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34. Caelum

Ich hatte Unmengen an Bettgeschichten hinter mir und hatte nach den ersten zwanzig Jahren schnell aufgehört, sie zu zählen. Die meisten waren es ohnehin nicht wert. Aber selbst die Guten waren mit nichts von dem zu vergleichen, was hier heute passiert war. So etwas Überwältigendes hatte ich in meinem ganzen Leben nicht erlebt.

Die Tatsache, dass wir bei all unserem Verlangen auch noch die Gefühle des anderen spüren konnten, führte dazu, dass sich unsere Erregung aufsummierte und jede Dimension sprengte. Ich hatte schon vor diesem Erlebnis den unbändigen Wunsch gehabt, Lua nie wieder loszulassen. Jetzt war der Wunsch eindeutig noch größer geworden.

Langsam malte ich mit meinem Finger Kreise auf ihrer Haut, auf Schulter und Brust. Die Antwort war trotz geschlossener Augen ein wohliges Brummen. Sie war völlig entkräftet, allerdings auf eine so gute Art, dass ich mir nicht eine Sekunde Sorgen um sie machte. Im Gegenteil, ihr Glück füllte meinen gesamten Körper aus. Als ich bereits dachte, sie sei eingeschlafen, grinste sie plötzlich.

»Was ist?«

Sie schlug strahlend die Augen auf. »Ich habe Hunger.«

Eigentlich war mein Glück eben bereits perfekt gewesen, doch ihr Wunsch war ein unerwartetes Sahnehäubchen. Trotzdem konnte ich mir die Bemerkung nicht verkneifen. »Sag nicht, dass ich den immer noch nicht gestillt habe.«

Sie funkelte mich an. »Den wirst du niemals stillen.«

Herrje, wohin war nur das kleine, befangene und unsichere Mädchen entschwunden? Egal, mir war es mehr als recht, dass es sich in Luft aufgelöst hatte. Ich hätte eigentlich gerne ein weiteres Mal versucht, ihren Hunger hier im Bett zu stillen, aber ihr Bedürfnis nach Essen war etwas, was ich im Moment leider nicht ignorieren konnte.

Es tat meiner Liebe und meinem Verlangen nach ihr keinen Abbruch, dass sie nach wie vor so dünn war, obwohl sie mir natürlich mit ein paar Kilos mehr besser gefallen hatte. Viel wichtiger als meine persönlichen Vorlieben war allerdings die Tatsache, dass sie diese Kilos dringend brauchte, um endgültig wieder zu Kräften zu kommen. Also gab ich ihr einen letzten ausgiebigen Kuss und bewegte mich dann schweren Herzens nach unten Richtung Küche.

Ein paar Minuten später hörte ich, wie sie barfuß die Treppe herunterkam. Sie umschlang mich von hinten und sog meinen Geruch ein. Dann setzte sie sich, nur mit einem meiner T-Shirts bekleidet, völlig zerzaust und immer noch leicht errötet auf die Arbeitsplatte.

Halleluja, vielleicht doch noch ein einziges Mal, einfach direkt hier in der Küche? Ich atmete tief durch und sammelte alles an Selbstbeherrschung zusammen, was ich hatte. Dann machte ich mich daran, eine Nudelsoße zuzubereiten, wobei ich – abgelenkt, wie ich war – nicht für deren Gelingen garantieren konnte.

Als alles vor sich hin köchelte und ich die verbleibende Zeit nutzte, um sie wenigstens noch einmal ausgiebig zu küssen, klingelte plötzlich mein Handy. Genervt verdrehte ich die Augen und ignorierte es.

Sie war etwas vernünftiger als ich. »Guck wenigstens, wer es ist. Vielleicht ist es wichtig.«

Wie schaffte sie es bloß, selbst in dieser Situation ihren Verstand einzuschalten? Meiner hatte sich für heute eindeutig auf und davon gemacht. Ergeben nahm ich mein Handy aus dem Küchenregal. Es war ein Videoanruf von Kieron. Ich zeigte es ihr und sie nickte. Na gut.

