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21. Lua

Ich kam auf dem Rücksitz eines Autos zu mir, geknebelt, gefesselt. Ich glaubte zu ersticken, doch es war nicht nur der Knebel, es war auch meine Angst, die mir jegliche Luft zum Atmen nahm.

Die Präsenz, die ich auf Sams Terrasse gespürt hatte, saß auf dem Beifahrersitz. Viel konnte ich allerdings aus meiner liegenden Position nicht von ihm erkennen, vom Fahrer noch viel weniger. Also versuchte ich stattdessen herauszufinden, wo wir waren. Durch die Autofenster entdeckte ich vereinzelte Bäume, die schnell mehr wurden, bis sie dicht an dicht standen. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich weg gewesen war, aber das könnte immerhin bedeuten, dass wir noch in Montana waren, schließlich bestand dieser ganze Bundesstaat gefühlt nur aus Wald. Der Weg war unbefestigt, das Auto ruckelte langsam dahin. Nach wenigen Minuten hielten sie an und stiegen aus.

Meine Panik wuchs ins Unermessliche. Wer waren die beiden? Und was hatten sie mit mir vor? Stand mir jetzt ein Ritual bevor, wie wir es in den Anden gesehen hatten? Würde jetzt das passieren, von dem ich fast jede Nacht träumte? Ich zitterte und das nicht nur, weil mir kalt war. Ich schaffte es nicht mehr, meine Angst zu kontrollieren.

Die Tür wurde aufgerissen, jemand zerrte mich unsanft aus dem Auto und schubste mich vor sich her. Vor mir lag ein umzäuntes Gelände mit einer heruntergekommenen Scheune. Dorthin gingen wir. Meine Entführer hielten sich hinter mir, sodass ich immer noch nicht wusste, mit wem ich es zu tun hatte.

Panisch schaute ich mich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Wenn wir erst einmal drinnen waren, würde es vermutlich keine mehr geben. Viel zu schnell musste ich mir jedoch eingestehen, dass ich schon jetzt keine hatte. Selbst wenn ich topfit gewesen wäre, hätte ich mit gefesselten Händen und ohne Waffe keine Chance gegen sie gehabt. In meinem jetzigen Zustand würde ich keine drei Meter weit kommen.

Plötzlich packte mich einer der beiden Typen hart im Nacken. Ich spürte, wie er sich langsam meinem Gesicht näherte, und schluckte, als ich seine schaurige Stimme an meinem Ohr hörte. »Denk gar nicht erst dran, Püppchen. Du kommst hier nicht lebend weg.«

Gänsehaut zog sich bei seinen Worten über meine Arme. Sein Griff wurde noch fester, während er mich vorwärtsschob.

Drinnen angekommen registrierte ich überrascht, dass die Scheune längst nicht so verkommen war, wie es von außen den Eindruck gemacht hatte. Wir durchquerten einen leeren Aufenthaltsraum und den dahinter folgenden Gang und gingen eine Treppe hinunter. Der Keller bestand aus einem Gewirr von Gängen und Türen. Wider besseres Wissen versuchte ich mir den Weg einzuprägen, versuchte für die Möglichkeit des Entkommens vorbereitet zu sein. Die Angst spielte gegen mich. Anders als sonst verlor ich nach kürzester Zeit die Orientierung. Schließlich öffnete der Typ mit der starken Präsenz eine schwere Metalltür und bat mich voller ironischer Freundlichkeit in den Raum.

Mit klopfendem Herzen sah ich mich um. Nackter Beton, Neonlicht, ein kleiner Tisch mit Messern und anderen Utensilien in einer Ecke, daneben ein kleines Kohlebecken. In der gegenüberliegenden Ecke stand ein riesiger Ohrensessel aus schwarzem Samt und in der Mitte des Raumes hing eine Kette von der Decke, an deren Ende ein großer Haken baumelte. In diesen Haken klinkten sie meine gefesselten Hände ein und zogen ihn nach oben.

Der Dämon, der hier offensichtlich das Sagen hatte, grinste mich voller Vorfreude an, als hätte man ihm ein neues Spielzeug geschenkt. Dann wandte er sich noch einmal an seinen Kumpanen. »Hol Larry. Du hast frei.« Damit verließ der Zweite den Raum.

