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33. Lua

Portugal. Wir waren vor zwei Stunden in Lissabon gelandet und fuhren seitdem am Atlantik entlang Richtung Süden. Ich nahm die Landschaft um mich herum nur am Rande wahr, obwohl sie definitiv mehr verdient hatte. Dutzende von kleinen ursprünglichen Dörfern, von runden weiß verputzten Windmühlen, von Storchennestern auf Strommasten. Hunderte von kurzen Ausblicken auf den Atlantik, von kleinen Straßencafés, von alten Menschen auf einer Bank vor ihrem Haus. Ich vermutete, dass dieses Land es wirklich wert war, geliebt zu werden, aber im Moment war ich zu erschöpft, um ihm meine Aufmerksamkeit zu schenken. Wir waren seit mehr als vierundzwanzig Stunden unterwegs und ich hatte in dieser Zeit nicht nur viel geschlafen, sondern die restliche Zeit auch mit viel Grübeleien verbracht.

Es hatte mir in der Seele wehgetan, von Sam und Stella aufzubrechen. Sie hatten sich so unendlich viel Mühe gegeben, mir zu meinen alten Kräften zu verhelfen, aber bereits zum zweiten Mal war es ihnen nicht gelungen. Jedenfalls nicht vollständig. Und es hatte auch dieses Mal nicht an ihnen gelegen. Dennoch war ich Caelum sehr dankbar, dass ich mich ab jetzt an einem anderen Ort erholen konnte. Einem, der keine Erinnerungen mit sich brachte. Und auch, wenn er mir außer dem Land bisher nichts Genaueres verraten hatte, ahnte ich, dass mir dieser Ort gefallen würde.

Was mir hingegen nicht so gut gefiel, war die Tatsache, dass Kieron zu Lucifer aufgebrochen war, um ihn um ein Treffen zu bitten. Ich vertraute Caelum, was den Wunsch seines Vaters anging, die Welt der Menschen retten zu wollen. Dennoch war ich alles andere als entspannt im Hinblick auf die Aussicht, dem Teufel persönlich zu begegnen. Zu meinem großen Glück war ich jedoch inzwischen zu erschöpft, um mir deswegen weiter Sorgen zu machen.

Gegen halb sieben erreichten wir nach einer sehr kurvenreichen Fahrt einen Parkplatz und stiegen aus. Caelum lächelte mich aufmunternd an, dann nahmen wir unsere wenigen Sachen an uns, zu denen inzwischen auch ein Topf gehörte, aus dem ein sehr verführerischer Duft strömte. Wir hatten vor fünf Minuten noch einen kurzen Halt bei einem winzigen Restaurant mitten im Nirgendwo gemacht. Die Besitzer, Ana und Rui, hatten Caelum und mich sehr herzlich begrüßt, und ich war mir sicher, dass Laoghaire nicht die einzige ältere Dame war, die eine Schwäche für meinen Dämon hatte. Ich hingegen hatte ein paar sehr sorgenvolle Blicke geerntet und die Vermutung, dass Ana spontan den gleichen Vorsatz gefasst hatte wie die resolute Pensionsbesitzerin in Ljubljana – mich zu mästen.

Obwohl wir seit mehreren Kilometern ausschließlich bergauf gefahren waren, mussten wir irgendwo direkt am Meer sein. Ich hörte die Wellen rauschen und roch die salzige Luft, konnte es allerdings bis jetzt in der Dunkelheit nicht ausmachen. Es gab eine einzige von Häusern gesäumte enge Gasse, die steil nach unten führte. Vor einem zweistöckigen weißen Haus mit blau umrandeten Fenstern blieb Caelum schließlich stehen.

Er setzte das Gepäck ab und zog mich in seine Arme. »Wir sind da. Da oben in dem Haus wartet ein Bett auf dich.«

Das war, neben dem Duft aus dem Kochtopf, die schönste Botschaft des Tages. Nachdem wir die enge steinerne Treppe in den ersten Stock gestiegen waren, öffnete Caelum die Wohnungstür.

