»Caelum, hör auf. Du warst nicht zu spät. Ich bin hier, ich lebe.«
»Ich hätte dich da schon Tage vorher rausholen können. Ehrlich gesagt, wärst du wahrscheinlich nie bei ihm gelandet. Ich hätte es verhindern können«, fuhr er mich unbeherrscht an.
»Nein, das hättest du nicht.« Ich schloss die Augen. Wie konnte man nur so verblendet sein? »Merkst du nicht, dass wir hier nur über ›hätte‹, ›würde‹ und ›könnte‹ sprechen? Wir haben die Fähigkeit vor zwei Monaten noch nicht gehabt, Ende der Durchsage! Also hättest du es nicht gekonnt. Was ist daran so schwer zu akzeptieren?« Er schnaubte nur. »Und bevor du auf die Idee kommst, dir jetzt auch noch vorzuwerfen, dass du nicht eher mit mir geschlafen hast: Nein, das war auch nicht deine Schuld. Das war meine. Ich war noch nicht bereit dafür, das hat wohl kaum an dir gelegen.«
»Aber es war meine Schuld, dass ich dich überhaupt verlassen habe.«
Ich presste mir Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel. Die Diskussion bereitete mir so langsam, aber sicher Kopfschmerzen. Ich hatte keine Ahnung, was heute in seinem Getränk gewesen war, der Anteil an selbstzerstörerischen Gedanken war bei ihm jedenfalls so groß, wie schon lange nicht mehr.
Es war inzwischen vier Tage her, dass wir das erste Mal miteinander geschlafen hatten, und bis heute waren die vier Tage gute Tage gewesen. Sogar sehr gute. Das Treffen mit Lucifer war erfolgreich gewesen, ich kam wieder zu Kräften, wir trainierten ein wenig, ich konnte inzwischen recht normale Portionen essen und das erste Mal Sex war in diesen Tagen nicht das einzige Mal geblieben.
Dabei hatten wir in den letzten vier Tagen auch nach und nach bemerkt, dass unsere Verbindung noch einmal stärker geworden war. Es war, wie Laoghaire vorhergesagt hatte: Unsere körperliche Vereinigung hatte dazu geführt, dass wir unsere Gefühle noch deutlicher und vor allem differenzierter wahrnehmen konnten. Aber vor allem konnten wir uns jetzt eindeutig orten. Bislang hatten wir lediglich sagen können, ob der andere in der Nähe war oder weit entfernt. Jetzt kannten wir haargenau die Richtung, in der der andere sich befand.
Wir hatten es heute am Strand ausprobiert, indem wir wie zwei kleine Kinder Verstecken gespielt hatten. Inzwischen bereute ich, dass wir es getan hatten, es war zu allem Überfluss auch noch meine Idee gewesen. Was am Strand als Spaß begonnen hatte, hatte sich mittlerweile zu einem Desaster aufgebauscht. Caelum konnte nicht damit umgehen, unsere neue Fähigkeit noch nicht beherrscht zu haben, als ich bei Heron gewesen war. Er wollte es schlichtweg nicht hinnehmen, dass wir die Vergangenheit nicht ändern konnten. Und ich fand mittlerweile wirklich keine Argumente mehr, um ihn zu beruhigen.
»Caelum, fang nicht wieder von vorne an, bitte«, flehte ich relativ würdelos. »Du hast es getan, weil du mein Leben damit retten wolltest, nicht aus böser Absicht. Und du konntest nicht wissen, dass all das passiert. Also hör endlich auf, dir Vorwürfe zu machen.«
Er konnte seine Wut über sich selbst nur noch schlecht im Zaum halten, was er dadurch bewies, dass er jetzt sarkastisch wurde. »Einer muss mir die Vorwürfe schließlich machen, du bist dazu ja offensichtlich nicht in der Lage«, ging er mich bissig an. »Stattdessen glaubst du auch noch, dass die Gedanken an mich dir durch die Zeit bei ihm geholfen haben. Würmchen, das ist krank.«
Mühsam kämpfte ich meine Tränen nieder. »Nenn es, wie du willst, aber ich weiß sehr genau, was ich jede verdammte Minute in meiner Zelle gedacht habe.« Das mit dem Niederkämpfen hatte sich schnell erledigt. Meine Tränen hatten das Duell gewonnen. »Ich hätte die Zeit bei ihm ohne dich nicht überlebt«, flüsterte ich, endgültig am Ende meiner Beherrschung.