Wir musterten uns gegenseitig. Der Kerl war ein Schrank. Riesig und breit gebaut platzte er fast vor Muskeln. Gegen ihn war selbst Kieron ein zarter Hase. Er hatte lange dunkle Haare und einen Vollbart und trug ein graues Shirt mit V-Ausschnitt, in dem dicke Ketten baumelten. Seine Unterarme waren mit schwarz tätowierten Mustern übersät und wurden von zahlreichen Armreifen geziert. An seinen fetten Fingern prangten Unmengen von ebenso fetten Ringen. Er war abstoßend, seine Grausamkeit schrie mich aus jeder Faser seines Körpers an – und ich war ihm völlig ausgeliefert.

Was auch immer er mit mir vorhatte, ich würde es nicht überleben. Er hätte sich nur in den Sessel setzen und warten müssen, allein das hätte gereicht, um mich umzubringen. Seine Bösartigkeit entzog mir dermaßen viel Energie, dass ich das hier auch ohne jede Folter nicht lange aushalten würde. Dennoch war ich mir sicher, dass es nicht sein Plan war, einfach dazusitzen und zu warten.

Langsam kam er auf mich zu und umrundete mich, wobei er mich von oben bis unten scannte. Dann nahm er mir den Knebel ab. Luft strömte endlich wieder durch meine Lunge und gab mir ein wenig Zuversicht, die jedoch sofort im Keim erstickt wurde. Sein Atem war plötzlich dicht an meinem Ohr. »Wir wollen doch nicht, dass dem Kätzchen die Luft zum Schreien fehlt.«

Ich wusste nicht, ob ich in meiner Panik auch nur einen Laut produzieren würde, aber ich versuchte es. »Wer bist du? Was willst du von mir?« Meine Stimme war rau und zittrig.

Er stellte sich vor mich, viel zu dicht, sein widerlicher Atem direkt in meinem Gesicht. Dann schüttelte er langsam den Kopf, während er mir mit zuckersüßer Stimme antwortete. »Ts, ts, ts. Seit wann stellt das Kätzchen denn hier die Fragen, hmm? Das überlass mal lieber dem bösen Onkel.« Dann drehte er sich um und nahm in dem Sessel Platz. »Aber ich will ja gar nicht so sein. Schließlich bin ich kein unhöflicher Kerl. Mein Name ist Heron. Und ich will nichts von dir. Du bist nicht mein Typ und du weißt nichts, was mich interessieren würde.«

Er nahm eine Zigarre von dem kleinen Beistelltisch und zündete sie in aller Seelenruhe an. Dann beugte er sich vor und stützte die Unterarme auf seinen Oberschenkeln auf.

»Aber weißt du, ich habe eine kleine Rechnung mit deinem zuckersüßen Lover offen und ein gemeinsamer Bekannter von uns hat mir einen kleinen Tipp gegeben, dass gerade ein guter Moment wäre, um diese Rechnung zu begleichen. Dein Schnuckelchen hatte vor etwas mehr als zweihundert Jahren den Spaß, meine Gefährtin umzubringen. Das habe ich ihm irgendwie krummgenommen ... Ich habe sie wirklich gemocht. Und ich denke, dass mir im Gegenzug jetzt der gleiche Spaß zusteht wie ihm. Wobei er ja nicht so der große Spaßvogel ist, er hat sich damals ziemlich beeilt. Ich hingegen liebe Spaß. Also werde ich es etwas länger auskosten. Zumal unser lieber Bekannter gerne mal für eine Weile etwas … Abstand von euch gebrauchen könnte.«

Mit einem Schlag machte ich die Bekanntschaft mit einer mir bislang unbekannten Emotion: Todesangst. Noch nie in meinem Leben hatte ich so viel Angst verspürt wie jetzt.

Gorzata hatte also diesen Dämon auf mich gehetzt, um uns von der Suche nach ihm abzulenken. So gewann er etwas Zeit, um in Ruhe untertauchen zu können. Vermutlich ging er davon aus, dass Caelum und vielleicht auch Kieron mich suchen würden. Aber Caelum war verschwunden, er hatte mich verlassen. Wenn Kieron ihn nicht fand, würde er nie erfahren, dass ich entführt worden war. Dann würde er nicht eine Minute nach mir suchen. Und dann würde dieser Keller das Letzte sein, was ich in meinem Leben zu sehen bekam.

Ich schluckte. Das Einzige, was ich mir noch vornahm, war, nicht zu schreien. Den Gefallen wollte ich ihm nicht tun. Aber ich ahnte bereits, dass ich diesen Vorsatz brechen würde.