Auf den ersten Blick schossen mir genau drei Worte durch den Kopf: klein, puristisch, wunderschön. Wie konnte man nur so viel Gespür für schöne Orte haben? Wir befanden uns in einem kleinen Eingangsbereich mit einem bunten Flickenteppich auf dem Boden, dahinter erstreckte sich ein einzelner Raum.

Alles in diesem Raum bestand aus weiß verputzten Mauern. Rechts die kleine Küchenzeile mit uralten Holztüren, die aus Strandgut gezimmert schienen, ebenso wie die Sitzecke mit den gemütlichen dicken Kissen und dem riesigen Fell davor auf der anderen Seite des Raumes. An der gegenüberliegenden Außenwand führte eine schmale Steintreppe hinauf zu einem hölzernen Zwischenboden. Links an der Ecke zum Sitzbereich gab es einen Ofen. Mehr nicht. Doch. Mir gegenüber war ein riesiges bodentiefes Fenster. Ich ging darauf zu, öffnete es und landete auf einer Dachterrasse.

Der Geruch von Salz und Meer wehte mir erneut entgegen. Ich sog ihn in mich auf und sah mich um. Unter mir lag eine vom Mond beschienene Bucht, die an beiden Seiten von einer Steilküste gesäumt war, und vor mir öffnete sich riesig und endlos der Atlantik. Große Wellen brachen sich und rollten rauschend an dem hellen Sandstrand aus. Kalter Wind traf mich im Gesicht und zerrte an meinen Haaren. Raue, wilde Natur. Wasser und Wind. Elemente in ihrer ursprünglichen Form. Elemente, die nicht zum Kämpfen benutzt wurden, sondern stattdessen die Schönheit der Erde widerspiegelten. Und Sterne. Millionen von Sternen.

Ich nahm die Schönheit in mir auf und spürte die salzigen Tränen auf meinen Wangen, bevor ich auch nur darüber nachdenken konnte, sie aufzuhalten.

Caelum kam heraus und schlang die Arme von hinten um mich. »Gefällt es dir?«

»Das fragst du nicht wirklich, oder?« Ich spürte, wie er sein Kinn auf meinem Kopf ablegte. »Es ist überwältigend. Und wunderschön.«

Eine Weile schwiegen wir eng umschlungen und schauten gemeinsam auf das wilde Meer. In mir tobte ein Chaos aus völlig widersprüchlichen Gefühlen. Es gaben sich Ehrfurcht vor der atemberaubenden Naturkulisse, Trauer über den Verlust meiner Mom, an die ich bei den vielen Sternen denken musste, Angst davor, welche Nachrichten Kieron mitbringen würde, und Wut über die Prophezeiung die Hand. All das wurde untermalt von der Verzweiflung und Hilflosigkeit, keines dieser Ereignisse beeinflussen zu können. Caelum hielt mich fest und wartete, bis seine Nähe mir ein wenig Ruhe geschenkt hatte. Dann drehte er mich in seinen Armen um und betrachtete mich. Zärtlich wischte er mir die Tränen aus dem Gesicht.

»Caelum, was ist in dem Topf?«

Er lachte leise auf und strahlte mich an. »Sag nicht, du hast Hunger?«

Ich biss mir etwas verlegen auf die Unterlippe. »Nur ein bisschen, aber es hat furchtbar gut gerochen.«

Daraufhin zog er mich erneut in seine Arme und gab mir einen Kuss. »Ich gehe davon aus, dass es auch furchtbar gut schmecken wird.«

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Nach dem Essen – einem unsagbar leckeren Eintopf aus Fleisch, Muscheln und Kartoffeln – nahm ich eine ausgiebige Dusche. Als ich wieder aus dem Bad kam, sah Caelum mich fragend an. »Möchtest du noch an den Strand?«

Mein Strahlen war vermutlich Antwort genug. »Unbedingt«, setzte ich dennoch hinzu.

Wir zogen uns an, ich ein paar mehr warme Schichten als er, dann machten wir uns auf den Weg. Wir gingen die kleine Gasse hinunter. An deren Ende bogen wir an einer bunten, jetzt natürlich geschlossenen Strandbar nach links ab – und sahen das Meer. Wenige Meter weiter war der Weg zu Ende. Wir standen oberhalb einer kleinen Treppe, die zum Strand hinunterführte. Die Bucht hatte definitiv Postkartenpotenzial. Rechts und links erhob sich wilde, unberührte Steilküste. Der mittlere Bereich war flach, der Fluss, an dem wir bei unserer Ankunft entlanggefahren waren, mündete hier ins Meer.

