Als ich so weit war, dass mich die Verzweiflung über die Tatsache, keine Antwort von Lua zu erhalten, fast mein Denkvermögen kostete, änderte sich plötzlich etwas. Es war nur ein verschwindend kleiner Unterschied, aber ich hatte so lange genau darauf gewartet, dass ich es sofort bemerkte.
Ich bekam eine Andeutung von Liebe zurück und einen Hauch von Traurigkeit. Vermutlich waren beide Gefühle bei Lua in Wirklichkeit so stark wie ein Tsunami, mir reichten allerdings die paar Tropfen. Ich hatte eine Spur. Und ich wusste nicht wieso, doch ich war mir sicher, dass sie in der Nähe war.
Eine Stunde später waren Kieron und ich in einem abgelegenen Waldstück gelandet. Hieran angrenzend stand eine alte, baufällige Scheune, die jedoch wundersamerweise von einem hohen Zaun umgeben war. Bingo.
Ich verfluchte meinen schlechten Ortungssinn. Wir hatten verdammte zehn Tage gebraucht, um sie zu finden, und waren an einem Ort im Nordosten von Oregon gelandet, der höchstens eineinhalb Tage von Sams Haus entfernt lag. Wir tauschten uns mit Blicken aus.
Kieron und ich waren inzwischen so lange aneinander gebunden, dass wir nur noch selten Worte brauchten, um uns zu verständigen. Wir wussten auch so genau, wie der andere tickte, aber dass ich heute einzig auf brachiale Gewalt aus war, hätte vermutlich jeder dahergelaufene Dackel bemerkt. Abgesehen davon hatten wir ohnehin keine Optionen. Wir waren lediglich zu zweit. Wie viele von Herons Gefolgsleuten uns da drinnen erwarteten, konnte keiner sagen.
Unter den besonders boshaften Dämonen genoss er großes Ansehen. Es war ein bisschen wie in der Highschool, wo die größten Idioten auch immer die größte Clique um sich scharten. Und Heron war ein sehr großer Idiot. Er war einer von denen, die nichts dagegen gehabt hätten, den Teufel persönlich aus dem Weg zu räumen. Einer von denen, die Lucifer zu nett fanden. Und es war tatsächlich ein Angriff auf meinen Vater gewesen, bei dem ich seine Gefährtin etwas unschön aus dem Weg geräumt hatte. Vermutlich würde es ihm gut gefallen, wenn er neben Lua jetzt auch mich in die Finger kriegen würde und Lucifer damit so ganz nebenbei ebenfalls noch eins auswischen konnte. Aber dazu würde ich es nicht kommen lassen.
Kieron und ich nickten uns kurz zu und stiegen aus dem Wagen. Es war so weit.
Möglichst unbemerkt reinkommen wäre gut, aber nicht notwendig, danach ging es bloß noch darum zu töten. Und das so schnell, dass keiner in der Zwischenzeit auf die Idee kommen könnte, Luas Leben endgültig zu beenden.
In geduckter Haltung schlichen wir uns näher an den Zaun heran. Sicherheitsvorkehrungen oder Kameras konnte ich nicht entdecken, was nicht hieß, dass sie keine hatten. Allerdings vermutete ich ohnehin, dass Herons eigentliches Quartier nicht in der Scheune war, sondern darunter. Alles andere wäre nicht sein Stil. Er war der Unterwelt gerne nah, und wenn er Lua schon nicht dorthin bringen konnte, dann wenigstens eine Etage tiefer.
Nach ein paar Metern entdeckten wir ein Tor im Zaun, welches nur mit einem alten Vorhängeschloss gesichert war. Kieron entfernte es mit einem einzigen Handgriff und öffnete das Tor ein wenig. Dann gingen wir auf das Gelände und näherten uns dem Eingang der Scheune.