»Es hätte die Zeit bei ihm ohne mich gar nicht gegeben.«
Ich kapitulierte. Ich schloss die Augen und ließ bittere Tränen der Erinnerung durch meine geschlossenen Lider fließen.
Nur Sekunden später spürte ich, wie er meine Hände in seine nahm und seine Stirn an meine legte. »Es tut mir leid, Würmchen. Ich hätte das nicht sagen dürfen.« Nein, das hätte er nicht. Aber es half auch nicht, dass er sich dafür entschuldigte. Seine Meinung änderte er deswegen trotzdem nicht.
Resigniert schüttelte ich den Kopf. Ich wünschte mir so sehr, ihm seine Schuld zu nehmen. Ich wünschte mir so sehr, dass er sie verstehen könnte, die Zeit in der Zelle und in dem Loch. Die Momente, in denen die Gedanken an seine Nähe und seine Hände auf meiner Haut das Einzige gewesen waren, was mich am Leben gehalten hatte. Plötzlich hörte ich ihn nach Luft schnappen.
Ganz vorsichtig löste er sich von mir und sah mich fassungslos an. »Ich kann sie sehen.« Falls es überhaupt möglich war, war er jetzt noch aufgelöster als vorher.
»Was? Was kannst du sehen?«, fragte ich irritiert, noch immer in meinen Gedanken gefangen.
»Deine Erinnerungen.« Er schloss kurz die Augen und versuchte sich zu sammeln. »Die Bilder, die Emotionen, deine komplette Wahrnehmung. Sie waren eben in meinem Kopf.«
»Aber wie ...« Ich presste mir die Finger an die Schläfen, unfähig zu begreifen, was er mir da sagte. »Bist du sicher?«
In seinem Blick lag so viel Schmerz, dass ich keine Antwort auf meine Frage mehr brauchte.
Er gab sie mir trotzdem. »Ganz sicher.«
Bedrückt schaute ich ihn an. »Es tut mir leid, Caelum. Ich wünschte, du hättest sie nicht gesehen. Es reicht, wenn einer von uns diese Bilder im Kopf hat. Ich –«
»Würmchen, hör auf mit dem Scheiß, bitte ... Komm her.« Schnell zog er mich auf seinen Schoß und hielt mich fest. Schwer atmend versuchten wir uns zu beruhigen. Er war schließlich der Erste, dem es halbwegs gelang. Er schob mich ein kleines Stück von sich weg und strich mir ein paar wirre Strähnen aus meinem Gesicht. »Hey, ich wünschte, es würde diese Bilder überhaupt nicht geben, das weißt du ... Aber es gibt sie. Wir können sie nicht wieder löschen, aber wir können sie teilen. Du musstest das alles allein durchstehen, da solltest du nicht auch noch mit den Erinnerungen allein sein.«
Langsam schüttelte ich den Kopf. »Ich wünschte, ich hätte es dir ersparen können«, wisperte ich leise. Ich ahnte bereits, dass er das anders sah. Und ich ahnte auch, dass es vielleicht der Weg sein könnte, ihn endlich von seiner Schuld zu erlösen. Wenn er das Leid mit mir teilte, würde er vielleicht das Gefühl haben, mir etwas davon abnehmen zu können.
Zärtlich strich er mir mit dem Daumen über die Wange. »Es ist gut, dass ich sie kenne. Sie ... Ich kann dich endlich verstehen. Ich weiß endlich, wie es sich angefühlt hat.« Er probierte ein zaghaftes Lächeln. »Ich werde nie wieder mit dir darüber diskutieren, versprochen.«
Ich nickte stumm, während ich mir die Tränen aus dem Gesicht wischte. Aber sie hatten den Kampf noch nicht aufgegeben. Caelum zog mich erneut zu sich heran. Lange lag ich eng an seine Brust gelehnt und ließ zu, dass meine Tränen sein T-Shirt durchnässten. Als sie endlich versiegten, richtete ich mich schniefend auf und sah ihn fragend an.
»Wie kann das sein?«
Er zuckte lediglich mit den Schultern. »Magie?«
Zum ersten Mal seit Stunden musste ich lachen. »Meinst du, es war Zufall? Oder können wir das jetzt immer?«, überlegte ich laut.
