Ich hielt sie fest in meinen Armen. Es war mir egal, wie lange es noch dauern würde, wichtig war nur, dass es in diesem Moment so war. Es gab keine Verzweiflung mehr, kein Bedauern. Es gab bloß noch uns und unsere Liebe.
Gellendes, dröhnend lautes Kreischen drang irgendwann durch unsere Umarmung zu uns durch und war nicht länger auszublenden. Warum griff er uns nicht an? Warum beendete er nicht, was er seit achtzehn Jahren vorbereitet hatte?
Zögernd lösten wir unsere Lippen voneinander und lockerten unseren klammernden Griff. Unsere Blicke begegneten sich und blieben noch einen Atemzug aneinander hängen, bevor wir sie auf ihn richteten.
Er war uns keinen Meter näher gekommen, war stattdessen auf die Knie gefallen und presste seine riesigen Pranken mit schmerzverzerrtem Gesicht an seinen Brustkorb. Schließlich erstarb sein Schrei, Unglaube machte sich auf seinem hässlichen Gesicht breit, während er seinen Blick ein letztes Mal auf Lua richtete.
»Du wirst mir folgen. Die Anam Ban wird sterben.«
Im nächsten Moment zerbarst er in die abertausend schwarzen Teilchen, aus denen er sich zusammengesetzt hatte. Wie ein Ascheregen nach einem Vulkanausbruch rieselten sie langsam zu Boden. Sie formierten sich jedoch nicht neu, stattdessen verwandelten sie sich in glitzernde Wassertropfen, die die Ebene benetzten und sauber wuschen. Wie durch Magie verschwand schwarzes Blut, verschwanden die Leichen hunderter Dämonen und hinterließen nichts als sattes Grün.
Die Kampfgeräusche jenseits des Portals zur Hölle waren verstummt, kein einziger Dämon hatte von dort seinen Weg zu uns gefunden. Lucifer schien erfolgreich gewesen zu sein.
Stille breitete sich aus. Kein Ächzen und Stöhnen der Verwundeten war mehr zu hören. Friedlich, als hätte es nie eine Schlacht gegeben, lag die Ebene völlig unberührt vor uns.
Als ich mich fragte, welches Wunder hier geschehen war, bahnte sich eine Erinnerung den Weg in meine Gedanken.
»Und was ist mit der Liebe?« Laoghaire lächelte Lua an.
»Das ist ganz offensichtlich das Einzige, über das ihr euch keine Gedanken machen müsst. Davon habt ihr genug.«
Liebe. Es war der dritte Bestandteil der Prophezeiung gewesen. Steine, Blut und Liebe. Wir hatten ihn mit unserer Liebe besiegt. Sie war es, die ihn letztendlich zerstört hatte. Als ich Lua erneut ansah, spürte ich, dass sie es ebenfalls wusste.
»Es ist vorbei«, wisperte sie ungläubig. Und zum ersten Mal seit Stunden stahl sich ein ehrliches Lächeln in mein Gesicht.
»Ja, das ist es.«
Während ich ihr mit meinen Fingern vorsichtig über die Wange fuhr, wanderte mein Blick weiter an ihrem Körper entlang. Ihre Haut war durchscheinend, man konnte ihre Adern erkennen, die sich wie filigrane Muster über Arm und Brustkorb zogen. In diesen Adern floss jedoch kein Blut, stattdessen pulsierte bläulich glitzernde Macht durch sie hindurch.
Riesige hellblaue Schwingen zierten ihren Rücken, schienen mir viel zu groß für ihren kleinen Körper zu sein. Vorsichtig berührte ich sie, fuhr ehrfürchtig mit meinen Fingern an den zarten weichen Federn entlang. Sie fühlten sich ebenso zerbrechlich an wie Lua selbst.
Schließlich fanden meine Augen sich in ihren wieder. »Du bist wunderschön«, sagte ich leise. »Deine Gestalt, sie ... sie ist unbeschreiblich.«
Als sich ein glückliches Lächeln auf ihrem Gesicht bildete, zog ich sie abermals fest in meine Arme. Ich hätte nach Kieron schauen müssen, doch ich spürte, dass er lebte. Nach Sam und Stella, es war alles andere als sicher, dass er sie hatte retten können. Nach meinen Drachen, von denen ich nicht wusste, ob sie tot oder verletzt waren. Und ich hätte nach meinem Vater sehen müssen, schließlich hatten wir keine Ahnung, wie die Lage in der Hölle war.
Aber ich war nicht bereit dazu. Ich war nicht bereit, dieses Wesen in meinen Armen für irgendjemanden auf der Welt loszulassen. Also blieben wir in unserer Umarmung. Minutenlang. Bis ich spürte, wie sie sich anspannte und ihren Rücken durchdrückte.
Sie verwandelte sich zurück. Ihre weichen hellblauen Schwingen verschwanden und mit ihnen jede Macht, die sie in ihrem wahrhaften Wesen in sich getragen hatte. Kaum dass sie ihre menschliche Gestalt angenommen hatte, fiel die Erschöpfung über sie her wie ein Schwarm Heuschrecken, der sich ihre Kraft einverleibte und sie ihr entzog.