Hinter mir öffnete sich die Tür. Das war vermutlich Larry. Als er an mir vorbeiging und an dem kleinen Tisch stehen blieb, stutzte ich. Er war kein Dämon, sondern ein Mensch. Kurze Haare, stachelig gestylt und am Hinterkopf kurz geschoren. Und das, was ich unter seinem Haaransatz entdeckte, ließ mich erneut erstarren. In seinen Nacken war ein fünfzackiger Stern in einem Kreis eintätowiert, ein Dämonenmal. Er war an Heron gebunden. Er würde alles für ihn tun, war ihm vollkommen ergeben. Und er war sicher nicht sein Liebesknabe. Er war sein Folterknecht.

Heron nickte ihm stumm zu. Dann lehnte er sich entspannt in den Sessel zurück und paffte seine Zigarre. Larry kam mit einem Messer auf mich zu. Beinahe hätte ich schon geschrien, bevor er überhaupt angefangen hatte. Anstatt mich jedoch mit dem Messer zu verletzen, benutzte er es, um mir meine Kleidung vom Leib zu schneiden.

Ich kämpfte mit den Tränen. Er ließ mir lediglich meinen Slip und meine Brustbandage. Caelum hätte sie gehasst, ich jedoch hatte sie benutzt, weil meine Brust so verschwindend klein geworden war, dass mir kein BH der Welt mehr passte. So stand ich jetzt vor ihnen. Fast nackt, klapperdürr, gefesselt und aufgehängt wie Vieh im Schlachthof.

Herons Blick wanderte grübelnd über meinen Körper. »Was findet der Idiot nur an dir? Hübsches Gesicht, Püppchen, aber der Rest ... Wehe, du verdirbst mir meinen Spaß und gehst zu schnell kaputt.« Dann gab er Larry einen Wink. »Das hübsche Gesicht braucht sie bei dem Körper nicht mehr.«

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Das Poltern schwerer Stiefel in den Gängen weckte mich. Türen wurden auf- und zugeschlossen, Befehle und derbe Scherze gebrüllt. Ich wollte meine Augen öffnen. Es gelang mir nur mit dem Linken, das Rechte war fast völlig zugeschwollen.

Ich lag in einer Zelle, über mir grelles Neonlicht, unter mir nackter Betonboden. Mühsam versuchte ich mich aufzurichten, was mir stechende Schmerzen als Belohnung bescherte. Sie breiteten sich ungehindert in meinem Kopf und an meinem Oberkörper aus. Stöhnend schaffte ich es, mich mit äußerster Anstrengung zum Sitzen hochzuziehen und mich an der Wand anzulehnen.

Die Zelle war leer. Es gab einen Eimer in einer Ecke, von dem ich nicht wusste, wie ich ihn jemals benutzen sollte. Ansonsten nichts. Blanker Beton. Grelles Licht. Keine Fenster.

Meine Hände waren nach wie vor gefesselt und ich hatte nichts am Leib außer meiner Unterwäsche. Ich fror erbärmlich, weswegen ich mich so klein wie möglich zusammenkugelte, was mir statt der erhofften Wärme bloß weitere Schmerzen einbrachte. Ich zitterte am ganzen Körper. Vielleicht würde ich einfach erfrieren. Ich hatte einmal gehört, dass das, wenn man einen gewissen Punkt überschritten hatte, ein sehr friedlicher Tod sein sollte.

Vielleicht würde ich aber auch verdursten. Meine Kehle war dermaßen ausgetrocknet, dass ich vermutlich nie wieder einen Ton herauskriegen würde, wenn ich nicht bald etwas Wasser bekam. Jedes Schlucken war eine Qual. Herons Wunsch vom Schreien würde so sicher nicht erfüllt werden. Vorsichtig fuhr ich mir mit der Zunge über meine aufgeplatzten, geschwollenen Lippen.

Warum war ich bloß aufgewacht? Warum hatte mich die Bewusstlosigkeit nicht länger festgehalten und mir Frieden geschenkt?

