Ich war gestern Abend heilfroh gewesen, dass Lua so schnell eingeschlafen war, so war ihr Körper wenigstens zur Ruhe gekommen. Die Schmerzmittel hatten glücklicherweise für eine ruhige Nacht gesorgt und erstaunlicherweise hatte sie nicht einmal schlechte Träume gehabt.
All diese Umstände bewirkten, dass ich mich nicht ganz so schuldig fühlte wie sonst. Allerdings wusste ich auch nicht, wie es jetzt weitergehen sollte. Kieron und ich hatten gestern Abend noch lange überlegt. Wir waren auf Lua angewiesen, der Stein war ausschließlich ihr Navi, nicht unseres. Ansonsten hätte sich einer von uns allein auf die Suche gemacht und die Sache erledigt. Die Option bestand aber nicht.
So heftig verletzt mit ihr gemeinsam loszuziehen, ging mir tierisch gegen den Strich. Auf der anderen Seite konnten wir es uns nicht leisten, tagelang zu warten und nichts zu tun. Gorzata wäre bis dahin über alle Berge und wir hätten keinen Anhaltspunkt mehr, wo wir ihn suchen sollten. Vielleicht war er ohnehin längst weg, schließlich waren wir aufgrund der Tatsache, dass wir keine Portale benutzen konnten, ein paar Tage im Rückstand. Möglicherweise war das alles hier aber auch ein amüsantes Versteckspiel für ihn und er genoss es, dass er uns jedes Mal haarscharf durch die Lappen ging.
Es war eindeutig zu früh, um sich über ein mögliches Schema seines Vorgehens Gedanken zu machen, dennoch kreisten die Szenarien endlos in unseren Köpfen. Zu einer Entscheidung waren wir gestern Abend nicht mehr gelangt. Wir hatten uns nur noch darauf verständigt, Lua ausschlafen zu lassen, und dann zu gucken, wie es ihr ging.
Als hätte sie mein Grübeln bemerkt, schlug sie die Augen auf und lächelte mich an. Allerdings nicht ohne schmerzverzerrtes Gesicht.
»Hey, guten Morgen. Wie geht es dir?«
Sie richtete sich vorsichtig auf, bemüht, den Arm nicht zu belasten. »Morgen. Ich denke, ganz gut.«
»Du bist eine grottenschlechte Lügnerin«, entlarvte ich sie.
»Es geht schon, wirklich.«
»Das tut es nicht, also hör auf, mir was vorzumachen.«
»Ein bisschen Heldentum könntest du mir ruhig eingestehen«, nölte sie mit einem etwas gequälten Lächeln.
»Du hast meine volle Heldenverehrung, ehrlich. Aber ich könnte dir zusätzlich das unwiderstehliche Angebot machen, sie ohne Schmerzen zu genießen.«
Sie biss sich auf die Unterlippe, während sie darüber nachdachte, mein Angebot anzunehmen. Verdammt, sie musste furchtbare Schmerzen haben, sonst hätte sie sofort abgelehnt. Also stand ich auf und holte ein paar Tabletten, die ich ihr mit einem Glas Wasser servierte. Sie nahm sie schweigend ein.
»Leg dich noch mal hin, okay? Wenigstens bis sie gewirkt haben.«
Sie nickte, dann half ich ihr zurück in die Kissen und sie schloss sofort ihre Augen. Nie im Leben konnte ich sie in dem Zustand durch die Stadt schleifen.
Ich rief bei der Rezeption an und bat darum, uns Frühstück aufs Zimmer zu bringen. Dann schrieb ich Kieron eine Nachricht, dass es nicht so gut aussah und wir erst mal abwarten müssten, was die nächste Stunde und die Schmerzmittel brachten.
Luas Gesichtszüge waren selbst mit geschlossenen Augen angespannt, sie atmete etwas schwerer als sonst. Ihre zarten Hände lagen locker auf der Bettdecke. Niemand hätte bei ihrem Anblick geahnt, dass diese Hände geschickt ein Messer führen konnten, geschweige denn, dass sie in der Lage waren, Dämonen zu töten. Selbst für mich war es schwer zu begreifen.
Genauso wie die Tatsache, dass dieses zarte, unendlich mutige und wunderschöne Geschöpf zu mir gehörte. Ich hätte mich stundenlang darin verlieren können, sie anzusehen. Allerdings fand ich, dass dies weder der richtige Ort noch der passende Zustand war.
Nach einer halben Stunde begannen sich ihre Gesichtszüge endlich ein wenig zu entspannen. Als es kurz danach an der Tür klopfte, öffnete ich und nahm unser Frühstück entgegen. Lua hatte in der Zwischenzeit die Lider aufgeschlagen. Ich musste schmunzeln. Wahrscheinlich hatte ihr ureigener Instinkt für Essen gerade eingesetzt. Erneut richtete sie sich auf, dieses Mal sehr viel müheloser.