Der Strand war zu dieser Tageszeit völlig leer. Wir stiegen die Treppe hinab und stapften durch den feinen Sand Richtung Wasser, wobei ich leider schneller, als mir lieb war, aus der Puste kam. Verdammt, irgendwann müssten wir wieder anfangen zu trainieren. Vielleicht morgen.

Am Wasser angekommen, setzten wir uns in den Sand. Caelum nahm hinter mir Platz und legte seinen Kopf vorsichtig auf meiner Schulter ab. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass er noch immer befürchtete, mir mit seiner Berührung Schmerzen zuzufügen. Es schien fast, als hätten sich meine Wunden tiefer in seine Erinnerung eingebrannt als in meine.

Während uns der kalte Wind um die Ohren pfiff, sahen wir auf den vom Mond beschienenen Ozean und schwiegen. Irgendwann schob Caelum meinen Schal ein wenig zur Seite und begann, meinen Hals mit Küssen zu bedecken. Erst jetzt merkte ich, wie sehr ich die Zweisamkeit mit ihm vermisst hatte. Seit Monaten waren wir fast nie allein gewesen. Ich leistete innerlich Abbitte bei Kieron, hätte ihn aber im Moment um keinen Preis der Welt dabeihaben wollen.

Wohlig neigte ich meinen Kopf ein wenig, um ihm noch ein Stückchen mehr meiner Haut für seine Küsse zu präsentieren. Dabei nahm ich aus dem Augenwinkel einen Surfboard-Verleih wahr, eine einfache Holzhütte mitten am Strand und erinnerte mich an ein paar Bretter, die ich vorhin auf Caelums Dachterrasse entdeckt hatte.

»Kannst du eigentlich auch surfen?«

»Hmm, kann ich«, murmelte er, während seine Küsse weiter in meinen Nacken wanderten.

Himmel, was konnte man in vierhundert Jahren eigentlich noch alles lernen? Obwohl ich mir Kieron und ihn hier im Sommer ziemlich gut vorstellen konnte. Wahrscheinlich schmachtete jedes weibliche Wesen zwischen acht und achtzig sie am Strand an. Bei der Vorstellung musste ich grinsen. »Dann habe wohl ich mir den heißen Surferboy geangelt und nicht meine Mutter.«

Plötzlich stoppten seine Küsse. Seine Lippen lagen noch für einen Augenblick an meinem Haaransatz, dann zog er sie zurück und lockerte seine Umarmung ein wenig. Oje, eigentlich war das nur ein Scherz gewesen, was war jetzt los? »Deine Mom hatte auch einen heißen Surferboy, das war von ihr nicht gelogen.«

Was sollte mir das jetzt sagen? Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, aber die Erkenntnis wollte sich nicht einstellen, zumal meine Synapsen noch mit seinen Küssen beschäftigt waren. »Was meinst du damit?«, hakte ich nach.

Er senkte verlegen den Blick. »Dein Dad, er surft tatsächlich auch.«

Abrupt drehte ich mich in seinen Armen, um ihn anzusehen. »Wie bitte? Was? ... Ich ... Woher weißt du das?«

Er seufzte. »Lucifer und Raphael sind sehr gute Freunde. Sie haben damals das Portal erschaffen, um sich weiter treffen zu können. Und das haben sie bis vor siebzehn Jahren regelmäßig getan.«

»Willst du mir damit sagen, dass du meinen Vater kennst?«, fragte ich fassungslos. Er nickte. »Und das sagst du mir erst jetzt?«

»Irgendwie hat es sich bisher nicht angeboten, über ihn zu sprechen«, gab er reumütig zurück. »Ich wusste nie, wie ich es anbringen sollte.«

Eine Weile sagte ich gar nichts. Ich war nicht sauer oder dergleichen, musste allerdings erst einmal überlegen, was ich mit der Information anfangen sollte. Schließlich stellte ich eine völlig banale Frage. »Wie sieht er aus?«