»Hey, du Penner. Warum gehst du erst nach hundertmal Klingeln ran?«, blökte er sofort los.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass die Vorstellung dein beschränktes Hirn überfordert, aber manchmal habe ich Besseres zu tun, als sofort ans Telefon zu rennen.«

»Was sollte besser sein, als deinen aus der Hölle zurückgekehrten Bruder wieder in die Arme zu schließen?« Ich grinste so selbstgefällig, dass Lua lachen musste. »Alter, du hast es getan, stimmt’s? Während ich da unten deinen alten Herren um Hilfe anbetteln musste, hast du sie gevögelt.«

Ich kniff die Augen zusammen. »Pass auf, was du sagst, sonst sorge ich dafür, dass mein alter Herr dich wieder zurückruft.«

»Sag, dass das nicht wahr ist. Ich sterbe seit vier Tagen vor Langeweile, und du hast die Zeit deines Lebens?«

Lua schob sich von hinten mit ins Bild. Ihr äußerer Zustand sprach Bände. Sie grinste in die Kamera. »Ich schätze ja, das hat er.«

Dieses Mädchen war unglaublich. Ich nahm sie mit der freien Hand in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Schläfe.

»Es ist aber trotzdem schön, dich zu sehen«, fügte sie hinzu, wobei sie es irgendwie schaffte, es ehrlich klingen zu lassen.

Kieron war am Limit. »Scheiße, fickt euch doch.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Schon geschehen.«

Lua nahm mir das Handy ab und schubste mich aus dem Bild. »Hey, jetzt mal ehrlich. Wir haben dich vermisst. Wie geht es dir? Was hat Lucifer gesagt?«

Kieron brummte. »Ich glaub dir kein Wort, Specki. So zerrupft, wie du aussiehst, hast du überhaupt nichts vermisst.«

Sie wurde rot und ich musste schmunzeln. Ein kleiner Rest ihres alten Ichs war wohl doch noch am Leben.

»Du bist unmöglich.« Dann wurde sie ernst. »Also, was hat er gesagt?«

»Er will sich mit uns dreien treffen«, gab Kieron endlich Auskunft.

Wir atmeten beide gleichzeitig erleichtert aus und ich schob mich wieder mit ins Bild. »Wann?«

»Übermorgen. Er kommt zu euch.«

Lua fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Was? Hier in diese Wohnung?«

Kieron schaute amüsiert. »Ja, wohin sonst? Oder möchtest du lieber noch mal um den halben Erdball fliegen, um ihn an einem anderen Ort zu treffen?«

»Blödmann«, schmollte sie. »Es hätte auch in einem Café sein könne, davon gibt es hier schließlich mehr als genug.«

Ich schmunzelte, weil ich die vage Vermutung hatte, dass sie Lucifer nicht unbedingt mit dem Ort in Verbindung bringen wollte, an dem sie gerade ihre Jungfräulichkeit verloren hatte.

Offensichtlich hatte Kieron den gleichen Gedanken, denn er grinste äußerst süffisant. »Nein, Specki. Er kommt in eure Wohnung. Also solltet ihr vielleicht dafür sorgen, dass ihr angezogen seid, wenn er auf der Bildfläche erscheint.«

Ich grinste genauso süffisant zurück. »Und wann wird das genau sein?«

»Vielleicht verrate ich euch das nicht«, hielt er uns hin.

»Vielleicht musst du dann vor der Tür stehen und zuhören.«

Kieron schnaubte nur. »Gegen sechzehn Uhr. Also treibt es bis dahin nicht zu heftig und denkt zwischendurch mal an mich.«

Ich blickte selbstgefällig in die Kamera. »Ganz sicher nicht.«

Kieron zeigte mir den Mittelfinger und legte auf. Für einen Moment huschte ein Schatten über Luas glückliches Gesicht. Wir hatten in den letzten vier Tagen und ganz besonders in den letzten zwei Stunden weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft gedacht.

»Hey, Würmchen. Vergiss es einfach wieder. Wir haben noch zwei Tage, bis er hier ist und danach noch mal eine ganze Woche. Und in der Zeit werden wir keine Sekunde daran verschwenden, uns Sorgen um die Zukunft zu machen, verstanden?«

Sie schluckte. »Ich werde es versuchen.«

Voller Verlangen grinste ich sie an. »Bemüh dich besser. Sonst fühle ich mich genötigt, dich vierundzwanzig Stunden am Tag abzulenken ...«

Ich fing direkt mit der Ablenkung an und begann, sie gierig zu küssen. Leider viel zu kurz. Der Timer gab mir klingelnd Bescheid, dass die Nudeln fertig waren. Ich kniff die Augen zusammen. Die Welt war wirklich alles andere als gerecht.

