Irgendwann spürte ich Kierons Hand auf meiner Schulter. Er sprach leise, aber dringlich. »Hey, wir müssen hier raus.«
Ich erwachte aus meiner Starre. Er hatte recht. Wenn ich auch nur die geringste Chance haben wollte, Lua zu retten, musste ich sie so schnell wie möglich von hier wegbringen. Wie ich das allerdings schaffen sollte, ohne komplett durchzudrehen, wusste ich nicht. Langsam stand ich auf und drehte mich mit ihr auf meinen Armen zu Kieron um. Er war angespannt. Ich merkte, dass auch er Angst vor dem hatte, was er zu sehen bekam. Er hatte Lua unglaublich gern. Und der Anblick, der sich ihm nun bot, beruhigte ihn nicht im Geringsten.
Nachdem er Luas Körper gescannt hatte, schloss er für eine Sekunde die Augen, dann schaute er mich ernst an. »Sie wird es schaffen, Caelum. Sie wird nicht sterben«, versicherte er mir leise. »Nicht jetzt, wo du wieder bei ihr bist.« Sein Tonfall wurde drängender. »Du drehst hier nicht durch, verstanden? Sie braucht dich.« Noch einmal blickte er mich finster entschlossen an. »Ich bringe euch jetzt hier raus.«
Wir kamen genau bis zur Treppe. Entweder stimmte die These mit dem Selbstzerstörungsmechanismus oder wir hatten in unserem ersten Kampf ein paar Flammen beim Löschen vergessen. Doch nicht nur die schlugen uns jetzt entgegen, sondern auch einzelne Trümmerteile, in die sich die Scheune über uns aufzulösen schien. Das Feuer konnte uns selbst nichts anhaben, für Lua hingegen war es absolut tödlich. Sie würde nicht eine einzige weitere Wunde überleben.
Kieron konzentrierte sich. Bei der verdammten Hitze war nicht mehr besonders viel Feuchtigkeit in der Luft, die wir ihr entziehen konnten, aber es reichte, um zumindest die Flammen auf der Treppe zu löschen. Mit schnellen Handbewegungen räumte er die Trümmer von den Stufen und legte uns den Weg frei. Als wir das Ende der Treppe erreicht hatten, erwartete uns ein Inferno.
Die Scheune brannte lichterloh. Verkohlte Holzbalken und Dachziegel stürzten zu Boden wie ein Hagelschauer und unerträgliche Hitze schlug uns entgegen. Nie im Leben würde ich Lua auf normalem Weg durch diese Feuerhölle bekommen. Ich beugte meinen Oberkörper schützend über sie und sah mich nach einem Ausweg um, doch das Feuer war überall, und auch wenn es uns nichts anhaben konnte, erschwerte uns der Rauch so langsam, aber sicher das Atmen. Wir mussten uns verdammt noch mal beeilen, sonst würde Lua hier und jetzt in meinen Armen ersticken.
Ein dumpfer Schmerz schoss urplötzlich durch meine Wirbelsäule, als ein herabfallender Balken meinen Rücken traf. Fluchend schaute ich nach oben. Wie lange würde dieses Dach noch halten, bevor es uns endgültig unter sich begrub? Scheiße, das Dach. Da hätte ich auch gleich drauf kommen können. Ich sah Kieron beschwörend an. »Wir sollten den Ausgang Richtung Himmel nehmen.«
Er hob die Augenbrauen und grinste, was in dieser Umgebung irgendwie unpassend war. »Warte hier«, wies er mich knapp an. »Ich halte euch die Tür auf.« Dann wechselte er in seine wahre Gestalt und ich errichtete einen Schirm über Lua und mir, womit wir nicht bloß vor den herunterstürzenden Scheunenresten geschützt waren, sondern auch vor der sengenden Hitze. Dennoch sah ich sorgenvoll nach oben. Kieron schraubte sich bereits in die Höhe und streckte seine Arme Richtung Dach. Mit einem Windstoß, der einem Orkan glich, sprengte er es auf. Für einen kurzen Moment offenbarte sich mir ein Stück Himmel, dann prasselten sämtliche Einzelteile dieses Gebäudes auf uns nieder und begruben uns unter einer Decke aus verkohlten Resten.