Ich atmete tief durch und sah mich aufmerksam um. Das war mir hier alles viel zu einfach und es roch nicht bloß nach einer weiteren Falle, es stank zum Himmel. Heron hatte zu hundert Prozent darauf gebaut, dass ich Lua suchen würde. Er würde mich also erwarten. Seine Stärke war durchaus beachtlich, dennoch wusste er, dass ich deutlich stärker war als er, vor allem mit Kieron im Schlepptau. Was würde uns jetzt also in dieser Scheune erwarten? Was hatte er abgesehen von Luas Leben in der Hinterhand, um es uns in diesem Scheißkeller schwer zu machen oder uns sogar zu töten?
Ich spürte die Anwesenheit einer Menge Dämonen, aber es waren außer ihm keine Hohedämonen dabei. Und er war auch nicht der Typ, der ein Nest leiten würde. Es war nicht sein Ansinnen, andere auszubilden. Sein Ansinnen war, tumbe Lämmer um sich zu scharen, die ihn vergötterten. Obwohl ich mir sicher war, dass wir Lua in diesem Gebäude finden würden, war das Glühen in meiner Brust so schwach, dass ich es nur noch spürte, wenn ich mich fest darauf konzentrierte. Es blieb mir eindeutig keine Zeit für Grübeleien.
Leise öffneten wir das Scheunentor. Dahinter wartete eine Überraschung auf uns. So baufällig das Ding von außen war, so intakt war es innen. Eine intakte Festung. Dies war ganz offensichtlich kein Gebäude, in dem man freiwillig einen längeren Aufenthalt plante, dies war ein Gefängnis – und wie ich Heron kannte, eines mit Folterkammer. Ich hatte keine Ahnung, was in seiner Kindheit schiefgelaufen war, aber seine Bösartigkeit suchte selbst in der Hölle seinesgleichen. Was immer er für Ziele im Leben hatte – und die meisten seiner Ziele basierten auf purer Machtgier –, er ging über Leichen, um sie zu erreichen. Allerdings dauerte es ziemlich lange, bis diejenigen, die ihm im Weg standen, zu Leichen wurden, denn noch wichtiger als seine Ziele war ihm die perverse Befriedigung, anderen Wesen Schmerzen zuzufügen. Noch nie hatte ich gehört, dass er irgendein Wesen der Welten kurz und schmerzlos getötet hatte. Nur deshalb war Lua noch am Leben. Dennoch schaffte diese Tatsache es nicht auf die Liste der Dinge, für die ich dankbar war.
Ich war unter Hochspannung, meine Konzentration reichte bis in jede Faser meines Körpers und mein Wunsch zu töten war beachtlich.
Im Eingangsbereich war ein Aufenthaltsraum, es gab zwei Tische, auf denen sich leere Getränkedosen und Pizzaschachteln stapelten, ein Sofa und einen Fernseher, in dem irgendeine Sportveranstaltung lief. Dahinter öffnete sich ein Gang, der rechts und links von Zimmern gesäumt war. Am Ende des Ganges konnte man ein Treppenhaus ausmachen, welches nach unten führte.
Zu meiner Freude war der Eingangsbereich nicht leer. Vier Männer aus Herons Gefolge saßen an einem der Tische und spielten Karten, drei niedere Dämonen und ein Mensch. Dass die Kerle sich hier anscheinend noch einen schönen Abend machten, ließ meine Stimmung nicht unbedingt milder werden, und so bekamen die vier die volle Wucht meiner Wut zu spüren.
Ich schleuderte in dem Bruchteil einer Sekunde Feuerbälle auf die Männer ab, die nicht mal den Hauch einer Chance hatten, zu reagieren.