Als Lua eine Stunde später eng an mich geschmiegt auf meinem Schoß schlief, fragte ich mich, womit ich all das Glück verdient hatte. Ich fragte mich auch, ob uns in Zukunft noch mehr solch perfekter Momente vergönnt waren. Eigentlich fragte ich mich sogar, ob wir überhaupt eine Zukunft haben würden. Schließlich schob ich jedoch, genau wie ich es ihr abverlangt hatte, alle meine Gedanken an die Zukunft beiseite. Ich wollte mir das hier nicht verderben lassen. Stattdessen nahm ich dieses atemberaubende Wesen auf den Arm, trug sie nach oben und legte mich mit ihr ins Bett.

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Die nächsten eineinhalb Tage waren leider nicht ganz so glücklich und entspannt. Wir ließen es ruhig angehen, trainierten ein bisschen am Strand und nahmen uns viel Zeit für unsere Zweisamkeit. Allerdings wurde Lua von Stunde zu Stunde ein größeres Nervenbündel. Lucifer persönlich zu treffen, überforderte sie gelinde gesagt ein wenig. Genau genommen drehte sie völlig am Rad.

Gegen Mittag des zweiten Tages tigerte sie irgendwann nur noch in der Wohnung hin und her. Kein Training, kein Strandspaziergang und kein Sex konnten sie ablenken.

»Würmchen, ich weiß, dass du nervös bist«, versuchte ich sie zum wiederholten Mal zu beruhigen. »Aber ich verspreche dir, letztlich ist er auch bloß ein Mensch.«

Sie verdrehte völlig genervt die Augen und schüttelte den Kopf. »Nee, genau das ist er nämlich nicht. Himmel, ich wäre schon nervös, wenn ich nur den Vater eines menschlichen Freundes zum ersten Mal treffen würde, aber dein Vater ist der Teufel persönlich!«

Ich musste mir ein Lachen verkneifen. »Das war eine Redewendung. Ich könnte ebenso sagen, er kocht auch nur mit Wasser.«

»Nee, eben auch das nicht«, widersprach sie energisch. »Er ist wahrscheinlich das mächtigste, greifbare Wesen der ganzen Welt, der kocht ganz bestimmt mit ein paar mehr Dingen als nur mit Wasser.«

Jetzt konnte ich das Lachen nicht mehr zurückhalten. »Hey, beruhig dich. Er wird dich mögen, ganz bestimmt.«

Sie blieb kurz stehen und kniff die Augen zusammen. »Und warum bist du dir da so sicher?«

Ich ging zu ihr und setzte sie auf die Arbeitsplatte, um hier endlich mal Ruhe reinzubringen. »Weil ich ihn seit über vierhundert Jahren kenne.«

Schnauben. »Es hat aber in den letzten vierhundert Jahren auch keine Anam Ban gegeben, auf die er hätte reagieren müssen.« Ich legte den Kopf zur Seite und schmunzelte. »Und auch keine Prophezeiung ... und auch keinen Scheiß-Skaslegur und auch keine ...«

»Stopp.« Ich küsste sie. Anders würde ich sie vermutlich nicht zum Schweigen bringen. Als ich mir halbwegs sicher war, dass sie nicht sofort wieder explodieren würde, zog ich meine Lippen langsam zurück. »Er wird dich mögen«, versicherte ich ihr. »Und er wird uns helfen, sonst würde er gar nicht herkommen. Und er wird sich hoffentlich auch was für die Zukunft einfallen lassen.«

Ihre Augenbrauen zogen sich verdächtig unzufrieden zusammen. »Das mit dem ›hoffentlich‹ hilft jetzt nicht so richtig.«

Ich hob verzweifelt die Hände zum Himmel. »Würmchen! Mein Leben hängt genauso von seiner Entscheidung ab wie deins. Aber wir überzeugen ihn ganz bestimmt nicht, wenn wir wie zwei kopflose Hühner hin und her rennen.«

