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40. Lua

Vogelgezwitscher drang langsam in mein Bewusstsein und vermittelte mir das Gefühl von friedlicher Idylle. Dann spürte ich meinen Rücken, er schmerzte. Ich wollte mich auf die Seite drehen, um ihn zu entlasten, was mir jedoch nur noch mehr Schmerzen bereitete. Leise stöhnte ich auf. Sofort merkte ich, wie zwei sanfte Hände mich festhielten.

»Schsch, Würmchen. Nicht bewegen. Bleib einfach liegen, bitte.«

Langsam öffnete ich die Augen. Caelum saß bei mir und betrachtete mich. Sein Blick war voller Mitleid. Ich sah mich im Zimmer um. Wir waren wieder bei Sam. Der Blick in den Wald war so friedlich und wunderschön wie eh und je.

Die Erinnerung überrollte mich völlig unvermittelt. »Warum sind wir noch am Leben?«, fragte ich irritiert.

Er lächelte mich an, ich spürte seine Erleichterung. »Weil du ausnahmsweise mal auf mich gehört hast und ganz, ganz lange durchgehalten hast, so wie ich es dir gesagt habe.«

An diese Ansage konnte ich mich bloß vage erinnern. An die absolute Verzweiflung hingegen, die ich direkt nach dem Kampf gespürt hatte, sehr deutlich. »Caelum, ich dachte, ich hätte uns alle umgebracht.«

Er zog mich vorsichtig in seine Arme und wiegte mich. Es tat furchtbar weh, aber es war mir egal. Ich brauchte seine Nähe und seinen Halt, sonst wäre ich an meiner Schuld erstickt. Nach einer endlos langen Zeit beruhigte ich mich langsam.

Caelum löste sich ein wenig von mir, sein Blick war zärtlich. »Du hast uns nicht umgebracht, Würmchen. Es geht uns gut, Kieron und mir geht es gut. Aber um dich sollten wir uns jetzt noch mal kümmern.«

Ich lächelte gequält. Das Angebot nahm ich gerne an.

Bevor er das allerdings tat, kam mir plötzlich eine Frage in den Sinn. »Wie lange sind wir schon hier?«

»Zwei Tage und drei Nächte.«

Ich riss meine Augen auf. Wieder nistete sich die Verzweiflung bei mir ein. Mein Körper bremste uns alle ständig aus. Wir hatten nicht die Zeit, die ich zur Erholung brauchte. Erneut hatten wir zwei Tage verloren und es fühlte sich auch nicht so an, als ob wir morgen weitersuchen könnten. Jegliche Zuversicht, die noch in mir gewesen war, verabschiedete sich ins Universum.

»Caelum, wie sollen wir es bloß jemals rechtzeitig schaffen?«, fragte ich unglücklich.

Er strich mir über die Wange. »Wir werden es schaffen. Lucifer hilft uns und Kieron bringt vielleicht auch neue Informationen mit. Vielleicht kriegen sie aus Gorzata irgendwas raus. Wenn die Verbündeten weniger werden, steigen unsere Chancen. Und unser Kampf war nicht umsonst. Mossarev hat seinen Teil der Abmachung erfüllt. Wir haben einen neuen Namen, und um ihn zu finden, müssen wir auch nicht um die halbe Welt fliegen.«

»Wer ist es?«

»Sein Name ist Andras. Er ist ein sehr unsympathischer Hohedämon und lebt in Chicago. Aber um den kümmern wir uns später. Jetzt gehen wir duschen.«

Okay, ein Hauch von Zuversicht hatte gerade den Weg zu mir zurückgefunden. Caelum klebte mir die Wunde am Bauch ab. Dann half er mir aus dem Bett und ging mit mir ins Bad. »Den Rest schaffe ich schon allein, ehrlich.«

Er schüttelte den Kopf. »Die Wunde an deinem Bauch ist noch nicht ansatzweise verheilt. Wenn du auch nur einmal die Arme hebst, um deine Haare zu waschen, fangen wir wieder ganz von vorne an. Also nein. Ich helfe dir.«

Ich war froh, dass Caelum mich ausreichend mit Schmerzmitteln versorgt hatte, sonst wäre das Prasseln des Wassers auf Rücken und Schultern die Hölle gewesen. So war es ein wirklich gutes Gefühl. Ich lehnte meinen Oberkörper gegen Caelums Bauch, bettete meinen Kopf an seine Brust und ließ es zu, dass er mich behutsam einseifte. Und während das warme Wasser über unsere Körper lief, hoffte ich, dass mit dem Schaum auch mein Gefühl der Schuld und der Verzweiflung mit in den Abfluss gespült wurden.