Als die Einschläge endlich aufhörten, nahm ich ein kratzendes Geräusch wahr, und nur eine Sekunde später drang Licht in unsere Höhle. Kieron fegte die Trümmer von meinem Schirm und machte uns erneut den Weg frei. Mit einem letzten Blick nach oben löste ich das schützende Dach über Lua und mir auf. Kieron zwinkerte mir kurz zu, dann erhob er sich erneut in die Luft und hinterließ einen feinen Nieselregen, der sich über uns ergoss. Fast schlich sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Um uns herum wütete das Feuer und wir standen in einer Säule aus Wasser. Ich ließ meine Schwingen erscheinen, umfasste Lua fest mit meinen Armen und erhob mich in die Luft.
Am Auto angelangt schnitt Kieron Luas Handfesseln durch und öffnete mir die Tür zur Rückbank, auf der ich mich mit ihr im Arm niederließ. So vorsichtig wie nur irgend möglich hielt ich sie auf meinem Schoß fest. Kieron holte eine Decke aus dem Kofferraum und legte sie über sie. Dankbar atmete ich auf.
Ich wusste, dass all die Wunden noch da waren, aber sie nicht mehr direkt vor Augen zu haben, ließ mich klarer denken. Abgesehen davon würde die Decke sie hoffentlich ein wenig wärmen. Lua war nicht nur durchnässt, es war auch verdammt kalt gewesen in dem Loch. Dieses Mädchen fror schon in einer gut geheizten Wohnung, ich wollte also nicht eine Sekunde darüber nachdenken, was sie bei der Kälte dort empfunden hatte.
Ich wollte gar nicht über irgendetwas nachdenken, was ihr an diesem Ort widerfahren war. Ich hatte die böse Ahnung, dass es mich früher oder später ohnehin mit voller Wucht einholen würde.
Kieron setzte sich ans Steuer und fuhr los. Wir beide wollten so schnell wie möglich Abstand zu der Scheune gewinnen. Nicht bloß wegen dem, was wir dort vorgefunden hatten und was sich für alle Zukunft in unsere Erinnerung gebrannt hatte, sondern auch deshalb, weil vielleicht nicht Herons gesamtes Gefolge dort anwesend gewesen war. Falls es noch eine übrig gebliebene Anhängerschaft gab, würden sie Jagd auf uns machen, sobald sie von dem erfahren würden, was dort passiert war. Und das Letzte, was wir im Moment gebrauchen konnten, war eine Hetzjagd blutrünstiger und rachsüchtiger Dämonen.
Unser Ziel war Sams Refugium. Es gab keinen anderen Ort, an dem wir sicher waren, an dem vor allem Lua sicher war und an dem sie wenigstens eine geringfügige Chance hatte zu überleben. Kieron fuhr mit halsbrecherischer Geschwindigkeit. Wir kamen schnell und ohne Zwischenfälle voran. Dennoch war uns beiden klar, dass es zu lange dauern würde. Sams Haus war selbst bei dem Tempo noch mindestens eine Tagesreise entfernt, und es war nicht zu erwarten, dass wir das Tempo auf Dauer halten konnten. So lange würde Lua nicht durchhalten. Nicht in ihrem Zustand.
Ich versuchte alles, um genau diesen Zustand zumindest ein winziges bisschen zu verbessern. Aber was konnte ich hier schon tun? Ich hielt sie so behutsam wie möglich in meinen Armen, flüsterte ihr Worte der Zuversicht und der Hoffnung zu und versuchte sie zu wärmen. Genau Letzteres scheiterte jedoch immer mehr, je länger wir unterwegs waren. Nach etwa vier Stunden Fahrt hielt ich es nicht mehr aus.
»Kieron, wir müssen eine Pause machen. Sie zittert am ganzen Körper, ihre Wunden müssen versorgt werden und ich muss sie waschen. Wenn wir nicht bald anhalten, dann ...«
Kieron wusste, was ich meinte, ohne dass ich den Satz zu Ende gesprochen hatte. »Beim nächsten passenden Motel halte ich an.«
»Danke«, murmelte ich leise. Bis wir in einem solchen Motel angekommen waren, versuchte ich weiter, Lua zum Durchhalten zu überreden.
