Alles in mir erstarrte. Ich atmete nicht mehr und mein Herz hörte auf zu schlagen. Mit einem letzten Funken Hoffnung hob ich vorsichtig ihr Shirt an und entdeckte den langen Schnitt, der sich quer über ihren Bauch zog. Meine Verzweiflung war grenzenlos. »Der ist nicht von dem Oger, stimmt’s?«
Sie schüttelte den Kopf, dann schloss sie die Augen. Unsere Verzweiflung beflügelte sich gegenseitig und schien unsere Körper zu sprengen. Ich musste sie retten, musste denken, musste eine Lösung finden. Hinter mir hörte ich, wie das Tor geöffnet wurde. Ich nahm Lua auf den Arm und trug sie aus der Arena.
Wir hatten noch etwas Zeit. Bei normalen Menschen dauerte es etwa fünfundvierzig Minuten, bis sie an dem Gift starben. Ihr verlangsamter Stoffwechsel könnte uns zum zweiten Mal in ihrem Leben in die Hände spielen. Vielleicht hatte ich eineinhalb Stunden.
Sams und Stellas Refugium, von dem ich wusste, dass sie Engelstränen hatten, war über sechs Stunden entfernt und es würde auch nichts nutzen, Sam zum nächsten Portal zu rufen. Das war ebenfalls zu weit weg. Also musste ich eine erneute Bitte äußern. Mossarevs Schergen geleiteten uns in sein Büro, wo er uns bereits erwartete.
»Sie ist sogar noch besser als ihr Ruf. Ich ziehe meinen Hut«, stellte er bewundernd fest.
Ich holte tief Luft. »Du hast nicht zufällig Englatar im Haus?«
Er schüttelte den Kopf, ausnahmsweise ohne sein ekelerregendes Grinsen. »Nein, das habe ich nicht. Ich richte Kämpfe aus und bin nicht dafür zuständig, die Opfer wieder zusammenzuflicken.«
Ich hätte ihm für diese Antwort gerne alles Mögliche um die Ohren gehauen und sein verfluchtes Imperium in Flammen aufgehen lassen, aber dafür hatte ich keine Zeit. Ich musste nachdenken, welche Optionen mir blieben.
Zu meinem Erstaunen sprach er jedoch weiter. »Allerdings gibt es ein Refugium in American Falls, Idaho, etwa zwei Stunden von hier. Dort haben sie welches. Hier in der Nähe nicht. Ich werde Bescheid geben, dass ihr kommt. Mehr kann ich nicht tun.«
Zwei Stunden. Das war viel zu lang, aber unsere einzige Chance. »Was willst du dafür haben?«
Er zögerte für eine Sekunde. »Nichts. Sie hat mich beeindruckt, die Kleine. Sie hat es verdient zu überleben.«
Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. Das konnte auch nur Lua schaffen, den korruptesten und geldgierigsten Menschen der Welt zu einem Geschenk zu verleiten. Ich verdrängte den Gedanken, dass ich ihm nun vielleicht etwas schuldig war. Wir hatten es eilig. Es war bereits jetzt utopisch, dass sie so lange durchhalten würde, aber noch utopischer war es, wenn sich das Gift ungehindert in ihrem Körper ausbreitete.
»Könnte ich kurz das Bad benutzen?«
Er nickte. »Nur zu.«
Ich ging vor dem Waschbecken in die Knie und setzte Lua vorsichtig auf dem Boden ab, sodass sie sich an meinem aufgestellten Bein anlehnen konnte. Dann tränkte ich ein Handtuch mit kaltem Wasser. Noch war sie bei Bewusstsein. »Halt durch, Würmchen, bitte«, beschwor ich sie. »Du musst jetzt wirklich lange durchhalten.«
Sie schluckte, ihre Lider flackerten bereits ein wenig. Dann hob ich ihr Shirt an und begann die Wunde mit kaltem Wasser auszuspülen, wieder und wieder ließ ich es über ihren Bauch laufen.
Irgendwann lächelte sie. »Schon wieder kaltes Wasser.«
»Es tut mir leid«, entschuldigte ich mich leise.
Ich nahm einen Becher und füllte ihn. Sie trank gierig, gleich mehrere Becher hintereinander. Anschließend hob ich sie erneut auf den Arm und trug sie hinaus.