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»Du musst unbedingt etwas essen, Würmchen. Möchtest du, dass ich dir was hole, oder magst du mit in die Küche kommen?«

Draußen dämmerte es bereits, was mir zeigte, dass ich nach unserer Dusche schon wieder mehrere Stunden Schlaf hinter mir hatte. Aber auch ohne diese Erkenntnis musste ich nicht eine Sekunde über eine Antwort nachdenken. »In die Küche.«

»Alles andere hätte mich auch gewundert«, bemerkte er trocken.

Dort trafen wir auf Stella und Sam, die gerade damit begonnen hatten, das Abendessen zuzubereiten. »Hi Lua, ich hatte nicht gedacht, dich so schnell hier zu sehen. Bei Caelums Umgang mit Schmerzmitteln hätte ich dich vor morgen früh nicht erwartet«, begrüßte uns Stella schmunzelnd. Da hatten wir wohl die gleiche Einschätzung.

Es tat gut, die beiden wiederzusehen. Wenn ich schon eine unfreiwillige Auszeit nehmen musste, dann wenigstens hier.

Während der Vorbereitungen für das Abendessen wurde ich sehr vehement zum Nichtstun verdammt. Das war auch bei meinem letzten Aufenthalt hier so gewesen, deshalb machte es mir nicht allzu viel aus. Ich wusste, dass die Sache in ein bis zwei Tagen wieder anders aussehen würde.

Als wir gerade mit dem Essen begonnen hatten, stand Kieron plötzlich in der Küche. »Hey, ihr hättet ruhig mal auf mich warten können. Wenn ich schon die ganze Zeit euer Postbote bin, könntet ihr wenigstens die Mahlzeiten auf mich abstimmen. Ist ja nicht so, dass dein alter Herr mir jedes Mal ein Drei-Gänge-Menü serviert, wenn ich zu Besuch komme.«

Nachdem wir Kieron alle nacheinander lachend begrüßt hatten, erbarmte sich Stella als Erste. »Komm her und setz dich. Vielleicht können wir ja noch ein paar Reste zusammenkratzen«, foppte sie ihn. Als ob es in diesem Haus jemals zu wenig zu essen geben würde.

Kieron hockte sich murrend hin. »Und da sagt man mir, ich hätte keine Manieren.«

Und schon gab’s von Sam einen erneuten Schlag auf den Hinterkopf. »Hast du auch nicht, sonst hättest du dir die Hände gewaschen, bevor du dich hinsetzt.«

Während wir verzweifelt um Beherrschung rangen, langte Kieron ordentlich zu und füllte seinen Teller. »Die sind sauber.«

Obwohl die Stimmung vermeintlich gelöst war, stellte sich bei mir keine Entspannung ein. Meine Gedanken kreisten unentwegt um unsere Zukunft. Die Aufgabe hatte sich so fest in meinem Kopf eingenistet, dass ich es nicht mehr schaffte, sie wegzuschieben. Die mangelnde Zeit machte mich schier wahnsinnig. Ich schämte mich dafür, in Portugal so sorglos mit ihr umgegangen zu sein. Würden wir am Ende die Menschheit nicht retten können, weil wir unsere Zweisamkeit unbeschwert genossen hatten?

Caelum bemerkte meinen Zustand. »Hey, Würmchen, was ist los?«

Ich seufzte. »Ich frage mich nur, wie es weitergeht«, gab ich schließlich unumwunden zu, wohlwissend, dass ich die gute Stimmung damit ruinieren würde. »Uns rennt die Zeit davon. Ich kann hier nicht noch mal tagelang untätig rumsitzen und mir eine Auszeit nehmen.«

Alle Anwesenden musterten mich aufmerksam. Schließlich war es Sam, der das Schweigen brach. »Dann sollten wir darüber sprechen.«

Ich atmete tief durch. »Also, wer ist dieser Andras?«

Die vier sahen sich an und warteten offensichtlich jeder darauf, dass der andere das Wort ergriff. Das war, wie ich fand, kein so wahnsinnig gutes Zeichen.

Letztendlich begann erneut Sam zu sprechen. »Er ist ein mieser Kerl, über zweitausend Jahre alt und auch genauso lange damit beschäftigt, Zwietracht zu säen. Er liebt es, Leute gegeneinander auszuspielen oder aufzubringen. Seit ein paar Jahrhunderten ist er zusätzlich so etwas wie ein hoher Offizier, der ganzen Legionen von Dämonen das Töten beibringt, beziehungsweise sie darin perfektioniert. Es wäre also durchaus möglich, dass er ein Nest leitet oder sogar als Drahtzieher hinter den Nestern steht.«

Kieron schaltete sich ein. »Das tut er tatsächlich.« Während wir uns ihm erstaunt zuwandten, grinste er wissend. »Gorzata hat ein wenig geplaudert. Andras ist derjenige, der die Dämonen für Skaslegur rekrutiert und sie für die Rituale vorbereitet.«

Ich schaute ihn entgeistert an. Ich hatte das Bild der grausam zugerichteten Dämonin am Machu Picchu nicht vergessen. »Er foltert sie, um sie auf das Ritual vorzubereiten?« Kieron nickte. »Aber das ergibt keinen Sinn«, stellte ich angewidert fest.