Zögernd ließ ich meinen Blick über meinen entblößten und schmerzenden Körper wandern. Ich wusste nicht, wie lange ich geschlafen hatte, aber schon jetzt fand ich sämtliche Schattierungen von Blau bis Lila auf meiner Haut. Die waren jedoch mein geringstes Problem. Unzählige Schnitte und kleine Stichwunden bedeckten meinen Oberkörper und meine Arme. Und keine einzige dieser Wunden hatte sich bis jetzt geschlossen. Der verschmierte Blutfleck auf dem Boden ließ mich ahnen, wie es auf meinem Rücken aussah, und die Erinnerung daran, wie die Wunden dort zustande gekommen waren, entlockte mir ein Wimmern.

Tränen wollten sich ihren Weg in die Freiheit bahnen, aber ich schluckte sie hinunter. Wenn ich jetzt anfing zu weinen, würde ich nie wieder aufhören können.

Wie sollte ich eine solche Tortur noch ein weiteres Mal überstehen? Was würde ihnen noch alles einfallen, was sie mir antun könnten? Heron machte nicht den Eindruck, als ob er in dieser Hinsicht an mangelnder Kreativität litt. Zum Glück litt ich jedoch unter mangelndem Vorstellungsvermögen, sonst wäre ich vermutlich aus purer Angst gestorben. Wie lange hatte ich wohl noch Zeit, bis sie mich wieder holten? Die Fragen kreisten endlos in meinem Kopf.

Zu den Fragen gesellten sich Schuldgefühle. Ich hatte nicht auf ihre Ratschläge gehört. Ich hatte das Haus verlassen, obwohl sie mir in Endlosschleife eingetrichtert hatten, dass ich dann nicht mehr sicher war. Was hatte mich geritten, es zu ignorieren? Todessehnsucht? Die zumindest würde sich nun früher oder später erfüllen.

Allerdings hätte ich damit auch zwei Dämonen auf dem Gewissen, die es nicht verdient hatten zu sterben. Zwei Dämonen, die immer auf mich aufgepasst hatten, die sich immer um mich gekümmert hatten. Seit dem Tag, an dem meine Mutter gestorben war, waren sie für mich da gewesen. Mom, zumindest dich werde ich vielleicht bald wiedersehen.

Ich schloss meine Augen. So absurd es war, ich wollte noch nicht sterben. Meine Mom musste warten. Es gab jemanden hier auf der Welt, den ich vorher noch einmal sehen wollte. Den ich liebte. Mehr als alles andere. Ich wollte mich bei ihm entschuldigen für meine idiotische Tat. Wollte Abbitte leisten, weil ich sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Aber vor allem wollte ich noch ein einziges Mal seine Nähe spüren, seine Lippen auf meinen, seine Arme, die mich festhielten, als ob sie mich nie wieder loslassen wollten. Ich wollte nur noch einmal eine Nacht lang behütet in seinen Armen verbringen. Ich wollte nur noch ein einziges Mal seinen Geruch in mich aufsaugen.

Ich schluckte trocken und drängte die Tränen zurück. Ich musste überleben. Ich musste stark sein. Ich konnte Schmerzen ertragen. Für ihn. Für sein Leben.

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Die Metalltür wurde geöffnet. Ein Dämon in Armeeklamotten betrat meine Zelle. »Steh auf! Er erwartet dich.«

Fast hätte ich hysterisch angefangen zu lachen. Wie stellte er sich das mit dem Aufstehen denn wohl vor? Als ich mich nicht rührte, kam er auf mich zu und zerrte mich an meinen Handfesseln auf die Füße. Erstaunlicherweise trugen sie mich. Er brachte mich in denselben Raum wie beim letzten Mal, in dem jedoch niemand war. Dann hängte er mich an den Haken und ging hinaus.

Die Angst und die Panik kamen so schnell, dass ich sie nicht zurückdrängen konnte. Es würde wieder losgehen. Was hatten sie heute mit mir vor? Meine Knie wurden weich, aber die Kette hielt mich erbarmungslos auf den Beinen. Schließlich ging die Tür erneut auf und Heron und sein Verbundener betraten den Raum.

Erneut setzte er sich in den Sessel. Dieses Mal hatte er keine Zigarre dabei, dafür aber eine Flasche mit irgendetwas Hochprozentigem, was er sich großzügig in ein mit Eiswürfeln gefülltes Glas einschenkte. Während er das Glas langsam in seiner Hand kreisen ließ, lehnte er sich genüsslich zurück.