»Ups«, kam es trocken von Kieron. »Vielleicht sollte man seinen Sicherheitsleuten nicht unbedingt ein Kartenspiel schenken.«
Ich warf ihm einen gereizten Blick zu. »Ich denke nicht, dass das alles war, was er zu bieten hat.«
Kieron grinste. »Dann sollten wir uns wohl mal auf die Suche nach dem Rest machen.«
Ich nickte nur und horchte noch einmal in mich hinein. Lua war nach wie vor zu spüren. Das Glühen kam von unten. Ein Anflug von Angst kroch in mir hoch. Was, wenn wir hier auf den letzten Metern scheitern würden, wenn ich im letzten Moment versagte? Was, wenn da unten irgendetwas lauerte, was uns scheitern ließ? Mein Verstand schien jedoch ausnahmsweise ganz gut zu funktionieren und sagte mir eindeutig, dass ich Angst momentan extrem schlecht gebrauchen konnte. Also verdrängte ich sie so weit wie möglich in mein tiefstes Inneres und sperrte sie ein.
Auf dem Weg zum Treppenhaus passierten wir Zellen, Büros und einen Raum voller Computer. Sie alle waren leer. Verdammt, wo waren die ganzen Biester?
»Meinst du, die sind im Partykeller?«, zog Kieron flüsternd seine ganz eigenen Schlüsse.
Ich rollte die Augen. »Wenn ja, sollten wir dringend etwas Stimmung in den Laden bringen.«
»Wehe, die haben kein kaltes Bier.«
Ich vermutete, dass die Scheißkerle ganz andere Sachen hatten als Bier, aber mir blieb keine Zeit mehr, diesen Sachverhalt weiter mit Kieron zu besprechen, denn kaum waren wir am Fuß der Treppe angekommen, begann die Party. Und es waren hohe Gäste geladen. Heron hatte sich nicht mit Schwächlingen umgeben.
Zwei Giftdämonen schossen aus einer der Zellen, die den langen Gang vor uns säumten. Kieron begrüßte sie mit einer Feuerkugel, die den rechten der beiden in Fetzen riss. Den anderen ließ ich an mich herankommen, um ihn im letzten Moment mit einem Windstoß gegen die Wand krachen zu lassen. Sein heiseres Kreischen erstarb, als ich ihm mit einem schnellen Handgriff das Genick brach. Wütend funkelte ich Kieron an. »Lass das verdammte Feuer weg«, fauchte ich. »Wir kriegen sie hier nicht raus, wenn das ganze Ding in Flammen steht.«
Kieron zog einen Schmollmund, kam aber nicht mehr dazu, eine beleidigte Bemerkung zu machen. Aus den Zellen strömten dutzende von niederen Dämonen, und nur einen Wimpernschlag später schossen uns heiß lodernde Flammen entgegen. Scheiße.
»Wenn die dürfen, darf ich auch«, raunte Kieron mir zu. Während seine Feuerwand die ersten Reihen begleitet von ohrenbetäubenden Schreien aus dem Weg räumte, ballte ich die Hände zu Fäusten und sorgte dafür, dass sich der Boden unter den Angreifern mit Wasser füllte. Anschließend ließ ich einen Windstoß nach dem anderen auf sie zuschießen. Sie fanden auf dem nassen Boden keinen Halt mehr und meine Angriffe fegten sie gegen Wände und eiserne Türen. Knochen splitterten und brachen, Haut riss auf und Blut vermischte sich mit dem Wasser zu ihren Füßen.
Als die Reihen sich zu lichten begannen, spürte ich heiße Flammen in meinem Rücken. Sie konnten mir nichts anhaben, aber ich konnte sie auch schlecht ignorieren. Mit einem Blick über die Schulter erfasste ich, dass sie uns eingekesselt hatten. Verflucht, das könnte länger dauern.
Ich hatte weder Sorge um Kieron noch darum, dass mir auch nur einer dieser Dämonen ernsthaft etwas antun könnte. Kieron und ich waren eine Armee. Ich war nach meinem Vater der stärkste und mächtigste Dämon der gesamten Unterwelt und in einem Kampf hatte mir kaum einer etwas entgegenzusetzen. Meine Reflexe waren schneller als die einer Fliege und meine Kraft schier unermesslich.