Ihre Stirn fiel genervt gegen meine Brust und blieb dort liegen. »Aaaarrrgh.«

Amüsiert schüttelte ich den Kopf. Eigentlich war auch ich ziemlich nervös. Aber ihre Aufgeregtheit war so süß, dass ich meine darüber fast vergaß. »Hey, du bist nicht mehr vierzehn und du hast dein erstes Date definitiv schon hinter dir. Was soll dir also groß passieren?«

Als sie den Kopf wieder hob, blickte sie mich völlig fassungslos an. »Das hast du jetzt nicht wirklich gefragt, oder?« Ich zuckte lediglich mit den Schultern und sie boxte mich mit erstaunlich viel Kraft in den Oberarm. »Ich sterbe hier gerade vor Angst und du machst dich über mich lustig?« Ihre Unterlippe war kurz vor einem Schmollmund. Ich grinste. »Wenn ich einen Pausenclown brauchen würde, würde ich Kieron herbitten, also hör auf damit«, fauchte sie mich erbost an.

Ich strich ihr ihre völlig wirren Haare hinters Ohr. »Du kannst froh sein, dass der dich gerade nicht so sieht. Das wäre Stoff zum Mobben für die nächsten hundert Jahre.«

»Wie lange noch?«, quengelte sie schließlich wie eine Dreijährige bei einer langen Autofahrt.

Ich nahm ihr Gesicht in meine Hände. »Lange genug, um mir noch einen Kuss zu geben.«

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Eine halbe Stunde später machten wir uns auf den Weg zum Strand, wo hinter einem großen Felsen das Portal verborgen war. Nicht eine Minute länger hätte sie es noch in der Wohnung ausgehalten. Und ich wahrscheinlich auch nicht mit ihr, ohne entweder einen Lachkrampf zu bekommen oder selbst durchzudrehen.

Als wir den Felsen erreichten, erschien Lucifer nur einen Augenblick später in dem Portal. Ausnahmsweise war ich ihm dankbar für seinen Hang zur Überpünktlichkeit. Weitere Warterei hätte bei Lua Selbstmordpotenzial gehabt.

Als er aus dem Portal trat, wanderte sein Blick zwischen uns hin und her. Schließlich entschied er sich als Erstes für mich. Er nahm mich kurz in den Arm, dann nickte er mir zu und grinste. »Vielleicht sollten wir unsere Besuchsregel aufheben. Dann sehen wir uns deutlich öfter.«

Ich nickte ebenfalls und grinste zurück, während er sich Lua zuwandte. Sie sah ihn mit großen ängstlichen Augen an und war entgegen all ihren Gewohnheiten und vor allem entgegen den letzten vier Stunden völlig verstummt. Zum ersten Mal an diesem Tag tat sie mir wirklich leid.

Er betrachtete sie wohlwollend. »Hallo, ich bin Lucifer, der Vater dieses untreuen Kerls.« Lua schwieg und starrte ihn wie paralysiert an. »Wenn ich mir allerdings so anschaue, weswegen er mich nicht mehr besucht, dann muss ich leider zugeben, dass er zumindest auf den ersten Blick ziemlich gute Gründe hat. Auch wenn das Attribut ›klein‹ auf alle Fälle zutrifft.«

Ich hatte es gewusst. Er mochte sie.

Sehr langsam schien die Information auch bei Lua durchzusickern und ein zaghaftes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Ähm … hi, ich bin Lua. Es freut mich, Sie kennenzulernen.«

Er lachte kurz auf. »Kannst du mich bitte duzen? Dann fühle ich mich nicht ganz so wichtig, wie ich bin.«

Sie starrte ihn fassungslos an, dann biss sie sich auf die Unterlippe und zog ihre Augenbrauen nachdenklich zusammen. Eine der beiden Gesten hätte schon gereicht, beide zusammen führten dazu, dass ich meinen Vater gerne wieder zurückgeschickt hätte, um den Strand für uns allein zu haben.

Kierons Erscheinen sorgte jedoch dafür, dass ich den Gedanken nicht zu Ende denken konnte und sie sich etwas entspannte. »Hey, Specki, pünktlich und angezogen, Hut ab!«

Wenn wir nicht aneinander gebunden wären, hätte ich ihn genau jetzt umgebracht. Lua hingegen sah ihn verzweifelt an und schüttelte den Kopf.