»Guten Morgen, Kätzchen. Wollen wir doch mal gucken, ob wir dir heute ein paar Töne entlocken können. Das würde meinen Spaßfaktor deutlich erhöhen.«

Ich hatte meinen Vorsatz gehalten. Bis jetzt hatte ich tatsächlich nicht geschrien, aber ich hatte keine Ahnung, ob mir das auch weiterhin gelingen würde. Meine Stimme war nur noch ein Krächzen, als ich ihm antwortete. »Dann müsstest du dich vielleicht dazu herablassen, mir etwas Wasser zu geben, sonst wird das mit dem Schreien nie was.«

Er kniff die Augen zusammen, stand quälend langsam auf und kam bedrohlich auf mich zu. Mit schräg gelegtem Kopf starrte er mich endlose Sekunden lang an. Dann kippte er mir mit einem einzigen Schwung sein Getränk ins Gesicht. Die Eiswürfel zerschellten auf dem Boden, der Alkohol brannte wie Feuer in meinen Wunden.

»Entschuldige, Püppchen. Wie konnte ich nur so unhöflich sein.« Dann setzte er sich wieder hin und gab das Signal zu beginnen.

Dieses Mal kriegten sie mich zum Schreien. Und auch all die Male danach. Ich wusste nicht, woher meine Stimme noch so viel Kraft hatte, aber ich schrie. Ich schrie so laut und so viel, dass es in meinen eigenen Ohren schmerzte.

Ich schrie, bis ich keine Stimme mehr hatte und bis die erlösende Bewusstlosigkeit von mir Besitz ergriff und sie mich leblos in meine Zelle schleppten, nur, um mich Stunden später erneut zu holen.

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Ich wunderte mich, dass ich überhaupt noch aufwachte, aber wenn ich es tat, dachte ich an Caelum. Ich stellte mir vor, wie er mich wärmte, mich tröstend in seinen Armen wiegte, mir zärtlich meine Haare aus dem Gesicht strich. Ich stellte mir vor, wie er meine Wunden versorgte, wie seine sanften Hände behutsam alles Leid und allen Schmerz von mir nehmen würden. Ich stellte mir seine Nähe vor und die Geborgenheit, die sie stets in mir ausgelöst hatte. Einzig diese Gedanken und Erinnerungen waren es, die mich am Leben hielten.

Ich musste überleben. Nichts war wichtiger, als sein Leben zu retten. Allerdings war ich mir nicht sicher, wie lange ich das noch schaffen würde. Ich war mir nur einer Sache sicher: Allein würde ich hier nicht rauskommen. Was also, wenn mich hier niemand finden würde? Oder zumindest nicht rechtzeitig? Was, wenn sie bei dem Versuch, mich hier rauszuholen, sterben würden?

Schlimmer als diese Vorstellung war lediglich eine einzige Frage: Was, wenn er mich gar nicht suchen würde?

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Wieder ging die Tür auf. Ich schaffte es längst nicht mehr, mich aufzurichten, sondern blieb einfach auf dem Boden liegen. Schon lange konnte ich nicht mehr selbst gehen. Aber es hielt sie nicht davon ab, mich zu ihm zu tragen.

Ich hatte jegliches Gefühl für Raum und Zeit verloren, hatte in diesem Keller eigentlich nie eines gehabt. Aber auch ohne zu wissen, wie viele Tage er mich bereits in seiner Gewalt hatte, wusste ich sehr genau, dass es nicht mehr lange funktionieren würde. Herons spaßige Zeit war zu Ende, sein Spielzeug kaputt. Vielleicht hatte er auch endlich meine Schreie über.

Als sein gebundener Mensch endlich von mir abließ und die Bewusstlosigkeit bereits an mir zerrte, stand Heron auf und kam auf mich zugeschlendert. »Kätzchen, ich bin erstaunt. Du bist robuster, als ich gedacht habe. Hat selten jemand so lange durchgehalten wie du.«

Ich fand es nicht angemessen, jetzt ein Dankeschön für sein Lob kundzutun. Meine Stimme hätte es auch nicht mehr hergegeben. Seine hingegen hatte eine Menge mehr zu sagen. »Hat echt Spaß gemacht mit dir«, würdigte er mich auf gruselige Weise.

Mit schweren Schritten umrundete er mich und betrachtete zufrieden das Werk der letzten Tage. Schließlich blieb er neben mir stehen und hob seine Hand. Mit seinen dicken beringten Fingern fuhr er genüsslich über meine von offenen Fleischwunden überzogene Schulter und löste mit dieser Berührung mehr Schmerzen in mir aus als jede Verletzung, die er mir in den letzten Tagen zugefügt hatte.