»Wir könnten es noch mal ausprobieren, wenn du magst. Zeig mir ... zeig mir irgendwas, was du mir zeigen möchtest«, forderte er mich vorsichtig auf.
Ich überlegte eine Weile, dann lächelte ich ihn an und legte erneut meine Stirn an seine. Und dann zeigte ich ihm den Morgen nach meinem Kampf im Ruler’s Market. Ich zeigte ihm, wie er mich das erste Mal geküsst hatte. Es funktionierte. Er sah meine Verwirrung, meine überbordenden Gefühle, das Prickeln, welches sich durch meinen ganzen Körper zog, meinen Schmerz, als er mir gesagt hatte, dass es ein Fehler gewesen war, und meine Erleichterung, als er mich erneut geküsst hatte. Schließlich versuchte er mir seine Erinnerungen an den Moment zu schicken. Es klappte tatsächlich in beide Richtungen. Ich beobachtete die Szene durch seine Augen, konnte fühlen, wie zerrissen er gewesen war, wie unendlich schuldig er sich wegen des Kampfes gefühlt hatte und wie sehr er mich begehrt hatte. Und ich spürte zum ersten Mal sein übermächtiges Bedürfnis, mich zu beschützen. Es war absolut überwältigend.
Wir probierten es noch ein paarmal. Wir teilten den Moment unserer ersten Begegnung, den Abend bei Laoghaire, als wir von unserer Verbindung erfahren hatten, und auch den, als ich mir am Ende unseres Shoppingausflugs in New York das Bustier ausgesucht hatte. Okay, die Erinnerung war Caelums Idee und endete im Bett.
Es war das Faszinierendste, was wir beide je erlebt hatten. Wir stellten fest, dass es sogar reichte, wenn wir uns nur an den Händen hielten, aber intensiver war es, wenn wir unsere Stirn aneinanderlegten. Es war ein unvergleichliches Gefühl, absolutes Verstehen und absolutes Einssein.
Viel zu schnell waren wir am Ende der Woche angekommen. Ich hätte für den Rest meines unsterblichen Lebens in der Blase der Glückseligkeit bleiben können, aber wir mussten eine Prophezeiung aufhalten und diese Tatsache konnten wir keine Minute länger verdrängen. Die Zeit rannte uns davon.
Wir saßen auf dem Sofa und aßen einen portugiesischen Fischeintopf, den Ana und Rui uns heute zum Abschied vorbeigebracht hatten. Immer wieder fischte ich mir ein paar weitere Leckerbissen aus dem Topf, der zwischen uns stand, obwohl ich schon längst satt war.
»Okay, Caelum«, begann ich schließlich seufzend, während ich noch eine Muschel aus ihrer Schale pulte. »Wir können an diesem wunderschönen Ort die Welt nicht retten, stimmt’s?« Er schüttelte bedrückt den Kopf. »Aber wo sollen wir jetzt weitermachen? Wir haben überhaupt keinen Anhaltspunkt mehr, oder?«
Er stöhnte und wischte sich mit den Händen übers Gesicht. Auch er wollte das hier nicht hinter sich lassen. Aber der Funken Hoffnung, unsere Beziehung vielleicht doch ein unendliches Leben lang haben zu können, trieb uns beide an, mit der Rettung der Welt fortzufahren. »Doch, Würmchen, den haben wir.« Erstaunt sah ich ihn an. »Ich habe nach Kierons Sturz in dem offenen Portal eine Stadt gesehen.« Er seufzte. »Es war San Francisco.«
Ich stöhnte und grinste gleichzeitig. »Wenn ich in Geografie nicht meine komplette Schulzeit verschlafen habe, bedeutet das mal wieder einen langen Flug, oder?«
Er nickte mitleidig. »Um genau zu sein, zwölf Stunden und vierzig Minuten.«
Ich ließ mich rückwärts auf das Sofa fallen und verzog das Gesicht. »Hatte ich mein Verhältnis zum Fliegen eigentlich schon mal geklärt?«
»Ich glaube, noch nie«, erwiderte er lachend.
Dann stellte er den Topf zur Seite und liebte mich ein letztes Mal, bevor die Rettung der Welt wieder in Angriff genommen wurde.