Caelum musste schmunzeln. »Zuallererst ist er im Gegensatz zu dir groß. Etwa so groß wie ich. Du hast seine Augen und seine Haarfarbe geerbt. Als ich ihm das letzte Mal begegnet bin, hatte er einen hellblonden, ziemlich unsortierten Strubbelkopf. Ansonsten ist er, wie alle Surferboys, perfekt gebaut und gut aussehend.«

»Wie alt ist er? Also nicht wirklich. Aber wie alt würde man ihn aufgrund seines Äußeren schätzen?«

Er überlegte kurz. »So etwa wie Ende zwanzig.«

Ich schloss die Augen. Die nächste Frage war nicht mehr so banal. »Wie ist er so?«

Caelum überlegte einen Moment, bevor er schließlich antwortete. »Er ist offen, tolerant, ein guter Zuhörer, eine ehrliche Haut. Abgesehen davon ist er ziemlich cool und hat eine Menge Humor. Aber seine hervorstechendste Eigenschaft ist vermutlich seine Sanftmütigkeit. Ich schätze mal, die hast du von ihm.«

»Sind alle Engel so?«

»Nein, leider nicht.«

»Meinst du, ich werde ihn jemals kennenlernen?«, fragte ich leise.

Er strich mir zärtlich über die Wange und nickte. »Ganz sicher.«

Die Vorstellung, dass mein Vater gerade mal zehn Jahre älter aussah als ich und ein heißer Surfertyp war, überforderte mich irgendwie. Ich hatte die Befürchtung, dass ich zum Verdauen dieser Information noch etwas Zeit brauchen würde.

Allerdings drängte sich mit dem Gespräch über meinen Vater eine Erinnerung an die Oberfläche, die ich seit über zwei Wochen sehr, sehr tief weggesperrt hatte. Ich schluckte und ein Schauer lief mir über den gesamten Körper.

Caelum war sofort in Alarmbereitschaft. »Hey, Würmchen, was ist los?«

Ich sah ihn unsicher an. Ich wusste nicht, ob wir schon bereit waren, über das zu sprechen, was mit mir passiert war, aber ich musste es versuchen. Also holte ich außerordentlich tief Luft und begann.

»Nachdem Heron mich in das Loch hat werfen lassen, habe ich immer nur daran gedacht, dass ich überleben muss.« Während ich sprach, konnte ich Caelum ausnahmsweise nicht anschauen. Also starrte ich bei den nächsten Worten auf seine Brust. »Er hat mir vorher ein Angebot gemacht. Er hat mir angeboten, an seine Seite zu kommen, dann würde er mich leben lassen.« Bei den nächsten Worten konnte ich nicht einmal mehr seine Brust anstarren. Ich schloss die Augen. »Ich habe es abgelehnt. ... Ich habe mich unendlich dafür geschämt, dass ich nicht die Stärke hatte, es anzunehmen, aber ich konnte es nicht ... Ich habe damit dein und Kierons Leben aufs Spiel gesetzt.«

Seine Hand umfasste sanft mein Kinn und hob es an, sodass ich ihm in die Augen sehen musste. Sie waren voller Schmerz, gleichzeitig voller Wärme.

»Es war die richtige Entscheidung, Würmchen. Nichts auf der Welt wäre es wert gewesen, bei ihm zu bleiben, nicht mal unser Leben.«

Ich schluckte. »Als ich dann in dem Loch lag, habe ich immer nur daran gedacht durchzuhalten. Für euch ... für dich. Ich musste am Leben bleiben, damit du weiterleben kannst.« Ich wich seinem Blick erneut aus. »Aber irgendwann, da ... ich ...« Ich hatte nicht weinen wollen, doch ich konnte es nicht mehr aufhalten. Also ließ ich die Tränen laufen, während ich weitersprach. »Irgendwann habe ich aufgegeben. Die Schmerzen und die Angst und die ewige Kälte, ich habe es irgendwann nicht mehr ausgehalten ... Ich habe mich von dir verabschiedet und dich gebeten, mir zu verzeihen.«

Er zog mich enger an sich und seine Umarmung verstärkte sich. So hielt er mich schweigend fest, bis ich die Kraft fand weiterzusprechen.