Indem Lucifer und Kierons Mutter nach unserer Geburt Kierons Leben an meines gebunden hatten, hatten sie ihm die gleichen Kräfte übertragen wie mir. Nur so konnten sie gewährleisten, dass wir aufeinander achtgaben und uns nicht umbrachten. Nur so gelang es Kieron, mich bei Sinnen zu halten. Meine Sorge galt deshalb momentan nicht den Gegnern, die uns gegenüberstanden, sondern einzig und allein der Zeit.
Wir mussten sie schnell ausschalten, sonst würde Heron nicht zögern, mit Lua kurzen Prozess zu machen, während wir hier beschäftigt waren. Sein Plan war insoweit aufgegangen, dass er mich in den Wahnsinn getrieben und bis zur Raserei gebracht hatte. Was jedoch nicht hieß, dass ich ihn seinen Plan vollenden lassen wollte.
Ich überließ Kieron diejenigen, die uns im Weg standen, und wandte mich denen in unserem Rücken zu. Wütend riss ich die Arme hoch, um eine Wand aus Wasser zu erzeugen, die ich zwei Sekunden später auf sie niederschmetterte. Damit hatte ich zumindest das Problem mit dem Feuer gelöst. Von nun an kämpfte ich mit Wind und mit meinen bloßen Händen. Einer nach dem anderen fand seinen Tod, indem er entweder zerschmettert wurde oder ein paar Gliedmaßen verlor.
Schwer atmend blickte ich mich wenige Minuten später um, doch es tauchten keine weiteren Gegner mehr auf und auch hinter mir war der Kampflärm verstummt. Langsam drehte ich mich zu Kieron um – und schluckte. Vor uns standen in acht Meter Entfernung fünf Giftdämonen. Die Biester waren eigentlich ziemlich selten, sie hatten bei der Evolution im falschen Moment ›hier‹ geschrien und ein kleines Fortpflanzungsproblem abbekommen. Aber Heron hatte offensichtlich recht gute Zuchterfolge. Kieron warf mir einen kurzen fragenden Blick zu. Ich nickte.
Unsere Feuerkugeln durchschlugen ihre Körper in dem Bruchteil einer Sekunde und ein lautes Zischen war alles, was wir noch von ihnen hörten. Dann war Ruhe. Wir löschten das Feuer, indem wir für eine Weile eine dämonische Sprinkleranlage installierten, und sprinteten los.
Der Gang war etwa zwanzig Meter lang und zu beiden Seiten von Zellen gesäumt. Lua war in keiner davon. Am Ende angekommen gabelte er sich und wir teilten uns auf. Wachsam durchstreifte ich weitere Gänge, das ganze Ding hier war ein beschissenes Labyrinth. Zum Glück jedoch nur ein kleines. Und zum Glück eines, in dem sich mir keine weiteren Dämonen entgegenstellten.
Am Ende des letzten Ganges kam ich an einem Raum vorbei, der das kalte Grauen in mir hervorrief. Er roch nach Blut und nach Tod. Kurz sah ich mich um. Es war eine schlichte Betonzelle, Neonlicht schien von der Decke. Es gab einen Stuhl, einen kleinen Tisch und einen dicken Haken, der an einer Kette von der Decke hing. Unter diesem Haken war ein riesiger dunkler, getrockneter Fleck. Blut.
Wie viel davon stammte von ihr? Meine Angst verließ spontan ihr kleines Gefängnis und meldete sich mit aller Kraft zurück. Und so nahm ich das Gruseligste in dem Raum erst einen Wimpernschlag später wahr. In der rechten Ecke stand ein gemütlicher Ohrensessel mit einem Bezug aus schwarzem Samt. Daneben ein winziger Beistelltisch mit einem leeren Glas und einem Aschenbecher darauf, gefüllt mit stinkenden Zigarrenstummeln. Saß er hier und schaute seinen Lakaien beim Foltern zu? Gab er von hier aus Anweisungen, was sie als Nächstes tun sollten? Legte er selbst Hand an? Allein die Vorstellung, wie er Lua auch nur berührte, ließ mich fast durchdrehen. Nach allem, was ich in meinem Leben bereits gesehen hatte, musste ich mich hier fast übergeben. Nur mit größter Mühe unterdrückte ich meine Übelkeit und lief weiter. Der Hass in mir hatte astronomische Ausmaße angenommen.
