäre.«

Selten hatte ich mich derart beherrschen müssen, ihm nicht meine Faust ins Gesicht zu rammen. »Ach, und was spürst du so von ihr?«

Er legte den Kopf schief und starrte mich einen Moment an. »Nichts. Kein Leid, keine Trauer, kein Bedauern. Nur, dass sie lebt.«

»Genau, du Vollhonk. Weil das nämlich das Einzige ist, was sie gerade noch tut.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte er drohend.

»Ich will damit sagen, dass du nichts von ihr fühlen kannst, weil sie nichts mehr fühlt. Sie ist gefangen in einer unsichtbaren Blase, die niemand zum Platzen bringen kann. Sie spricht nicht, sie isst nicht, sie schläft nicht. Und wenn das noch ein paar Tage so bleibt, wird das Letzte, was du von ihr spürst, ihr Tod sein.«

Er sagte nichts, fixierte mich nur weiter mit zusammengekniffenen Augen. Immerhin hatte ich seine Aufmerksamkeit.

»Ich weiß nicht, ob irgendwo in ihr noch Gefühle sind, aber wenn, dann sind es definitiv keine guten. Du kannst es dir weiter schönreden und im betäubten Suff glauben, dass sie nichts Schlechtes fühlt. Dann werde ich schon mal einen Grabstein für mich aussuchen. ›Gestorben, weil sein Kumpel ein Idiot war‹ oder ›Er erlag der Sturheit seines Verbundenen‹. Mein Favorit ist im Moment ›Durch die Ignoranz eines Wichsers dahingerafft‹.«

»Hör auf mit der Scheiße oder du hast noch genau zwei Sekunden, bis ich dich rausschmeiße«, fauchte er mich an.

»Mach das und du wirst mit mir sterben. Und mit ihr. Oder konzentrier dich ein einziges Mal und versuch verdammt noch mal zu ihr durchzudringen. Du bist der Einzige auf der ganzen Welt, der es überhaupt noch schaffen kann.« Ich packte ihn fest an den Schultern. »Versuch sie wirklich zu spüren. Und dann sag mir ins Gesicht, dass es ihr gut geht. Erst dann lasse ich dich in Ruhe.«

Er ging einen Schritt zurück und lehnte sich gegen die Arbeitsplatte. Dann legte er die Hände vors Gesicht und verharrte so. Er wollte es nicht tun. Er wollte nicht erkennen, dass er sich geirrt hatte. Und noch viel weniger wollte er herausfinden, dass es ihr schlecht ging. Er hatte Angst vor ihrem Zustand.

Ich konnte es verstehen. Ganz bestimmt hätte ich nicht mit ihm tauschen wollen. Ich hatte Lua zwei Wochen lang beobachtet, hatte langsam, aber sicher mitverfolgt, wie sich ihre Verfassung jeden Tag weiter verschlechterte. Sie jetzt mit einem Schlag geballt zu spüren, musste mehr als schrecklich sein. Aber es war der einzige Weg, ihn zurückzuholen.

Irgendwann nahm er die Hände vom Gesicht und sah mich durchdringend an. Ich nickte ihm auffordernd zu. Daraufhin schloss er die Augen.

Lange Zeit passierte nichts. Plötzlich schnappte er nach Luft, fasste sich mit einer Hand an die Brust und fiel auf die Knie. Er stöhnte.

Ich ging vor ihm in die Hocke und schaute in flehend an. »Du musst mitkommen. Sie wird ohne dich sterben.«