Ich ging mit dem Tablett zum Bett und stellte es auf der Decke ab. Dann hob ich die Deckel von den Tellern, was ihr ein begeistertes Strahlen ins Gesicht zauberte.
»Ich habe echt einen Riesenhunger. War wohl nicht besonders schlau von mir, mein Abendessen freiwillig wieder herzugeben.«
»Na ja, freiwillig hätte ich das jetzt nicht unbedingt genannt«, räumte ich ein.
Sie grinste mich an und wollte zum Messer greifen, aber ich kam ihr zuvor.
»Was darf es sein, die Dame? Heute mit Service am Tisch.«
Sie lachte und es tat wirklich gut, das zu sehen. »Das brauchst du nicht. Ich schaffe das schon.«
»Oh nein«, entgegnete ich kopfschüttelnd. »Das gehört zu Ihrem Servicepaket, also keine Widerrede.«
Sie hob fragend eine Augenbraue. »Und welches Servicepaket ist es, das ich da gebucht habe?«
»Heldenverehrung.«
Ihre Augen leuchteten, als sie sich genüsslich gegen das Betthaupt lehnte. »Okay, also ein Brötchen mit Käse und ein bisschen Rührei bitte. Und dann: Nachschub nicht stoppen.«
Wir lachten befreit. Es ging nicht nur ihr, sondern auch mir besser. Ich hatte die vage Befürchtung, dass ich mich zu einem echten Weichei entwickelte, aber ich konnte es einfach nicht ertragen, wenn sie Schmerzen hatte.
Während ich dabei war, Lua die zweite Brötchenhälfte zuzubereiten, stellte sie die Frage des Tages: »Wie wollen wir heute vorgehen? Ich habe ja dummerweise gestern mal wieder nicht bis zu Ende zugehört.«
Ich reichte ihr das Brötchen. »Da gab’s auch nicht mehr viel zu hören. Wir wollten abwarten, was der Tag heute so bringt.«
Sie überlegte kurz. »Fehlen nur noch ein, zwei Brötchen, dann bin ich startklar.«
»Das hatte ich befürchtet«, stöhnte ich. »Ich kann dich vermutlich nicht davon überzeugen, wenigstens noch einen Tag abzuwarten?«
Für diesen Vorschlag erntete ich einen sehr ungeduldigen Blick. »Nein, kannst du nicht. Erstens wird sich mein Zustand bis morgen nicht geändert haben und zweitens ist uns Gorzata zwei Tage voraus. Abgesehen davon brauche ich meinen rechten Arm nicht, um im Auto zu sitzen und einen Stein anzugucken.«
Ich stöhnte erneut und fuhr mir durch die Haare. »Aber du brauchst ihn vielleicht, wenn wir ihn heute finden sollten.«
Sie schüttelte den Kopf. »Dann könnt ihr für mich kämpfen.«
»Hat ja gestern auch hervorragend funktioniert«, gab ich ironisch zurück.
Sie sah mich ernst an. »Nur, weil es gestern schiefgegangen ist, heißt es nicht, dass das jetzt jeden Tag so ist. In Slowenien sind wir auf über fünfzig von denen getroffen und ich hatte nicht mal einen Kratzer.«
Ja, aber dafür fünfzehn Stunden Dauerschlaf. Ich schenkte mir die Bemerkung. Sie hatte recht. Es war besser, wenn wir uns auf die Suche machten, die meiste Zeit würden wir dabei wirklich im Auto verbringen. Also stimmte ich ihr schweren Herzens zu.
Fünf Minuten später lümmelte Kieron gemütlich in dem kleinen Sessel in unserem Zimmer und genoss sein zweites Frühstück. Wir diskutierten eine Weile, wie wir bei der Suche vorgehen sollten. Eigentlich glaubte keiner von uns, dass sich Gorzata irgendwo in der belebten Innenstadt aufhielt. Auf der anderen Seite würde ihm genau das vielleicht den nötigen Schutz bieten. Er könnte schlichtweg in der Menge untertauchen.
Aber was, wenn sie hier ebenfalls ein Nest hatten? Dann wäre es eher sehr weit außerhalb, eine so große Anzahl von Dämonen könnte man mitten unter Menschen auch nicht mit viel Magie verbergen.
Lua brachte noch einmal die Theorie ins Spiel, dass Gorzata sich vielleicht bei vermeintlichen Widersachern Lucifers verkroch. Leider fiel uns keiner ein, der hier in Budapest lebte.