Mossarev sah uns nach. »Viel Glück.«
Ich nickte bloß zum Abschied. Bedanken konnte ich mich hierfür nicht.
Am Auto angekommen legte ich Lua vorsichtig auf den Beifahrersitz. Sie rollte sich sofort zusammen. Dann setzte ich mich ans Lenkrad, startete den Motor und fuhr in Richtung Idaho.
Ich sah auf mein Handy. Zwei Nachrichten von Mossarev. Ich öffnete die zweite. Es war die Adresse des Refugiums, also startete ich mein Navi. Zwei Stunden, neun Minuten. Inzwischen waren über zwanzig Minuten vergangen, seit der Kampf zu Ende war. Ich fuhr wie ein Irrer, fuhr um ihr Leben.
Und betete um ein Wunder.
Wider Erwarten sollte ich es bekommen, womit auch immer ich es verdient hatte. Kaum dass ich auf den Hof einer großen Villa gefahren war und den Motor ausgestellt hatte, wurde die Haustür geöffnet. Mossarev hatte uns tatsächlich angekündigt. Ich hob Lua aus dem Auto und ging die Stufen hinauf. Es war ein Mensch, der uns erwartete. Das war gut. Ich hätte ungern einem Dämon ihr Leben anvertraut.
Die Frau führte uns in ein Behandlungszimmer rechts vom Eingang, dort legte ich sie auf einer Liege ab. Sie gab mir eine Spritze. »Englatar, vier Milliliter«, informierte sie mich knapp. Ich betrachtete die bläuliche, leicht glitzernde Flüssigkeit in der Spritze und nickte ihr zu. Dann injizierte ich Lua das Gegengift. Ich schloss die Augen. Leider war es noch lange nicht vorbei. Sie könnte es schaffen. Sie hatte das Wunder vollbracht, es bis hierher zu schaffen. Aber so langsam wie das Gift in ihrem Körper gewirkt hatte, so langsam würde auch das Gegengift wirken.
Ich hatte keine Ahnung, ob sie noch so lange durchhalten würde, bis das Englatar seine volle Wirkung entfaltete. Abgesehen davon schoss mir plötzlich der Gedanke durch den Kopf, dass dies möglicherweise gar kein Gegengift, sondern nur gefärbtes Wasser gewesen war. Ich atmete tief durch, versuchte mich zu beruhigen und nicht in Panik zu verfallen. Schließlich waren wir hier in einem Refugium, auf heiligem Boden, wenn man so wollte.
Zum ersten Mal sah ich mein Gegenüber wirklich an. Es war eine Frau mittleren Alters, die ein offenes und freundliches Gesicht hatte. Ich hoffte, dass meine Menschenkenntnis mir hier keinen Streich spielte, aber diese Frau erschien mir nicht so, als ob sie uns hintergehen würde.
»Wie heißen Sie?«
Sie lächelte. »Ich bin Helen.«
Ich bemühte mich, freundlich zu sein, obwohl mir das in der momentanen Situation eher schwerfiel. »Ich würde die Wunde gerne einmal auswaschen, Helen, ist das möglich?«
Sie nickte. »Natürlich.«
Schnell füllte sie eine Schüssel mit kaltem Wasser und reichte mir einen frischen Lappen. Mit großer Sorgfalt wusch ich die Wunde aus, das kalte Wasser würde Lua nicht stören. Sie war viel zu weit weg.
Als ich fertig war, wollte ich so schnell wie möglich weiter, wollte zu den Wesen, denen ich hundertprozentig vertraute, deren Refugium aber noch immer viel zu weit entfernt war. Lua verlor sowohl durch die Platzwunde an der Schläfe als auch durch den Schnitt am Bauch weiterhin Blut, das würde sie nicht noch ein paar Stunden länger durchhalten.
Also versorgten wir diese Wunden ebenfalls notdürftig. Zu mehr war ich nicht bereit, so sehr Helen mich auch drängte, sie vollständig zu verarzten und über Nacht zu bleiben. Ich musste mehr Abstand zwischen die Arena und uns bringen und das konnte ich hier nicht.
Ich bedankte mich noch einmal, trug Lua zurück ins Auto und deckte sie zu. Wir hatten noch über vier Stunden Fahrt vor uns.