Nach einer halben Stunde hatten wir den richtigen Ort gefunden. Ein leicht schäbiges, aber hoffentlich halbwegs sauberes Motel mitten im Nirgendwo. Nur gesäumt von einer Tankstelle, einem billigen Burgerrestaurant und, dem Himmel sei Dank, einer Apotheke. Manchmal führte die Welt mich doch in Versuchung, selbst als Dämon an einen gütigen Gott zu glauben.
Wir checkten unter Aufbringung aller Manipulationsfähigkeiten in zwei Zimmer ein, mit der Erklärung, dass meine Freundin während der Fahrt Fieber bekommen hatte, vermutlich eine fiese Grippe, sie deshalb schlafen würde und wir sie einfach nicht wecken mochten. Wir brauchten jetzt dringend einen Zwischenstopp, damit sie sich ausruhen konnte. Noch nie hatte ich mir so sehr gewünscht, dass eine Lüge wahr werden würde.
Kieron begleitete mich auf das Zimmer, schloss mir die Tür auf und legte die zwei Rucksäcke ab, die ich für Lua und mich gepackt hatte. Nachdem ich ihm versichert hatte, dass ich den Rest allein schaffte, machte er sich auf den Weg.
Wir beide hatten in den vielen gemeinsamen Jahren eine Menge Codes entwickelt. Unter anderem den, der bestimmte, was ich alles aus einer Apotheke benötigte, um verletzte Freunde zu behandeln. Heute musste ich den Code nicht aussprechen. Ihm war auch so klar, dass er das ganz, ganz große Paket besorgen musste.
Allerdings gab ich ihm noch mit auf den Weg, dass er nach einer Trinkflasche oder Ähnlichem suchen sollte. Lua hatte mit absoluter Sicherheit seit Tagen nichts mehr zu trinken gekriegt und ich hatte nur eine vage Vorstellung davon, wie ich ohne die Möglichkeit einer Infusion Flüssigkeit in sie hineinbekommen sollte. Ein einfaches Glas schied jedenfalls aus.
Während Kieron die Tür hinter uns verschloss, ging ich mit Lua auf dem Arm ins Bad. Es war zum Glück wirklich sauber. So vorsichtig wie möglich legte ich sie in der Duschwanne ab. Egal wie behutsam ich vorging, ich hatte das Gefühl, sie mit jeder Bewegung, mit jeder Berührung weiter zu verletzen, ihr noch mehr Schmerzen zuzufügen, als sie ohnehin hatte. Aber nichts gab es Dringenderes, als sie zu waschen.
Der furchtbare Geruch, der mir in dem Loch entgegengeflutet war, und ihr blutiges und verdrecktes Aussehen waren dafür nicht einmal der Hauptgrund. Viel entscheidender war, dass ich sie mit all dem Dreck auf ihrem Körper nicht ansatzweise hätte medizinisch versorgen können. Also schnitt ich die verbleibenden Stofffetzen von ihrem Körper, holte einen sauberen Waschlappen aus der Verpackung und stellte das warme Wasser der Dusche an.
Stück für Stück arbeitete ich mich voran, Wunde für Wunde tupfte ich sorgsam sauber, Schicht für Schicht befreite ich sie von den Spuren der vergangenen Tage. Nach einer Weile bemerkte ich, dass ich sie nicht bloß mit dem warmen Wasser der Dusche wusch, sondern auch mit meinen Tränen. Tränen der Scham und der Schuld. Ich war es gewesen, der sie in diesen Zustand getrieben hatte. Ich war es, der die Schuld dafür trug, dass sie dem Tod näher war als dem Leben.
Ich ließ meinen Tränen freien Lauf. Ich weinte zum ersten Mal seit über vierhundert Jahren. Ich weinte meine Tränen für sie, weil sie sie selbst gerade nicht vergießen konnte.
Und so versuchte ich mit jeder Wunde, die ich säuberte, ein Stück des Leids wegzuwaschen, das ihr widerfahren war, mit dem Dreck ihr Martyrium auszulöschen, obwohl mir völlig klar war, dass mir nichts davon gelingen würde.