Lucifer gab ihm einen gezielten Schlag in den Nacken. »Zu spät bist hier nur du. Aber immerhin auch angezogen. Dafür bin ich dir wirklich dankbar.«

Ich nahm Lua schmunzelnd in den Arm. Sie war mit einer hemmungslosen Männerrunde dieses Alters etwas überfordert. Schnell gab ich ihr einen Kuss auf die Schläfe und zog sie von den beiden fort. »Lasst uns reingehen. Es ist kalt.«

Schweigend stapften wir durch den Sand zurück. Immerhin hatte der etwas skurrile Auftakt dazu geführt, dass sie nicht mehr nervös war. Jetzt war sie nur noch verwirrt. Was es nicht unbedingt besser machte.

In der Wohnung angekommen, holte ich für alle etwas zu trinken, dann setzten Lucifer, Lua und ich uns aufs Sofa, während Kieron sich auf den Fußboden lümmelte. Ich zog sie auf meinen Schoß. Zum einen, um sie zu beruhigen, zum anderen, um unsere Verbindung von Anfang an zu zeigen. Ich wollte hier kein falsches Spiel spielen. Ich wollte, dass mein Vater wusste, wie wir zueinander standen.

Er beobachtete uns interessiert. Offenbar versuchte er einzuschätzen, was es mit diesem Mädchen und mir auf sich hatte. »Also, was ist los?«, eröffnete er schließlich das Gespräch. »Wofür braucht ihr meine Hilfe? Doch sicher nicht bloß für die Suche nach dem Stein.«

Ich holte sehr tief Luft und schüttelte den Kopf. »Nein, wir brauchen deine Hilfe, um alle drei zu überleben.«

Wir erzählten ihm, wie ich Lua gefunden hatte, beichteten, was für ein Wesen sie war, welche Rolle wir beide in der Prophezeiung spielten und welche Verbindung wir hatten. Wir berichteten von unserer bisherigen Suche, von den Nestern, von dem Ritual und von den überall auftauchenden Verbündeten Gorzatas beziehungsweise Skaslegurs und deren Wirkung auf Lua. Wir erzählten ihm auch in Kurzform von ihrer Entführung und erklärten, warum sie noch nicht wieder hundertprozentig fit war. Wir durchliefen im Schnelldurchgang quasi alles, was in den letzten vier Monaten passiert war.

Als wir fertig waren, schwieg Lucifer lange. Schließlich wandte er sich nachdenklich an Lua. »Wer ist dein Vater?«

Sie schluckte und zögerte einen Moment, bevor sie ihm in die Augen sehen konnte. »Raphael«, gestand sie unsicher.

Er lächelte sie unerwartet liebevoll an. »Wieso habe ich das geahnt?« Dann schüttelte er den Kopf. »Ich kenne dich eigentlich noch gar nicht, aber du bist ihm irgendwie ähnlich. Sanftmütig und mutig. Er wäre stolz auf dich.«

Sie schaffte noch ein kurzes Lächeln, dann biss sie sich auf die Unterlippe und kämpfte ihre Emotionen nieder.

Ich hielt sie weiter fest in meinen Armen. »Also Dad, wirst du uns helfen?«

Nach einer ganzen Weile kam die Gegenfrage. »Was genau schwebt dir bei dieser Hilfe vor?«

Also dann. »Wir möchten dich bitten, in der Unterwelt Nachforschungen anzustellen. Letztendlich müssen die Verbündeten Skaslegurs dezimiert werden. Wir kommen zu dritt nicht gegen so viele an.«

Lucifer lächelte charmant und entschuldigend Richtung Lua. »Ich würde auch eher von zweieinhalb als von drei sprechen.«

»Hey, ich hab mir das nicht ausgesucht«, bemerkte sie verärgert. So langsam verlor sie die Ehrfurcht vor ihm.

»Jetzt mal im Ernst«, kam ich auf das eigentliche Thema zurück. »Wir haben keine Ahnung, wie viele Hohedämonen Skaslegur bereits auf seine Seite gezogen hat. Die, die freiwillig zu ihm überwechseln, sind sicherlich am einfachsten zu finden. Sie waren vermutlich schon immer deine Gegner.