»Genau in dem Moment, in dem ich aufgegeben habe, habe ich plötzlich ein schwaches Licht gesehen und eine fremde Stimme gehört. Sie wollte mich allerdings nicht zu sich holen, im Gegenteil.« Er musterte mich aufmerksam. »Es war eine männliche, sehr sanftmütige, gütige Stimme. Sie hat mich ermahnt durchzuhalten und auf dich zu warten ... Ohne diese Stimme ... Ich glaube, ohne die Stimme wären wir beide tot.«

Caelum strich mir zärtlich über den Kopf. Ich merkte, wie auch er seinen Gefühlssturm erst einmal beruhigen musste. Schließlich räusperte er sich. »Was hast du dann gemacht?«

Ich lächelte ihn vorsichtig an. »Ich habe versucht, dir alles an Liebe zu schicken, was ich konnte, in der Hoffnung, dass es dich zu mir führen würde.«

Er lächelte und gab mir einen Kuss auf die Stirn. »Das hat es. Es war das erste Signal nach vier Tagen, das ich von dir bekommen habe. Wir haben dich eine Stunde später da rausgeholt.«

Wir wussten beide, was das bedeutete. Hätte ich die Stimme nicht gehört, wären wir alle gestorben.

»Caelum, denkst du, die Stimme gehörte meinem Vater?«

Er zog mich wieder fester an sich und legte seinen Kopf auf meinem ab. »Ja, das denke ich. Ich bin mir sogar absolut sicher.«

Mit diesen Worten kehrte schlagartig Ruhe in mir ein. Mein Vater war bei mir. Er wachte über mich.

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Wohlig räkelte ich mich und öffnete die Augen. Sonnenlicht schien auf mein Bett und malte helle Flecken an die Wand. Caelum lag neben mir und schaute mich an. Ich liebte es, mit diesem Blick geweckt zu werden. Wir waren inzwischen seit vier Tagen hier und jeder einzelne Tag war wunderschön gewesen und hatte mich ein bisschen weiter zu Kräften gebracht. Caelums Plan hatte funktioniert. Unsere Zweisamkeit und dieser wunderschöne Ort, der keinerlei schreckliche Erinnerungen barg, taten mir gut. Genau wie die Tage zuvor ließen wir auch diesen zärtlich und gemütlich angehen, frühstückten ausgiebig und gammelten dann vor dem Ofen herum. Irgendwann entschlossen wir uns, noch einmal an den Strand zu gehen.

Wir hatten inzwischen damit begonnen, ein wenig zu joggen. Ich konnte mir überhaupt nicht mehr vorstellen, wie ich jemals Caelums Jogging-Tortur in New York geschafft hatte. Der Strand hier war kaum einen Kilometer lang, und trotzdem kam es mir vor wie ein Marathon. Also machten wir nach dem Hinweg eine Pause, setzten uns auf einen der Felsen und sahen eng umschlungen aufs Meer hinaus.

Ich versuchte nicht an meiner körperlichen Verfassung zu verzweifeln. Stattdessen versuchte ich mich an Dankbarkeit und Geduld, wobei Letzteres mir erwartungsgemäß schwerfiel. Noch vor zwei Wochen hatte ich nicht einmal auf meinen eigenen Beinen stehen können. Mein Tag hatte aus Schlafen und ersten Essensversuchen bestanden, aus Schmerzmitteln und zwei starken Armen, die mich entweder tragen oder festhalten mussten, damit ich nicht zusammenbrach. Heute war ich ein paar hundert Meter gejoggt. Ich war vermutlich nicht die Einzige, die in der Vergangenheit manchmal daran gezweifelt hatte, jemals wieder dazu in der Lage zu sein. Die Verzweiflung machte bereitwillig ein wenig Zuversicht Platz. Ich würde es schon schaffen. Ich würde wieder ganz die Alte werden.

Nachdem meine Lunge und meine Muskeln sich endlich wieder etwas beruhigt hatten, gingen wir langsam zurück. Wäre ich fitter gewesen, hätten wir uns beeilt. Der Himmel hatte sich in der letzten Viertelstunde erstaunlich schnell mit dunklen regenschwangeren Wolken zugezogen. An Rennen war allerdings nicht mehr zu denken. Also beschränkten wir uns auf die Hoffnung, dass Petrus noch ein wenig Geduld hatte.