»Ich mache dir ein Angebot, Püppchen. Komm an meine Seite. Und dann werde meine Gefährtin«, offenbarte er mir seine kranken Gedanken. »Du könntest leben.«

Er kam mir so nahe, dass ich seinen Atem an meiner Wange spürte. Er sog scharf die Luft ein, schien an mir zu riechen. Schließlich senkte er den Kopf ein wenig und leckte mit seiner Zunge das Blut von meiner entblößten und misshandelten Schulter. Ein erregtes Stöhnen kam über seine Lippen.

Ich hätte nicht gedacht, dass ich überhaupt noch zu irgendeiner Emotion fähig war, aber unfassbarer Ekel übermannte mich. Hätte ich irgendwann während der Zeit bei ihm etwas zu essen bekommen, hätte ich es jetzt erbrochen.

»Ich könnte dir noch eine Menge andere Dinge zeigen, bei denen wir Spaß haben könnten«, fügte er mit rauer Stimme hinzu. Dann unterstrich er ein letztes Mal sein lockendes Angebot. »Überleg es dir gut ... Du hast die Entscheidung in der Hand. Du kannst leben.«

Ich versuchte zu schlucken, aber meine Kehle war so ausgetrocknet und so wund vom Schreien, dass sie meinem Drang nicht folgte. Meine Entscheidung stand fest. Leben – ich musste für Caelum überleben – aber nicht an Herons Seite. Niemals.

Irgendwie schaffte ich es, die nächsten Worte flüsternd hervorzuwürgen. »Lieber sterbe ich.«

Er erstarrte für einen Moment, das war nicht die Antwort, die er erwartet hatte. Langsam schob er sich in mein Gesichtsfeld und sah mich voller Hass an. »Dann soll es so sein.«

Ein letztes Mal löschte er genüsslich die Glut seiner Zigarre an meinem Bauch und genoss mein Wimmern. Ohne den Blick von mir abzuwenden, wandte er sich an seinen Lakaien. »Wirf sie ins Loch.«

Ich sah ihn den Raum verlassen. Sein Gehilfe nahm mich vom Haken. Augenblicklich sackte ich schlaff zusammen und fiel in die Lache aus meinem eigenen Blut. Wortlos packte er mich an den Handfesseln und zog mich über den nackten Betonboden hinter sich her, einen endlos langen Gang hinunter. Falls an meiner rechten Seite noch irgendetwas an unverletzter Haut gewesen war, hatte er das mit dieser letzten Tat geändert.

Irgendwann war er am Ziel. Ich spürte, wie er mich hochhob, nur um mich im nächsten Moment direkt wieder fallen zu lassen. Dann donnerte eine Luke über mir zu und ich war allein. Meine Empfindungen reduzierten sich auf ein Minimum.

...

Alles verschlingende Dunkelheit

Allumfassender Schmerz

Kälte

...

Unsagbare Angst

...

Angst, versagt zu haben. Angst, nicht durchzuhalten. Angst, dass er mich nicht finden würde. Angst, die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Angst, sein Leben auf dem Gewissen zu haben. Angst, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Nackte Panik, dass er mich nicht suchen würde.

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Ich wusste nicht, wie viel Zeit in dem kalten dunklen Loch verging. Bewusstlosigkeit verschwamm mit wachen Momenten. Wann immer ich der Bewusstlosigkeit entkam, hatte ich die gleichen Empfindungen.

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Alles verschlingende Dunkelheit

Allumfassender Schmerz

Kälte

...

Unsagbare Angst

...

Irgendwann wachte ich auf und gab der Angst nach. Damit löste ich etwas aus, womit ich nicht gerechnet hatte – ich gab auf. Ich würde sterben.

In meiner Zelle hatten sie mir nach meinem Affront tatsächlich etwas Wasser hingestellt, hier gab es nichts. Es war vorbei. Die Gewissheit darum ließ mich überraschend ruhig werden.

Ich stellte ihn mir weiter vor. Wenn ich ihn nicht mehr wiedersehen würde, wollte ich wenigstens mit meinen Gedanken bei ihm sterben.

Starke Arme, sanfte Hände, Liebe, Küsse, Zärtlichkeiten – und der Geruch von Sandelholz.

...

Caelum, bitte verzeih mir.

Ich werde jetzt gehen.

...