Schwieriger ist die Sache mit dem Umpolen. Vielleicht kann es jeden treffen, wir glauben aber, dass es eher nicht so übermäßig starke Dämonen sind, die er sich aussucht. Und bis jetzt nur Frauen, wobei wir nicht wissen, ob Gorzata selbst nicht auch sein Opfer ist. Könnte ebenso einfach Zufall sein.

Wahrscheinlich gibt es sogar irgendjemanden, der die potenziellen Opfer für ihn ausfindig macht. Ich glaube kaum, dass er selbst in der Hölle herumturnt, das hättest du sicher bemerkt.«

Lucifer fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, dann sah er mich grübelnd an. »Also geht es bei meiner Hilfe nur um die Kleinigkeit, den wichtigsten Hintermann Skaslegurs zu finden und hunderte von Hohedämonen zu kontrollieren und gegebenenfalls wegzusperren?« Wenn da mal nicht ein sarkastischer Unterton zu hören war.

»Dad, ich hab mir die Scheiße nicht ausgesucht. Wenn ich ehrlich bin, hast du mehr Schuld an der ganzen Sache als ich. Wer hat denn hier schließlich das Portal erschaffen und diesen Prophezeiungskram mit eingebaut?«

Er hob abwehrend die Hände. »Die Prophezeiung hab ich mir nicht ausgedacht. Bedank dich dafür bei irgendwelchen krankhaft kreativen Menschenfrauen.«

Lua setzte sich aufrechter hin und atmete tief durch. Dann musterte sie Lucifer durchdringend. »Darf ich was sagen?«

Er lächelte amüsiert. »Natürlich.«

»Mal ganz abgesehen von irgendwelchen bescheuerten Schuldfragen ist die Prophezeiung ja nun mal eingetreten. Wobei da schuldmäßig durchaus auch noch die Engel mit ins Spiel kommen, aber ich will es nicht noch komplizierter machen, als es eh schon ist.«

Lucifer grinste sie an. »Vielen Dank.«

Lua verdrehte die Augen und verabschiedete sich endgültig von ihrem Respekt. »Nicht dafür ... Jetzt mal ehrlich, Fakt ist doch, dass du ebenso wie wir die Prophezeiung aufhalten willst, oder?« Er nickte. »Zweiter Fakt ist, dass Caelum im Moment nicht in die Hölle kann, auch richtig?« Wieder ein Nicken, dieses Mal etwas zögerlicher. »Wir sind hier auf der Erde ohnehin bloß zu zweieinhalbt, wie du ja sehr treffend festgestellt hast. Wenn wir Kieron jetzt auch noch abgeben und er die Nachforschungen anstellt, wird’s langsam dünn. Soweit einverstanden?«

Lucifer verengte seine Augen zu Schlitzen. »Worauf willst du hinaus?«

»Worauf ich hinauswill, ist, dass wir keine Zeit für Spielchen haben«, fuhr sie ihn an. »Und deshalb will ich, dass wir hier jetzt nicht anfangen zu diskutieren oder, noch schlimmer, zu taktieren. Ich will darauf hinaus, dass du dich bitte nach da unten bewegst und gefälligst diese Nachforschungen anstellst. Wenn du es nicht tust, kannst du nämlich sowohl deinen Sohn als auch die gesamte Menschheit in fünfeinhalb Wochen begraben. Dann müssen wir drei uns aber auch die letzten fünfeinhalb Wochen unseres Lebens nicht mit einer bekloppten Suche beschäftigen, sondern könnten sie für uns sinnvoll gestalten.« Ihre Augenbrauen zogen sich wütend zusammen. »Und abgesehen davon habe ich Hunger.«

Ich hatte meinen Vater noch nie so sprachlos gesehen. Kieron hielt den Atem an, wobei ich nicht wusste, ob er Angst vor Lucifers Reaktion hatte oder auf diese Art einen Lachkrampf unterdrückte. Erwartungsvoll schaute ich meinen Vater an.

Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Irgendwann holte er tief Luft. »Warum habe ich eigentlich nicht Nein gesagt, als du mich gefragt hast, ob du was sagen darfst?« Okay, bei Kieron war es der Lachkrampf gewesen. Lucifer hingegen schüttelte immer noch fassungslos den Kopf.