Hatte er aber nicht. Vielleicht war er da ähnlich gepolt wie ich.

Nach etwa der Hälfte des Rückwegs öffneten sich die Schleusen des Himmels. Wie aus dem Nichts begann es zu schütten wie aus Eimern. Wir versuchten halbherzig, dem Regen irgendwie zu entkommen, aber es war komplett unmöglich. Erstens waren wir nach drei Minuten ohnehin nass bis auf die Knochen und zweitens war mein Joggingpensum für heute eindeutig erfüllt. Also nahm Caelum mich auf seinen Rücken und lief mit mir den Weg hinauf. Lachend und tropfend kamen wir in seiner Wohnung an.

Wir schälten uns aus den nassen Klamotten, was gar nicht so einfach war, so wie sie uns am Körper klebten. Letztendlich funktionierte es, indem wir uns gegenseitig halfen. Immer noch aus den Haaren tropfend, standen wir schließlich nur in nasser Unterwäsche bekleidet voreinander. Caelum musterte mich aufmerksam von oben bis unten, Schmerz und Schuld waren in seinem Blick zu finden.

Ich schluckte. Ich wollte nicht, dass er mich so betrachtete, wollte ihm die Erinnerung und die Sorge um mich ersparen. Noch immer war ich viel zu mager. Ich wusste nicht, wie viele Kilos mich trotz des guten Essens von meinem ursprünglichen Gewicht trennten, aber es waren eindeutig zu viele. Ebenso wenig waren meine Narben verblasst. Viele von ihnen leuchteten noch immer frisch und rot und erinnerten nur allzu gut an all das, was wir lieber vergessen hätten.

Dennoch veränderte sich Caelums Miene unerwartet, wurde weicher, gelöster. Sorge verwandelte sich unvermittelt in Liebe. Langsam trat er einen Schritt auf mich zu und küsste mich. Sanft und zärtlich. Seine Hände begannen über meinen Körper zu wandern und jeden Zentimeter neu zu erkunden. Sie ignorierten jede Narbe und jeden Knochen und streichelten ihn, bis ich vor lauter wohligen Schauern anfing zu zittern. Schließlich hob er mich auf seine Hüften und ging die wenigen Schritte bis zur Küche. Dort setzte er mich auf die Arbeitsplatte.

Ich lächelte ihn beklommen an. »Mein nasser Hintern ruiniert dir deine Küche.« Ich entdeckte ein bislang nicht gekanntes Funkeln in seinen Augen.

»Ich glaube nicht, dass dieser Hintern überhaupt irgendwas ruinieren kann«, raunte er mir ins Ohr. Dann umfasste er meinen Kopf mit seiner Hand, zog mich mit der anderen erneut zu sich heran und schloss nahtlos dort an, wo wir eben im Stehen aufgehört hatten. Seine Küsse wurden fordernder, gieriger. Meine Befangenheit wich einer ungekannten Erregung. Wir berührten uns so intensiv, wie wir es noch nie getan hatten, seine Hände liebkosten minutenlang jede unbedeckte Stelle meines Körpers. Mit einem Mal löste er sich abrupt und schwer atmend von mir und musterte mich fragend.

Noch bevor er seine Frage stellen konnte, sah ich ihm fest in die Augen und nickte. Ganz plötzlich war ich mir sicher. Ich wollte das hier. Ich war endlich bereit, mich ihm hinzugeben, und er spürte es mehr als deutlich. Sein Verlangen überrollte mich völlig unvermittelt und ließ meinen Körper erschaudern. Vorsichtig zog er mir mein Bustier über den Kopf. Es war das mit der weißen Spitze, welches er bezahlt hatte.

Voller Liebe und voller Lust funkelte er mich an. »Das wollte ich schon seit Monaten tun.«

Dann betrachtete er voller Hingabe meine winzigen Brüste. Es war fast nichts mehr von ihnen übrig, erneut überrollte mich eine Welle der Scham und Unsicherheit. Aber so wie Caelum sie ansah, schien es ihn nicht zu stören. Sanft umschloss er sie mit seinen Händen.