Ich betete, dass sie es schaffen würde. Und ich war nicht so großherzig wie sie. Es war mir scheißegal, ob die Erde vernichtet wurde oder nicht. Ich dachte einzig an sie und mich, wollte, dass sie lebte, wollte, dass ich weiterhin dieses wundervolle Wesen an meiner Seite hatte.
Ich überlegte lange, ob beten helfen würde, aber schließlich war sie das Kind eines Engels, da würde Gott sich ja wohl hoffentlich zuständig fühlen, also konnte ich es immerhin versuchen.
Nach etwa zwanzig Minuten bemerkte ich plötzlich eine Veränderung. Das Glühen unserer Verbindung wurde kräftiger, Lua ruhiger. Ihre Gesichtszüge, die selbst in der Bewusstlosigkeit angespannt gewesen waren, waren weicher geworden, friedlicher.
Vielleicht wirkten die Engelstränen bei ihr schneller als gewöhnliche Medikamente, weil sie selbst ein halber Engel war? Vielleicht hatte Gott meine Gebete erhört? Vielleicht war sie ihm auch einfach nur wichtig? Letztendlich war es mir völlig egal, woran es lag, ich war einfach bloß dankbar. Sie könnte es noch einmal schaffen. Vielleicht würde sie wirklich bei mir bleiben.
Ich rief Sam an, um ihn darauf vorzubereiten, dass wir in etwas mehr als drei Stunden bei ihm sein würden. Drei Stunden, in denen ich ungefähr eine Million Mal die Prophezeiung, meinen Vater, ihren Vater und jeden einzelnen Dämon der Hölle verfluchte. Drei Stunden, in denen ich mir schwor, sie nie wieder kämpfen zu lassen. Drei Stunden, in denen ich hoffte, dass die erste Nachricht von Mossarev wirklich den Aufenthaltsort des Höllensteins beinhaltete, damit all das hier endlich ein Ende hatte.
Wir erreichten nachts um halb zwei Sams Refugium. Er und Stella kamen aus dem Haus, sobald sie mein Auto hörten. Als ich ausstieg, umarmte mich Stella kurz. »Wie geht es ihr?«
Ich schluckte, merkte erst jetzt in ihrer Gegenwart, wie viel Angst ich die ganze Zeit über gehabt hatte. Zum ersten Mal, seit wir von Mossarevs Bar aufgebrochen waren, erlaubte ich es mir, das Wunder anzuerkennen und Zuversicht zuzulassen, dass Lua es wirklich überleben würde. Ich nickte Stella schweigend zu.
Dann öffnete ich die Beifahrertür und trug sie nach oben. Ich legte Lua auf die Liege, hielt dabei immer noch ihre Hand. Sam sah mir in die Augen. »Dann wollen wir mal.«
Und hier, an dem einzigen Ort auf der Erde, an dem wir wirklich sicher waren, konnte ich sie endlich aus ihren blutverkrusteten Sachen befreien und den Dreck und die Erinnerungen an den Kampf von ihr abwaschen. Endlich konnten Sam und ich sie medizinisch versorgen, konnten die Wunde am Bauch noch einmal auswaschen und die an der Schläfe erneut reinigen und nähen. Endlich konnte ich mich um die Prellungen kümmern, die sie im Kampf erlitten hatte, konnte ihr die Flüssigkeit zuführen, die sie benötigte, und konnte den Abstand zu dieser verfluchten Arena schaffen, den ich brauchte.
Es dauerte eine knappe Stunde, bis wir uns um alles gekümmert hatten. Stella hatte inzwischen das Zimmer für uns fertig gemacht. Es war dasselbe wie beim letzten Mal. Behutsam brachte ich Lua in unser Bett, holte eines meiner T-Shirts aus meinem Rucksack und zog es ihr an. Dann deckte ich sie zu und setzte mich auf die Bettkante.
Eine Weile betrachtete ich ihr schmales, von Kampfspuren gezeichnetes Gesicht, bevor ich ins Bad ging und duschte. Als ich wieder herauskam, nahm ich mein Handy vom Nachttisch. Dann atmete ich tief durch und öffnete Mossarevs erste Nachricht.