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6. Caelum

Meine Hoffnung, Gorzata den Stein bereits hier in Budapest abzunehmen, hatte sich natürlich nicht erfüllt. Meine Befürchtung, dass Lua das Aufeinandertreffen mit Dämonen schwächen würde, hingegen schon. Vielleicht sollte ich im Sinne der self-fulfilling prophecies mal etwas positiver denken, aber in diesem Fall zweifelte ich arg daran, dass das an ihrem Zustand etwas ändern würde.

Luas Erschöpfung und die Schmerzmittel, die ich ihr verabreicht hatte, führten dazu, dass sie über zwölf Stunden schlief. Ich saß in dem Sessel neben dem Bett und betrachtete sie. Ihr Schlaf war ruhig und erholsam gewesen, ihre Gesichtszüge jetzt entspannt und friedlich. Es schien mir unendlich lange her, dass ich ihr Gesicht in der ersten Nacht in New York heimlich angeschaut hatte. Ihre feinen und ebenmäßigen Züge hatten mich schon damals unerklärlich stark angezogen.

Als sie aufwachte, war es bereits Mittag, und ich war ausnahmsweise froh über den späten Flug. Ich hätte es nämlich nicht fertiggebracht, Lua eher zu wecken.

Kieron hatte längst ausgecheckt und war in New York. Wie ich ihn kannte, würde er dort in vollen Zügen ein paar Stunden normales Leben genießen. Ich gönnte es ihm von Herzen, schließlich war das hier nicht seine Mission, auch wenn er sie mit Leib und Seele erfüllte.

Lua streckte sich und setzte sich auf. Ich spürte, dass es ihr besser ging. Ihr innerer Frieden war zumindest für den Moment wiederhergestellt.

»Meinst du, ich kriege um diese Zeit noch ein Frühstück?«

Ich musste lachen. Es war unfassbar, wie gerne dieser Wurm aß. Da das allerdings keine Neuigkeit war, hatte ich vorgesorgt und konnte ihr ein reichhaltiges Frühstück im Bett präsentieren. Wir verließen es auch nach dem Essen nicht. Stattdessen machte Lua es sich auf meinem Schoß bequem und wir schauten irgendeine belanglose, unproblematische Highschool-Schnulze im Fernsehen. Es war das Einzige, was wir uns zutrauten. Selbst Bruce Willis wäre heute zu anspruchsvoll gewesen. Anschließend duschte jeder von uns, dann packten wir unsere dreieinhalb Habseligkeiten zusammen und machten uns auf den Weg zum Flughafen.

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Am nächsten Mittag und nach einer schier endlos langen Reise nach Kairo trafen wir uns mit Kieron in einem Café und überlegten mal wieder, wie wir vorgehen sollten. Die Stadt hatte etwa zwanzig Millionen Einwohner. Eine Nadel im Heuhaufen zu finden, würde eindeutig schneller gehen, als hier auf den Stein zu stoßen.

Wir gingen Dutzende von Spekulationen durch, wo Gorzata sich wohl am ehesten verstecken würde. Lua war dabei ziemlich kreativ, bei ihren Ideen war von Pharaonengräbern bis zu Parkhausklos alles dabei. Aber obwohl sie für jeden einzelnen Ort eine echt gute Begründung aus dem Hut zauberte, entschlossen wir uns am Ende auch hier für eine echt plumpe Variante. Wir guckten auf der Karte, wo die ungefähre Mitte der Stadt war. Dort starteten wir und bewegten uns von dort aus spiralförmig immer weiter nach außen.

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Das taten wir ganze vier Tage. Bis zu diesem Aufenthalt hatte ich Kairo eigentlich ganz okay gefunden. Es gab in meinen Augen schönere, vor allem charmantere Orte, aber natürlich hatte Kairo viel zu bieten. Jetzt hasste ich es.

Wir konnten weder den Charme des größten Marktes Afrikas genießen noch den berühmter Moscheen. Wir sahen keine Pyramiden und wir hatten nichts vom bunten Leben und der Geschwindigkeit der Stadt. Stattdessen hatten wir einen verkackten Mietwagen, Staus, Fast Food und endlose Stunden, in denen wir durch die Straßen krochen mit einem meist reaktionslosen Stein in Luas Hand.

Wenn er dann mal leuchtete, machte er uns wahnsinnig. Er war völlig undurchschaubar, es war schlimmer als am ersten Tag unserer Suche in Slowenien. Lua tat mir furchtbar leid. Sie musste dieses verfluchte Ding die ganze Zeit in ihren Händen halten, ohne dass es uns wirklich weiterhalf.

Da sie zumindest in den ersten Tagen noch ziemlich viele Schmerzmittel nehmen musste, döste sie immer wieder zwischendurch weg. Es dauerte ganze zwei Tage, bis wir kapierten, dass der Stein auch dann aufhörte zu leuchten, wenn sie schlief. Welch Glanzleistung.

Das Schlimme an der Erkenntnis war, dass wir die Wahl hatten zwischen Pausen, die wir uns eigentlich nicht erlauben konnten, und der Option, Lua ständig zu wecken, was für sie – und für mich – die Hölle war. Am liebsten hätten Kieron und ich die ganze Stadt einfach in Schutt und Asche gelegt, um zu gucken, ob der Stein vielleicht als einziges irgendwo übrig blieb.

Am fünften Tag waren wir bereits weit außerhalb in den Vororten von Kairo angelangt. Das Gute daran war, dass wir endlich nicht mehr im Stau standen und zügig vorankamen. Und dass Lua zu guter Letzt, zumindest vom Autofenster aus, die Pyramiden von Gizeh zu sehen bekam. Ihre ohnehin schon großen Augen weiteten sich noch einmal enorm bei deren Anblick. Ähnlich wie in Budapest wünschte ich mir, dass ich ihr die Wunder der Welt irgendwann auf die richtige Art und Weise zeigen konnte.

Das Schlechte an der Sache war, dass der Stein der Hölle entweder gar nicht mehr hier war oder an einem sehr abgelegenen Ort. Und das wiederum konnte ein weiteres Nest bedeuten.

Am Nachmittag des fünften Tages geschah dann unfassbarerweise noch das Wunder, an das keiner mehr geglaubt hatte: Etwa eine Viertelstunde südwestlich des Gizeh-Plateaus begann der Stein zu schimmern. Ein Anflug von Euphorie fand den Weg in unser Auto. Entgegen unserer Annahme war der Höllenstein wirklich hier. Niemand von uns hatte noch damit gerechnet, eigentlich waren wir bereits seit zwei Tagen in stillem Einverständnis und Ermangelung anderer Alternativen weiter herumgekurvt.

Dummerweise waren wir auf dem Weg mitten ins Nirgendwo. Ein ungutes Gefühl machte sich breit. Das sah nicht nach einem entspannten Zweikampf im Hinterzimmer einer Bar aus.

Irgendwann befanden wir uns mitten in der Wüste, zu unserer Rechten erhob sich ein Areal, das mit einer Ansammlung von riesigen Hallen bestückt war, die an Flugzeughangars erinnerten. Wir brauchten den Himmelsstein nicht mehr. Hier waren so viele Dämonen anwesend, dass jedes Toastbrot ihre Präsenz gespürt hätte.

Wir stiegen aus. Trotz der fortgeschrittenen Stunde war es noch angenehm warm. Mir schoss der irrsinnige Gedanke durch den Kopf, dass die Temperaturen vermutlich irgendwann die einzige positive Erinnerung sein würde, die Lua mit diesem Land verband.