Letztendlich kam uns die Stadt selbst zu Hilfe. Wir entschieden, völlig stumpf einen Bezirk nach dem anderen abzuarbeiten. Die Stadt war in dreiundzwanzig Bezirke eingeteilt, wir würden sie nach und nach abfahren. Der Stein hatte in Slowenien bereits geleuchtet, als wir noch über eine Stunde von unserem Ziel entfernt gewesen waren. Wir mussten also definitiv nicht jede Gasse inspizieren, was hier ohnehin schwierig gewesen wäre. Es würde reichen, wenn wir die Bezirke grob durchkämmten.
Sorgfältig schlugen wir den Stein in ein Tuch ein und legten ihn in meinen Rucksack. Ich packte zusätzlich ein paar Getränke und weitere Schmerzmittel ein. Der Tag könnte lang werden. Dann machten wir uns auf den Weg. Es war bereits nach zwölf Uhr mittags, als wir endlich im Auto saßen, doch Hauptsache, wir fingen an.
Der Rest des Tages war einfach nur ätzend. Der erste Bezirk war wunderschön, es war das Burgviertel. Lua staunte und schaute immer wieder fasziniert aus dem Fenster. Sehenswürdigkeiten genießen und erleben sah allerdings anders aus. Aus dem Fenster eines kleinen Mietwagens war selbst Weltkulturerbe nur so semischön.
Die Bezirke zwei bis vier waren vergleichsweise groß und kosteten uns viel Zeit. Zumal der Budapester Verkehr es zum Teil in sich hatte. Manchmal standen wir mehr, als dass wir fuhren. Zwischendurch machten wir kurze Pausen, um uns die Beine zu vertreten oder eine Kleinigkeit zu essen.
Gegen Nachmittag spürte ich, dass Lua wieder Schmerzen bekam, also verabreichte ich ihr erneut ein paar Tabletten. Dieses Mal wurde sie davon zu allem Überfluss furchtbar müde, sodass sie immer wieder für einige Minuten die Augen schloss. Von dem eigentlich wunderschönen fünften Bezirk bekam sie so kaum etwas mit.
Der Stein lag den ganzen Tag über in ihrer Hand und schien uns zu verhöhnen. Nicht nur einmal schlich sich eine böse Stimme in meinen Kopf, die mir sagte, dass wir hier im schlimmsten Fall tagelang ergebnislos herumkurven konnten. Keiner von uns wusste schließlich, ob sich der Höllenstein überhaupt noch in der Stadt befand. Vielleicht wurden wir längst von Gorzata beschattet und er lachte sich schlapp über uns, während er mit seinem Stein immer dann verschwand, wenn wir ihm zu nahe kamen. Es schien ein hoffnungsloses Unterfangen.
Gegen acht Uhr abends hatten wir ungefähr die Hälfte des sechsten Bezirks abgefahren. Die Stimmung war bereits eine ganze Weile auf dem Nullpunkt, als Lua sich plötzlich auf der Rückbank bemerkbar machte.
»Hey, war in den Schmerzmitteln mehr drin, als du mir verraten hast, oder seht ihr es auch?«
Und ob wir es sahen. Ihr Stein begann ganz sachte zu schimmern. Ein wenig Euphorie machte sich breit. Der Stein der Hölle war in der Stadt. Das war ohne Frage die beste Nachricht des Tages. Die schlechte Nachricht war, dass wir trotzdem weiter völlig planlos umherirrten.
In Slowenien hatten wir eine Adresse gehabt, eine Richtungsvorgabe, dort hatten wir lediglich kontrollieren müssen, ob das Leuchten heller wurde. Hier passierte es uns hingegen ständig, dass es wieder schwächer wurde. Wechselten wir dann die Richtung, hörte es zum Teil ganz auf. Also fuhren wir zum Ausgangspunkt zurück, um von dort eine andere Richtung einzuschlagen und zu schauen, wie der Stein reagieren würde.
Weitere drei Stunden und etliche Nervenzusammenbrüche später, standen wir im siebten Bezirk vor einer coolen Bar, die eindeutig die Klientel ›Hipster‹ beherbergte. Der Stein leuchtete heller als je zuvor an diesem Tag. Eine miese Spelunke hätte vermutlich besser ins Klischee gepasst, aber da wir alle drei die deutliche Präsenz von zwei Hohedämonen spürten, schienen wir am Ziel zu sein. Damit hatte keiner von uns heute noch gerechnet, trotzdem nahmen wir das Geschenk dankbar an.
Wir suchten einen Parkplatz und machten uns dann auf den Weg zu der Bar. Lua hatte ich fest an meiner Hand, und ich betete inständig, dass ich sie heute ausreichend beschützen konnte. Eine weitere Verletzung würde ihr Körper nicht wegstecken.
Ich legte meinen Arm um sie und gab ihr einen letzten Kuss auf ihren Scheitel. Gott war für gewöhnlich nicht mein Ansprechpartner, dennoch bat ich ihn heute, auf dieses kleine Wesen aufzupassen. Ich hoffte, dass er etwas für sie übrighatte, schließlich spielte sie in seinem Team.