Seine Berührung löste ein Beben in mir aus. Noch nie hatte ich so etwas gespürt, noch nie war ich so voller Verlangen gewesen. Während er mich weiter küsste, umspielte er meine Brustwarzen mit seinen Fingern, bis ich vor Begehren und Lust zu bersten schien. Ein Laut der Wonne kam über meine Lippen.

Ich spürte, wie auch seine Gier und seine Erregung dadurch weiter entfacht wurden, wie er sein Verlangen kaum noch kontrollieren konnte. Erneut zog er mich auf seine Hüfte und trug mich küssend die Treppe hinauf. Als wir schwer atmend nebeneinander im Bett lagen, sah er mich ein letztes Mal fragend an. »Sicher?«

Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. »Ganz sicher.«

Von da an konnte ich nicht mehr sagen, was er tat. Seine Hände waren überall, seine Lippen und seine Zunge liebkosten meinen Körper in einer Weise, die mir die Sinne schwinden ließ. Ich verlor jedes Gefühl für Raum und Zeit, bestand nur noch aus Erregung und Rausch, bog mich ihm entgegen, damit er bloß nicht aufhörte, damit ich ihm noch näher war und ich ihn noch intensiver spüren konnte.

Seine Finger und seine Lippen taten Dinge, die meinen Verstand vor Verlangen vollständig aussetzen ließen. Und sie taten es so lange, bis mein Körper die Erregung schließlich nicht mehr in sich halten konnte und endgültig in Flammen aufging.

Schwer atmend und innerlich bebend sah ich Caelum an. Sein Blick war randvoll mit Liebe, aber auch noch immer voller Verlangen. Sein Eigenes war noch nicht gänzlich gestillt worden. Ich spürte, dass es ihn unendlich viel Selbstbeherrschung kostete, dennoch gab er mir ein paar Atemzüge Zeit, um wieder im Hier und Jetzt anzukommen. Dann erst schob er sich langsam auf mich und seine Hände begannen erneut, meinen Körper zu erobern, doch dieses Mal konnte ich ihm etwas zurückgeben. Dieses Mal erkundete auch ich seinen Körper, berührte ihn dort, wo ich mich noch nie getraut hatte, ihn zu berühren, und erntete Wellen seiner Erregung.

Irgendwann nahm er mein Gesicht zärtlich in seine Hand und drang vorsichtig in mich ein. Der Schmerz war harmlos und das lag nicht nur daran, dass ich schon Schlimmeres erlebt hatte. Ein kurzes Stechen, schnell abgelöst von einem leichten Brennen. Ich schaute erwartungsvoll in seine wunderschönen dunklen Augen. Als er sicher war, dass ich keine Schmerzen mehr hatte, begann er langsam, sich in mir zu bewegen, und löste damit immer neue Wellen des Schauderns bei mir aus. So oft und so lange, bis ich sein Verlangen nicht mehr von meinem unterscheiden konnte, bis unsere Gefühle miteinander verschmolzen und durch nichts mehr zu trennen waren. So lange, bis unsere Erregung sich ins Unermessliche schraubte und bis mein Körper ein zweites Mal vor Wonne zu zerspringen schien. Doch dieses Mal war ich nicht allein. Dieses Mal entlud sich unsere Lust gemeinsam in einer nicht enden wollenden Explosion.

Caelum vergrub sein Gesicht in meiner Halsbeuge. Es dauerte sehr lange, bis sich unser Herzschlag und unser Atem beruhigt hatten und er sich langsam wieder neben mich legte. Seinen Kopf auf eine Hand gestützt, sah er mich voller Staunen an. Ich fühlte mich so glücklich und zufrieden wie noch nie in meinem Leben.

Schließlich musste ich verschmitzt lächeln. »Kannst du mir mal sagen, wieso du mich darauf über vier Monate lang hast warten lassen?«

Er grinste mich verführerisch an. »Das weiß ich selbst nicht mehr so genau. Aber ich weiß, dass du auf das nächste Mal ganz bestimmt nicht wieder so lange warten musst.«

Und damit begannen wir von vorne.