Noch schlimmer als dieser letzte Raum war allein die Tatsache, dass ich Lua in keiner der Zellen gefunden hatte. Wo hatte er sie versteckt? Ich zermarterte mir das Hirn und hoffte darauf, dass Kieron mehr Erfolg hatte. Doch als er kurz darauf bei mir ankam, schüttelte er bedauernd den Kopf.
Wo konnten weitere Zellen sein? War sie gar nicht in dem Gebäude untergebracht? Wo hatte Heron selbst sich verkrochen? Denk nach, Caelum, denk nach, denk nach!
Doch das Denken konnte ich mir sparen. Etwa sechs Meter vor uns öffnete sich aus dem Nichts eine Tür in der Wand, die wir vorher nicht bemerkt hatten, weil sie optisch völlig mit der kahlen Betonwand verschmolzen war. Mit einem überlegenen Grinsen im Gesicht trat Heron langsam aus der Tür heraus und schaute uns provozierend an. Meine Hände zuckten bereits, aber ich brauchte ihn noch. Für genau eine Information. Danach würde er zu Asche zerfallen.
»Wo ist sie?«, grollte ich.
Sein Grinsen wurde breiter, widerwärtiger. »Tot.«
Ich wusste, dass er log, ein sehr schwaches Glühen in meiner Brust verriet mir das Gegenteil. Aber das brauchte er nicht zu wissen.
Kieron neben mir war in der gleichen Alarmbereitschaft wie ich, jederzeit bereit, Herons Leben zu beenden. Im schlimmsten Fall würden wir Lua auch ohne seine Auskunft finden.
»Okay, dann frage ich mal anders. Wo ist ihre Leiche?« Es gelang mir nur schwer, meine Stimme unter Kontrolle zu behalten.
Heron lachte laut auf. »Ach, Kleiner. Du bist zu spät, finde dich damit ab. Du hast verschissene zehn Tage gebraucht, so lange hält es keiner bei mir aus. Schon gar nicht so ein zerbrechliches schwaches Menschlein.« Er fuhr sich mit der Hand durch seine Haare. »Obwohl ich zugeben muss, dass sie robuster war, als ich dachte. Wir hatten eine Menge Spaß zusammen.«
Kieron warf mir einen warnenden Blick zu. Er merkte, dass ich kurz davor war, völlig die Kontrolle zu verlieren. Also übernahm er für den Moment. »Tja, ist ein echtes Überraschungspaket, die Kleine«, säuselte er mit liebenswürdiger Stimme. »Nichtsdestotrotz hätten wir jetzt gerne ihre Leiche. Wenn du also so freundlich wärst, uns ihren Aufenthaltsort zu nennen ...«
Heron funkelte uns wütend an, er fühlte sich offenbar leicht verarscht. In diesem Funkeln war die ganze abgrundtiefe Bösartigkeit zu sehen, die ihn ausmachte. Mit einem befriedigten, hässlichen Lächeln holte er zu seinem vermeintlich letzten Schlag aus. »Ich habe sie vor vier Tagen ins Loch werfen lassen. Ich nehme an, du hast davon gehört?«
Das hatte ich. Allerdings hatte ich gehofft, dass es nur ein Gerücht gewesen war. Die Tatsache, dass es stimmte, dass er Menschen und Dämonen lebendig begrub, drehte mir erneut den Magen um. Und die Tatsache, dass er genau das mit Lua getan hatte, gab mir schlicht und ergreifend den Rest. Ich konnte nicht mehr sprechen, nur noch knurren. Gerade kam das, was noch von mir übrig war, einem wilden Tier sehr nahe.
»Wo?«, brachte ich mühsam hervor.