»Woher nimmt so ein Floh wie du bloß so viel Mut?«

Luas Augenbrauen hatten sich noch nicht wieder entspannt. »Also was jetzt? Ja oder Nein?«

Lucifer starrte sie lange und durchdringend an, aber sie hielt diesem Blickduell stand, was mich wirklich beeindruckte. Schließlich zuckte ein kurzes, amüsiertes Lächeln über sein Gesicht. Er nickte. »Also, ja. Ich schätze, wenn ich nicht von einem hungrigen Floh mit Blicken getötet werden möchte, muss ich euch wohl helfen.« Dann wandte er sich mir mit einem hämischen Grinsen zu. »Ich wünsche dir die nächsten tausend Jahre viel Spaß mit deinem eigensinnigen Floh.«

Ich grinste zurück. »Keine Angst, den werde ich haben.«

»Ich kann euch hören«, brummte der besagte Floh missmutig, blickte aber dennoch verlegen nach unten.

Kieron hatte sich derweil wieder beruhigt und schaute zwischen uns dreien hin und her. »Dann können wir ja jetzt Speckis Vorschlag mit dem Essen umsetzen, oder?«

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Es wurde ein überraschend schöner Abend. Wir besprachen noch einige Details, wie es weitergehen würde. Die meiste Zeit redeten und lachten wir jedoch über viele andere unverfängliche Dinge. Irgendwann begannen Lua und Kieron die Küche aufzuräumen, während Lucifer auf die Dachterrasse ging. Nach einer Weile folgte ich ihm. Nebeneinander schauten wir aufs Meer.

»Dad?«

»Hmmm.«

»Ich habe noch eine Bitte an dich.«

Er schmunzelte etwas. »Hab ich mir gedacht.«

Es kostete mich erstaunlich viel Überwindung, die Bitte zu formulieren. »Ich weiß nicht, wie ich sie nach ihrer Verwandlung noch beschützen soll. Ich weiß nicht, ob es möglich ist, aber falls ja, möchte ich dich bitten, ihre Existenz zu legitimieren ... Du hast sie kennengelernt. Sie ist nicht böse. Wenn wir es schaffen, die Prophezeiung aufzuhalten, hat sie es verdient zu leben.«

Es dauerte einige Atemzüge, bis er sich mir zuwandte. »Ich werde mir etwas einfallen lassen.« Dann nahm er mich in den Arm. »Ihr habt es beide verdient.«

Einen Moment verharrten wir in dieser Umarmung. Sie tat mir auch nach über vierhundert Jahren immer noch gut.

Schließlich schob Lucifer mich ein Stück von sich weg und lächelte verschmitzt. »Und letztendlich hat es sogar der Pausenclown da drinnen verdient.«

Ich nickte. »Das hat er. Vielleicht sogar mehr als wir.«

»Dann sollten wir jetzt schleunigst dafür sorgen, dass ihr alle überlebt.«

Ich nickte noch einmal – dankbar.

Drinnen fanden wir einen abwaschenden Kieron vor, ein eher seltenes Phänomen. Lua hatte sich auf dem Sofa zusammengekugelt, die Aufregung des Tages hatte sie offensichtlich eingeholt.

Lucifer mahnte zum Aufbruch. Kieron nahm das zum Anlass, erleichtert den Rest des Abwaschs stehen zu lassen und sich ihm anzuschließen. Bevor wir uns verabschiedeten, ging mein Vater zum Sofa und kniete sich vor Lua hin. Vorsichtig berührte er sie an der Schulter, woraufhin sie müde die Lider aufschlug.

Ich hörte ihn leise zu ihr sprechen. »Ich gebe mein Bestes, die Abtrünnigen da unten in den Griff zu kriegen, okay?« Ihre Augen blickten ihn ernst an, als sie nickte. »Die beiden Chaoten werden hier auf dich aufpassen. Mit dir hingegen möchte ich einen Deal machen.« Lua sah ihn skeptisch an. »Ich werde mir etwas für dich einfallen lassen, um dein Leben auch nach deiner Verwandlung zu schützen, das verspreche ich dir. Im Gegenzug musst du mir versprechen, bis zu deinem Geburtstag durchzuhalten.«

Die beiden schauten sich lange in die Augen, es schien, als würden sie ein unsichtbares Band knüpfen.

Schließlich nickte Lua. »Ich verspreche es.«

Er strich ihr vorsichtig über den Kopf und lächelte sie an. »Ich habe nicht vor, einen von euch sterben zu lassen.«