Kurz hob sie den Blick und sah mich unter schweren Lidern an, dann wurde sie in meinen Armen bewusstlos.
Langsam erhob ich mich, ohne Lua aus meinem Griff zu entlassen. Als Erstes erblickte ich Kieron, der sich an einen Felsen gelehnt bereits wieder aufgerichtet hatte und mir triumphierend einen Daumen nach oben zeigte. Schmunzelnd ließ ich meinen Blick weiter über die Ebene schweifen.
Wenn ich mich nicht irrte, hatte es unter uns keine weiteren Toten gegeben. Alle Hohedämonen waren dabei zu heilen, standen zum Teil schon wieder aufrecht und kämpften lediglich noch mit ihrer Ungläubigkeit.
Meine Drachen entdeckte ich in nur zwanzig Meter Entfernung. Lala hatte es heftig erwischt, sie lag nach wie vor an dem Felsen, an den Skaslegur sie geschmettert hatte. Aber ihr schwerer Drachenkörper zeigte mir durch seine regelmäßigen Bewegungen, dass sie atmete. Sie würde es schaffen. Drachen heilten schneller als Dämonen. Um sie würde ich mich später kümmern.
Aus dem Augenwinkel nahm ich Sam wahr, der mit Stella auf dem Arm den Hügel hinaufkam. Erleichterung durchflutete mich, ihr Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig, auch sie war noch am Leben.
Plötzlich spürte ich meinen Vater. Ich drehte mich um und sah ihn aus dem Portal treten. Er schien unverletzt. Das hatte ich zwar erwartet, war aber dennoch beruhigt.
Langsam kam er auf mich zu, legte mir seine Hand auf die Schulter und betrachtete mich anerkennend und voller Dankbarkeit. »Ihr habt es geschafft.«
Ich nickte lediglich. Auch bei mir machte sich langsam die Erschöpfung bemerkbar. Skaslegurs Macht war so gigantisch gewesen, dass sie selbst die Stärksten unter uns ausgelaugt hatte.
Lucifer schaute besorgt auf Lua hinab. »Was ist mit ihr?«, erkundigte er sich.
»Sie ist unverletzt, es geht ihr gut. Seine Bösartigkeit hat sie völlig entkräftet. Ich denke, sie wird ein paar Tage schlafen müssen.«
Er nickte, betrachtete sie aber weiterhin kritisch und schien über irgendetwas zu grübeln. Ich fragte mich, was es war. Wir hatten es geschafft, hatten die Welt der Menschen gerettet. Das war es, was er gewollt hatte. Das Portal der Engel hatte wieder begonnen zu flimmern, es war geöffnet. Seltsamerweise fiel es mir erst jetzt auf, ich hatte bislang noch keinen Gedanken daran verschwendet.
Ein wenig mehr Erleichterung hätte ich auch von seiner Seite erwartet. Prüfend musterte ich ihn. »Dad? Was ist hier los? Was verheimlichst du mir?«
Langsam hob er den Blick und richtete seine Aufmerksamkeit auf mich. Eine Spur Mitleid war in seinen Augen zu erkennen. Nur einen Atemzug später wusste ich warum.
Der Ruf des Teufels.
Nein, nicht jetzt. Das konnte er nicht tun. Lua war viel zu geschwächt, sie würde es nicht überleben.
»Dad, bitte nicht«, flehte ich. »Bitte, lass mich bei ihr bleiben … Es wird sie umbringen.«
Doch noch bevor ich die Bitte zu Ende ausgesprochen hatte, wusste ich, dass er ihr nicht nachkommen würde. Dem Ruf des Teufels widersetzte man sich nicht. Selbst ich nicht.
Sam war inzwischen bei uns angekommen und mein Vater sah ernst zu ihm hinüber. »Gib mir Stella, wir werden uns gut um sie kümmern. Ich verspreche es dir. Du musst bei Lua bleiben.«
Sam wich jede Farbe aus dem Gesicht, doch auch er wusste, dass man Lucifer jetzt nicht widersprechen durfte. Wortlos gab er der bewusstlosen Halbdämonin in seinen Armen einen Kuss auf die Stirn und überließ sie dem Teufel. Anschließend nickte er mir auffordernd zu.
Ich vergrub mein Gesicht in Luas Halsbeuge und sog ein letztes Mal ihren Duft ein, der sie selbst nach der Schlacht noch umgab. Frühling, frisches Gras. Zögernd übergab ich sie an Sam. »Pass auf sie auf, bitte.«
Ich wusste nicht, wie Sam es schaffte, aber er lächelte. »Das werde ich.«
Ich schloss die Augen und schluckte. Dann holte ich tief Luft und durchschritt die flimmernde Wand. Nach achtzehn Jahren war ich zurück in der Hölle. Und alles, was ich spürte, war Schmerz.
Allumfassender, alles verzehrender Schmerz.