Heron machte eine einladende Geste in den Gang hinter sich. »Zwanzig Meter den Gang runter. Ist nicht zu verfehlen«, gab er bereitwillig Auskunft. Dann legte er den Kopf schief und stierte uns an, wobei ich einen Anflug von Wahnsinn in seinen Augen erkannte. »Allerdings müsstet ihr dazu erst mal an mir vorbei.«
Das durfte nicht wahr sein! Das Arschloch wollte kämpfen? Seine Vorfreude auf einen langen, dreckigen Kampf stand ihm ins Gesicht geschrieben. Aber ich war eindeutig nicht hier, um ihm eine Freude zu bereiten.
Sein Plan hatte also tatsächlich einen zweiten Teil, nämlich den, nach Lua auch mich zu töten. Da ihm allerdings bislang der erste Teil nicht gelungen war, würde ich ihm den Sieg im zweiten Teil ebenfalls nicht gönnen.
Normalerweise hatte ich nicht viel Freude am Töten. Ich tat es, sogar relativ oft, aber es war eher eine schlichte Notwendigkeit, mehr nicht. Es bereitete mir kein Vergnügen. Das hier sah anders aus. Noch nie in meinem Leben hatte ich eine so große Lust verspürt, jemanden leiden zu lassen. Ich hätte ihn gerne stunden-, tage- und wochenlang gequält. Ich hätte mich gerne in seinen Sessel gesetzt und beobachtet, wie er langsam, sehr langsam sein Leben aushauchte. Ich hätte ihn gerne die nächsten hundert Jahre im Höllenfeuer schmoren lassen und ihn dort jeden Tag besucht. Aber das war mir leider nicht vergönnt. Es gab definitiv etwas Wichtigeres.
In dem Moment, in dem ich das Arschloch mit einer Feuerkugel vernichten wollte, spürte ich, wie sich ein Mantel aus Kälte um mich legte. Heron beherrschte das Wasser und er war dabei, Kieron und mich in einer zentimeterdicken Eisschicht einzuwickeln. Echt jetzt? Ich hatte mich vorhin geirrt, er war kein Idiot. Er war eine komplett hohle Dumpfbacke. Sein Eis spielte uns in die Hände, und je mehr es davon gab, umso besser. Aber sollte er ruhig noch eine Weile glauben, dass er das hier gewinnen konnte.
Ich wandte mich zu Kieron und deutete ein Kopfschütteln an. Unser Showdown würde noch einen winzigen Augenblick warten müssen. Heron kam mit langsamen Schritten auf uns zu und grinste überheblich. »Ach je. Wer hätte das gedacht? Zwei kleine verwöhnte Bengel, die ihren Willen nicht kriegen.« Ich grollte. So langsam ging mir das echt auf den Puffer, dass alle Welt meinte, uns in die Kategorie ›Kind‹ einordnen zu müssen. »Möchtest du vielleicht deinen Papa rufen?«
»Nope. Aber es könnte sein, dass du gleich nach deiner Mama schreist.«
Die Eisschicht wurde dicker. »Die habe ich in der Tat lange nicht gesehen, könnte ein rührendes Familienfest werden.« Inzwischen stand er nur noch einen Meter von uns entfernt. »Vielleicht lade ich unseren Freund Gorzata noch dazu ein«, schlug er süffisant vor. »Als Dankeschön für den netten Tipp.« Er beugte sich zu mir vor. »Der hätte richtig Grund zum Feiern, schließlich habe ich ihm deutlich mehr Zeit verschafft, als er erbeten hat.«
Stopp, das reichte. Ich lächelte das zauberhafteste Lächeln, das der Dreckskerl jemals gesehen hatte. »Aber keine Party ohne Eis.«
Schneller, als er mit der Wimper zucken konnte, hatten Kieron und ich unser kaltes Gefängnis gesprengt. Tausende von Eissplittern durchschlugen Herons Körper und machten aus ihm einen stinkenden Schweizer Käse. Er riss die Augen auf und starrte auf seinen durchlöcherten Rumpf. Röchelnd fiel er auf die Knie. Ich umschloss seinen Hals mit meinen Händen und sah angewidert auf ihn hinab. »Besser jung und schlau als alt und tot«, gab ich ihm meinen Abschiedsgruß mit auf den Weg. Von ihm blieb nichts weiter als ein Häufchen Asche übrig.
