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50. Caelum

Die Sonne schien satt aus einem eisblauen Himmel, dennoch schaffte sie es nicht, Wärme zu uns zu schicken. Eisiger Wind hielt sie davon ab, der erbarmungslos über uns hinwegfegte und an unseren Haaren riss. Während ich mich fragte, ob das Wetter zu unserem Vorhaben passte, zog ich Lua enger an mich, wohlwissend, dass es ganz sicher nicht zu ihr passte. Trotz meiner Umarmung fröstelte sie.

Für einen Moment ließ ich meinen Blick schweifen. Das satte Grün der Ebene strotzte vor Leben, genau wie der aufgepeitschte Ozean, dessen weiße Schaumkronen sich in der Sonne spiegelten und den vertrauten Geruch von Salz und Meer zu uns herüberwehten.

Dem einen oder anderen mochte diese raue karge Landschaft unwirtlich erscheinen, ich liebte sie. Sie war für mich der Inbegriff von Kraft und Durchsetzungsvermögen und sie war von einzigartiger Schönheit. Auf fast magische Weise spürte ich, wie sich die Elemente in mir regten und versuchten, sich mit denen außerhalb meines Körpers zu verbinden. Sie würden vermutlich allzu bald die Gelegenheit dazu bekommen.

Besorgt wandte ich mich zu Lua, die sich in meinem Arm trotzig und verbissen den harschen Böen entgegenstellte. War es die richtige Entscheidung gewesen, sich der Aufgabe und wahrscheinlich auch einem Kampf so früh zu stellen? Hätten wir doch erst abwarten müssen, ob sie sich verwandeln könnte? Ob sie die Elemente beherrschen würde?

Wir hatten in den letzten Monaten so oft falsche Entscheidungen getroffen, dass das Vertrauen in meine eigene Urteilsfähigkeit ziemlich gelitten hatte. Viel zu oft hatte ich sie durch unsere Entscheidungen beinahe verloren, war sie dem Tod viel zu nah gewesen. Was also, wenn es heute erneut so war? Wenn ich sie heute endgültig verlieren würde? Rasch schob ich den Gedanken beiseite. Ich durfte nicht zulassen, dass mich jetzt Zweifel zermürbten.

Tief atmete ich die salzige Luft ein. Sie würde es schaffen, wir würden es schaffen. Wir waren stark und wir hatten mächtige Verbündete. Wir würden die verfluchte Prophezeiung heute aufhalten und die Welt der Menschen retten. Nichts anderes würde ich hier heute geschehen lassen und nichts anderes durfte sich in meinen Gedanken einnisten.

Schweigend stapften wir weiter auf das riesige Portal zu, welches ich in einiger Entfernung wahrnehmen konnte. Es bestand aus drei mehrere Meter hohen, runden Feldern. Sie flimmerten in der Sonne wie heiße Luft über dem Asphalt. Das Feld ganz links wies einen dunkelblau glänzenden Rand auf, es führte in die Unterwelt. Auf der rechten Seite war das Feld, welches normalerweise in den Himmel führte. Es hatte einen hellblauen Rand, der heute fast mit dem Blau des Himmels verschwamm, die Mitte war jedoch im Moment erloschen. Kein Flimmern und kein Funkeln war zu erkennen, vielmehr waberte grauer, abweisender und undurchdringlicher Nebel in dem Kreis. Das dritte Feld in der Mitte hatte keinen Rand, stattdessen wurde es nach außen hin irgendwann unscharf und verband sich mit der Natur um sich herum. Es war das Feld, durch welches man die Portale innerhalb der Menschenwelt erreichen konnte.

Als wir bis auf zwanzig Meter an das Portal herangekommen waren, blieb ich stehen. Ich stellte mich hinter Lua und umschlang sie mit beiden Armen, um sie ein wenig zu wärmen. »Kannst du es sehen?«

Auf einmal drängten sich ihre Gefühle völlig ungeordnet an die Oberfläche. Angst. Zweifel. Resignation. Verzagt schüttelte sie den Kopf. Ihre Sorge war fast greifbar. Die Sorge, es nicht zu schaffen. Sich nicht zu verwandeln, die Elemente nicht kontrollieren zu können, es nicht aufzuhalten. Die Sorge, die Welt an Skaslegur zu verlieren.

Ich umschlang sie noch fester, versuchte ihr nicht nur Wärme, sondern auch Halt und Zuversicht in meinen Armen zu geben. Noch hatten wir ein paar Minuten.

Wir betrachteten schweigend weiter die beeindruckende Landschaft, als Lua sich völlig unvermittelt in meinen Armen versteifte und ein weiteres Gefühl sich zurückhaltend unter all die anderen mischte – Hoffnung.

»Caelum, ich kann ... ich glaube ...« Sie atmete schwer, blinzelte mehrmals und wischte sich hektisch ihre Haare aus dem Gesicht, die der Wind hartnäckig immer wieder dorthin wehte.

Trotz all der Anspannung musste ich schmunzeln. Sie hatte wirklich nicht daran geglaubt, hatte bis zum Schluss an sich und ihren Fähigkeiten gezweifelt. Ihre Verwirrung darüber, dass jetzt tatsächlich etwas mit ihr passierte, war unübersehbar. Langsam drehte sie sich in meinen Armen und sah mich an. Verwunderung stand ihr im Gesicht, begleitet von einer nicht unerheblichen Portion Euphorie. Ihre himmelblauen Augen strahlten plötzlich mit der Sonne um die Wette.