Jetzt schaltete sich Caelum mit ein. »Das muss es auch nicht. Manchmal geschehen Dinge aus purer Grausamkeit.« Seine Miene war schuldbewusst, als ob er persönlich für die Handlungsmotive irgendwelcher Bestien verantwortlich war. »Es verschafft ihm vermutlich Befriedigung, sie zu brechen. Mit seinen Soldaten geht er ähnlich um. Er quält sie, um sie stärker zu machen.«

Das war so widerwärtig, dass mir schlecht wurde. Ich hatte nicht den Hauch eines Verlangens, dem Kerl zu begegnen. »Heißt das, er ist sehr stark?«

Caelum schüttelte den Kopf. »Seine Kraft ist nicht unser Problem. Trotz seines Alters ist er nicht einer der Stärksten. Seine Macht basiert nicht auf roher Gewalt, sie geht eher von seiner Heimtücke aus und von seiner Kreativität hinsichtlich seiner Grausamkeiten.« Er seufzte.

Sam nahm ihm den nächsten Satz ab. »Jeder von uns erwartet einen Hinterhalt, wenn ihr auf ihn trefft«.

Oh, da hatten sie sich während meiner Schlafexzesse wohl bereits etwas länger unterhalten. »Und hat irgendjemand hier am Tisch eine Idee, wie dieser Hinterhalt aussehen könnte beziehungsweise wie wir ihm entgehen könnten?«

Plötzlich breitete sich Stille im Raum aus. Entweder hatten sie keine Lösung oder sie wollten sie mir nicht gerne mitteilen. Beides war keine wirklich beruhigende Variante.

Schließlich erbarmte sich Kieron in seiner unglaublich einfühlsamen Art. »Specki, du bist dieses Mal raus.«

»Was soll das heißen?«, erkundigte ich mich verwundert.

»Soll heißen, du bist raus. Wir nehmen dich nicht mit. So ’ne Scheiße wie bei Mossarev braucht keiner noch mal.«

»Hey, das war schließlich keine Absicht!«

Er hob entschuldigend die Hände. »Ach was! Es war auch keine Absicht von mir, mich von einem verkackten Baum durchbohren zu lassen. Wir sind also quitt. Aber wenn wir es denn schon vorher ahnen, dass es auf so eine Scheiße hinausläuft, dann können wir zumindest versuchen, sie zu vermeiden. Es sei denn, wir stellen in einer allgemeinen Abstimmung fest, dass wir alle drei Todessehnsucht haben.«

Ich sah ihn wütend an. »Also, was habt ihr ohne mich vor?«

Bevor wir jedoch weiter aneinandergeraten konnten, schaltete Sam sich etwas diplomatischer ein. »Lua, du bist im Moment offensichtlich diejenige, auf die es alle besonders abgesehen haben. Die Anhänger Skaslegurs wissen, dass du den Himmelsstein besitzt, und das lässt sogar die darauf schließen, dass du irgendwas mit der Sache zu tun hast, auch wenn sie nicht genau wissen, was es ist, schon gar nicht, was du bist. Deshalb müssen wir dich nach den Ereignissen der letzten Wochen aus der Schusslinie nehmen.«

Bis dahin konnte ich ihm folgen, zumal ich nicht scharf darauf war, weiter in der Schusslinie zu stehen. Ich fand, dass ich dort bereits ausreichend Erfahrungen gesammelt hatte. Dennoch wusste ich nicht, worauf er genau hinauswollte. »Und was heißt das jetzt für unser weiteres Vorgehen?«, fragte ich kritisch.

Erneut warfen sich die vier flüchtige Blicke zu, was mir langsam echt ein bisschen zu bedeutungsschwanger wurde. Dieses Mal opferte sich Stella für eine Antwort. »Lua, unsere Idee ist, dass wir alle fünf nach Chicago gehen.« Wann waren sie sich denn darüber einig geworden? Kieron war wohl heute nicht das erste Mal hier. »Wir werden uns der von Mossarev genannten Adresse mit dir so weit annähern, bis wir sagen können, ob der Stein noch dort ist oder nicht. Falls Andras ihn hat, überlassen wir die Sache Caelum und Kieron. Sie sind am stärksten und haben im Falle eines Kampfes die besten Chancen. Wir drei fahren zurück ins Hotel und warten, ob sie den Stein bei ihm finden. Wir bleiben zu dritt in der Lobby. Dort können sie uns direkt vor den Augen der anderen Gäste nichts antun.«

Ich kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »Und wenn der Stein dort nicht mehr ist?« Ich ahnte die furchtbare Antwort.