Ich sprintete los. Hinter mir hörte ich lautes Knacken und Geräusche, die wie das Bersten von Holz klangen. Könnte sein, dass die Scheune mit Herons Ableben in den Selbstzerstörungsmechanismus geswitcht hatte, aber das Problem musste warten.
Am Ende des Ganges war, wie versprochen, eine Luke im Boden, etwa eineinhalb mal zwei Meter groß. Sie war nicht einmal verschlossen, lediglich mit einem kleinen Riegel gesichert. Wer da drin lag, kam von allein ohnehin nicht mehr heraus.
Ich atmete tief durch und versuchte meine Panik und mein Kopfkino in den Griff zu kriegen und mich für das zu wappnen, was mich jetzt erwartete. Langsam ging ich in die Hocke, zog den Riegel zurück und öffnete die Luke.
Das Erste, was ich wahrnahm, war ein bestialischer Gestank nach Blut, Erbrochenem und Verwesung. Dann entdeckte ich sie.
In diesem Moment zerbrach etwas in mir, von dem ich nicht wusste, ob es jemals wieder zusammenwachsen würde. Hätte ich nicht gespürt, dass da noch etwas Leben in ihr war, hätte ich es nicht für möglich gehalten.
Lua lag auf kaltem, festgestampftem Lehmboden, zusammengekauert wie ein Baby im Schlaf, die Hände aneinandergefesselt. Sie war beinahe nackt, nur mit ihrem Slip und ein paar letzten Fetzen der Brustbandage bekleidet, die sie immer beim Training getragen hatte. Es schien, als wäre es Jahre her. Sie war abgemagert bis auf die Knochen, dreckig, verfilzt und verwundet – bis zur Unkenntlichkeit verwundet.
Ihr Körper war so grausam zugerichtet, dass ich keine einzelnen Wunden mehr ausmachen konnte. Jeder Quadratzentimeter ihrer Haut war mit Blutergüssen, Brandwunden, Schürf- und Schnittwunden bedeckt, die meisten davon noch offen, einige bereits entzündet. Ich sank auf die Knie.
Ich wollte sie hier rausholen, sie in meinen Armen wiegen, alles wiedergutmachen. Aber ich wusste tief in meinem Inneren, dass nichts und niemand das hier jemals wiedergutmachen konnte. Die Schuld brannte sich in meine Eingeweide und fraß mich von innen auf. Ich ließ es nur allzu gerne zu.
Langsam stieg ich in die etwa einen Meter tiefe Grube und kniete mich neben sie. Ich wusste kaum, wie ich sie hochheben sollte. Egal, wo ich sie anfassen würde, würde ich ihr Schmerzen zufügen. Ich konnte bloß hoffen, dass sie weit genug weg war, um es nicht mehr zu spüren. Vorsichtig schob ich meine Hände unter ihren misshandelten Körper und zog sie behutsam in meine Arme und auf meinen Schoß. Ich ging davon aus, dass sie mich nicht hören konnte, aber ich musste es wenigstens versuchen. Auch wenn ich wusste, dass nichts, was ich sagte, Trost spenden würde.
»Würmchen, ich bin hier. Ich hole dich hier raus. Wir schaffen das, versprochen, wir kriegen das irgendwie wieder hin. Du darfst mich für den Rest deines Lebens hassen, aber du musst leben. Bitte, halte durch. Bitte!« Meine Stimme war lediglich ein Flüstern, ein leises, eindringliches Flehen. »Es tut mir so leid, Würmchen. Es tut mir so leid.«
Lua zeigte nicht den Hauch einer Reaktion. Ich kniete mit ihr in meinen Armen auf dem Boden und die Zeit stand still.