»Ich kann es sehen.« Befreit und glücklich lachte sie laut auf. Alle Sorgen waren für den Augenblick vergessen. »Ich kann es wirklich sehen! Es ist ... es ist ...« Sie schlug sich die Hände vor den Mund, drehte sich erneut zu dem Portal und rang weiter um Worte. »Es ist unglaublich, wunderschön, magisch. Es ...«

Mit einem Mal kippte ihre Stimmung, die Begeisterung machte Ehrfurcht Platz. Ihre nächsten Worte waren bloß noch geflüstert. »Es ist da.«

»Das ist es, Würmchen«, stimmte ich ihr zu. Dann musste ich sehr tief Luft holen. »Und du bist es auch.«

Die Anam Ban war erwacht.

Ihre Präsenz erschlug mich fast. Da es abgesehen von Lucifer niemanden gab, dessen Strahlkraft noch größer war als meine eigene, war ich es nicht gewohnt, von so viel Macht umgeben zu sein. Ich hatte außer meinem Vater noch nie einem Wesen gegenübergestanden, das mächtiger war als ich.

Und ihre Macht war unermesslich. Sie hüllte mich ein, raubte mir beinahe die Sinne und ließ mich erschaudern. Das Überwältigendste war jedoch nicht die Stärke ihrer Macht selbst. Es war die Tatsache, dass es eine gute Macht war. Mit jeder Faser ihres Körpers strahlte sie Reinheit aus, Unschuld, Güte, Selbstlosigkeit. Es gab in dieser Macht nichts, absolut gar nichts Schlechtes.

Und ich war mir sicher, dass ihre Macht bis in jeden Winkel der Welt zu spüren war. Diese Erkenntnis brachte meinen Verstand wieder zum Arbeiten. Ich drehte Lua um und musterte sie eindringlich. Sie musste mir jetzt gut zuhören.

»Du bist erwacht. Ich kann deine Präsenz spüren.« In ihrem Blick spiegelte sich Verwirrung. »Würmchen, ich erklär’s dir später, aber deine Macht ist der Hammer. Ich bin mir sicher, dass jeder Dämon auf der Welt jetzt weiß, was du bist. Wir müssen uns beeilen, okay?«

Sie sah mich ungläubig an, nickte aber. Suchend schauten wir uns um. Etwa zwanzig Meter entfernt in Richtung des Meeres war eine hölzerne Säule auszumachen. Sie musste sich völlig lautlos erhoben haben. Sofort rannten wir los, jeder seinen Stein fest in der Hand.

Die Säule, mit der wir die Welt retten sollten, war nichts weiter als ein einfacher Holzblock. Auf seiner Oberfläche befanden sich die drei magischen Vertiefungen – schwarz, weiß, rot. Wir wechselten einen Blick, auf Luas Gesicht lag ein Lächeln. Hoffnung machte sich in uns breit. Vorsichtig legten wir unsere Steine in die dafür vorgesehenen Vertiefungen: schwarz für den Stein der Hölle, weiß für den Stein des Himmels.

Dann nahm ich Lua eines ihrer Messer ab. Wir platzierten die Klinge zwischen unsere Hände und verschränkten unsere Finger eng miteinander. Noch einmal sah ich in ihre großen ernsten Augen. Ich hasste es, ihr wehzutun, wollte nicht, dass sie ihr kostbares Blut vergoss. Aber wir hatten keine Wahl. Ich konnte nur hoffen, dass es das letzte Mal in unserem Leben war, dass ich ihr Schmerzen zufügen würde.

»Bereit?«

Sie nickte. »Bereit.«

Dann zog ich die Klinge aus unseren Händen. Lua sog scharf die Luft ein. Schließlich trennten wir unsere Finger voneinander. Jeder von uns ballte seine Hand zur Faust und hielt sie über die dritte Mulde, die noch nicht gefüllt war. Langsam lösten sich die ersten Tropfen aus unseren Händen. Hellrotes Blut vermischte sich mit tiefdunklem. Als der Boden der dritten Mulde vollständig mit unserem Blut benetzt war, geschahen mehrere Dinge gleichzeitig.

Die Steine begannen sich zu verändern, schienen zu schmelzen, so lange, bis sie sich völlig in den Vertiefungen aufgelöst hatten und sie vollständig ausfüllten. Langsam zogen wir unsere Hände zurück. Nichts und niemand würde diese Steine jemals wieder befreien können. Sie waren fest mit der Säule verbunden.

Noch während wir das Wunder bestaunten und glaubten, dass wir es geschafft hatten, öffneten sich hinter uns zwei Portale. In dem Portal der Hölle erschienen Kieron, Sam und Stella, gefolgt von zehn weiteren Hohedämonen, drei von ihnen aus dem Hohen Rat. Lucifer hatte seine stärksten Kämpfer geschickt. Hinter dieser Ansammlung von Macht traten langsam und mit geschmeidigen Bewegungen meine beiden Drachen in Erscheinung. Wir würden sie dringend brauchen.

Denn aus dem Portal der Menschenwelt ergoss sich in diesem Moment Skaslegurs Armee auf die Ebene.