Schmerz.
Unendlich großer, alles beherrschender Schmerz. Er füllte mich aus, fraß sich in jede Faser meines Körpers, nahm von mir Besitz, ließ mich kaum atmen.
Noch nie hatte ich so etwas gespürt. Niemals hätte ich mir auch nur vorstellen können, dass es einen solchen Schmerz gab. Ich hatte unendlich gelitten, als ich Lua bei Sam allein zurückgelassen hatte. Im Vergleich hierzu war es nichts gewesen.
Dieser Schmerz bohrte sich bis in den letzten Winkel meiner Seele, zerfetzte meinen Körper, riss mir das Herz aus der Brust und ließ mich in abgrundtiefer Dunkelheit zurück. Ich wusste nicht, wie ich diese Pein auch nur eine Minute ertragen sollte.
Aber es war nicht mein Schmerz. Es war ihrer.
Ich wusste nicht, warum ich ihn noch wahrnehmen konnte. Die Erinnerung schwappte unerwartet heftig über mich. Ein Giftdämon hatte mich erwischt. Ich hätte längst tot sein müssen.
Konnte ich Lua über den Tod hinaus fühlen? War unsere Verbindung so stark gewesen, dass mich ihre Emotionen auch jetzt noch begleiteten? Wenn es so war, war es schlimmer als jedes Höllenfeuer.
Sie so leiden zu spüren und ihr keinen Trost spenden zu können, ging über jedes Maß des Erträglichen hinaus. Es war eine nicht endende Folter, die nur noch einen einzigen Gedanken zuließ: Ich musste diesen Schmerz stoppen, musste es wenigstens versuchen. Wenn ich Lua noch spüren konnte, konnte sie es vielleicht auch.
Ich schickte alles an Liebe zu ihr, was ich in mir hatte. Schickte alles an Trost, alles an Wärme und Zuneigung – und bekam unermessliche Verzweiflung zurück.
Ihre Verzweiflung brachte mich schier um den Verstand, aber es war eine Reaktion. Sie hatte meine Gefühle empfangen.
Ein Hoffnungsschimmer entflammte in mir. Vielleicht war ich nicht tot. Vielleicht hatte irgendjemand ein Wunder vollbracht. Lua selbst war einzig durch mehrere Wunder am Leben. Vielleicht hatte auch ich eines erfahren dürfen. Ich musste es herausfinden, auch wenn mich die Angst vor der Antwort förmlich zerriss.
Ich versuchte meine Umgebung wahrzunehmen, meine Sinne zu aktivieren, soweit es mir abseits dieses monumentalen Schmerzes möglich war.
Frühlingstag, ich konnte sie riechen.
Nicht enden wollendes Wimmern, ich konnte sie hören.
Nässe auf meinem Bauch, ich konnte ihre Tränen spüren.
Langsam, sehr langsam sickerte eine Erkenntnis zu mir durch. Ich war benommen, aber ich war mir sehr sicher, nicht tot zu sein. Niemals hätte ich all das wahrnehmen und empfinden können, wenn ich ohne Leben gewesen wäre.
Vorsichtig öffnete ich die Augen. Es schien mir die größte Anstrengung meines Lebens zu sein, doch letztendlich gelang es. Wir waren nach wie vor in dem kleinen Motelzimmer. Draußen war es dunkel.
Und Lua war hier. Bei mir. Sie lag mit dem Kopf auf meiner Brust und weinte. Sie weinte so herzzerreißend, wie ich sie selbst in ihren schlimmsten Momenten nicht hatte weinen sehen. Und ich war bei ihr. Mit dieser Gewissheit schaffte ich es, endgültig zurück ins Leben zu finden.
Ich sog ihren Geruch ein, den ich so unendlich liebte. Dann hob ich meine Hand und strich ihr vorsichtig über den Kopf. »Schsch, Würmchen. Es ist gut. Alles ist gut. Ich bin hier.«
Ihr Körper spannte sich an und erneut überkam mich eine riesige Welle der Verzweiflung. Sie glaubte es nicht, wie sollte sie auch? Vermutlich dachte sie, dass ihre Fantasie ihr einen Streich spielte. Also versuchte ich es noch einmal. »Hey, ich bin es wirklich, Würmchen. Du träumst nicht.«
Ich vergrub eine Hand in ihren völlig aufgelösten Haaren, mit der anderen umschlang ich fest ihren Oberkörper.
Und langsam, sehr langsam machte der unendliche Schmerz einem Funken Unglauben Platz. Ihr endloser Tränenstrom wurde für einen Augenblick davon unterbrochen, dass sie nach Luft schnappte. Anschließend überschwemmte mich ein Gefühlscocktail aus Hoffnung und Angst, der mich beinahe genauso erdrückte wie ihr Schmerz.
»Guck mich an ... bitte.«
Jetzt endlich wagte sie es, ihren Kopf zu heben und mich anzusehen. Ich versuchte mich an einem vorsichtigen Lächeln. Sie hingegen schlug die Hand vor den Mund und schüttelte den Kopf. Die Tränen liefen weiter ungehindert aus ihren roten und geschwollenen Augen. Es dauerte lange, bis sie in der Lage war zu sprechen.
»Caelum ... du ... wie kannst du ...?«
Okay, vielleicht noch nicht wirklich sprechen, eher stammeln.
Ich sammelte alle Kraft, die ich in meinem noch nicht ganz funktionstüchtigen Körper finden konnte, und zog sie zu mir heran.
»Ich weiß es selbst nicht, Würmchen. Aber es ist mir gerade auch ziemlich egal.«
Dann hielt ich sie so fest in meinen Armen, wie es mir nur möglich war.