Kieron gab sie. »Dann werden wir uns die Antworten, die wir brauchen, von Andras holen.«

Schließlich wandte sich Caelum fragend an mich. »Was meinst du zu dem Plan?«

Ich überlegte lange. Ich wollte gar nicht unbedingt dabei sein, aber ebenso wenig wollte ich von ihm getrennt sein. Doch so sehr ich meinen Status hasste, ich war definitiv von uns allen das schwächste Glied in der Kette. Und wir mussten alle drei am Leben bleiben. Bis zum bitteren Ende. Also stimmte ich schweren Herzens zu.

»Er ist in Ordnung.« Ich schloss die Augen, eigentlich wollte ich die nächste Frage mal wieder nicht stellen. »Wann geht es los?«, erkundigte ich mich dennoch vorsichtig.

Die Antwort kam von Sam. »Frühestens in vier Tagen. Vielleicht später. Wir machen es davon abhängig, wann ich dich für fit genug halte.«

Oh, da hatte wohl einer hier eindeutig das Sagen. Ich schaute unsicher zu Caelum und Kieron. Sie nickten beide. Na dann. Wenn alle mit ihm übereinstimmten, konnte ich meine Antwort ja auch kurz halten. »Okay.«

Eine Weile aßen wir schweigend weiter, es gab jedoch noch eine Frage, die in meinem Kopf einen Sitzstreik veranstaltete und einfach nicht gehen wollte, obwohl ich ahnte, dass die Antwort mir gegebenenfalls schlaflose Nächte bereiten würde. Dennoch siegte wie so oft meine Neugier. »Kieron, was hat Lucifer mit Gorzata gemacht?«

Er sah mich kopfschüttelnd an. »Ach, Specki, warum willst du eigentlich immer alles so genau wissen?« Ich zuckte etwas betreten mit den Schultern. »Lucifer und ein paar enge Vertraute von ihm haben als Erstes versucht, ihn von der Essenz zu befreien, um ihn wieder zurückzuholen. Es ist ihnen aber leider nicht gelungen. Also haben sie ihn zum Reden gebracht, und nein, ich werde dir nicht erzählen wie.«

Auf die Information verzichtete ich freiwillig. Auf eine andere nicht. »Was hat er verraten?«

»Nicht viel. Andras ist wie gesagt der, der die Dämonen für Skaslegur rekrutiert und ihm zuspielt. Abgesehen davon stellen sie eine Armee auf, aber das hatten wir ja ohnehin vermutet. Er hat nicht verraten, wo sie sie zusammenziehen, aber den Ort von zwei weiteren Nestern haben sie erfahren. Und den Namen von vier weiteren Hohedämonen, die er auf seine Seite gezogen hat. Lucifer kümmert sich darum. Mehr haben sie nicht aus ihm rausgekriegt.«

»Verhören sie ihn noch weiter?«

Kieron schüttelte langsam den Kopf. »Das wird leider nicht möglich sein. Gorzata hat sich heute Nachmittag sehr menschlich und unspektakulär in seiner Zelle erhängt. Offensichtlich wollte er verhindern, dass sie noch mehr Informationen aus ihm herauspressen.«

Den Reaktionen nach zu urteilen, schien die Nachricht auch für alle anderen neu zu sein. Ich musste das Gesagte erst einmal verarbeiten. Letztendlich hatten wir in Chicago also eine doppelte Aufgabe: Wir mussten den Stein bekommen und im besten Fall die rechte Hand Skaslegurs ausschalten. Das klang für mich nicht unbedingt nach einem Spaziergang.

Bevor ich jedoch erneut in ein Gedankenkarussell starten konnte, erlöste Caelum mich. »Lass uns hochgehen, Würmchen. Ich schätze, du könntest ein bisschen Ruhe vertragen.«

Das stimmte definitiv. Wir wünschten Stella und Kieron eine gute Nacht. Sam ging mit uns nach oben, er wollte mir noch einmal Schmerzmittel verabreichen. Nach der dritten Stufe blieb ich stehen. Himmel, warum war ich schon wieder so verdammt schwach? Ich schluckte und kämpfte mit der Verzweiflung, als mich Caelums Arme bereits sanft hochhoben.

»Ich schaffe das allein, bestimmt.«

»Nein, das schaffst du nicht«, entgegnete er schonungslos. Dann wurde seine Stimme weicher. »Aber das brauchst du auch nicht, okay?«

»Ich würde es aber so gerne schaffen.«, flüsterte ich.

Caelum sah mich schmunzelnd an. »Andere Frauen würden alles dafür geben, von mir auf Händen getragen zu werden, wusstest du das?«

Jetzt musste auch ich trotz meiner Verzweiflung schmunzeln. »Ich hatte es zumindest vermutet.«