Das Wetter war auf der thalesischen Halbinsel ebenso unbeständig wie in allen anderen nördlichen Ländern. Am nächsten Morgen nieselte es, und dicke graue Wolken trieben vom Deirameer her über die Straße von Thalesien.
»Ein prächtiger Tag für eine Seereise«, bemerkte Stragen trocken, während er und Sperber durch ein lückenhaft mit Brettern vernageltes Fenster auf die regennasse Straße hinunterblickten. »Ich verabscheue Regen. Ob ich es wohl in Rendor zu etwas bringen könnte?«
»Ich würde Euch Rendor nicht empfehlen«, entgegnete Sperber und erinnerte sich an eine von der Sonne versengte Straße in Jiroch.
»Unsere Pferde sind bereits an Bord«, sagte Stragen. »Wir können aufbrechen, sobald Sephrenia und die anderen bereit sind.« Nach kurzer Pause fragte er: »Ist Euer Fuchs am Morgen immer so störrisch? Meine Männer haben mir gemeldet, dass er auf dem Weg zum Schiff drei von ihnen gebissen hat.«
»Ich hätte sie warnen müssen. Faran ist nicht gerade das gutmütigste Pferd.«
»Warum behaltet Ihr ihn dann?«
»Weil er das verlässlichste Streitross ist, das ich je hatte. Außerdem mag ich ihn.«
Stragen beäugte Sperbers Kettenhemd. »Das braucht Ihr jetzt wirklich nicht zu tragen.«
»Reine Gewohnheit.« Sperber zuckte die Achseln. »Es gibt momentan zu viele übel gesinnte Leute, die es auf mich abgesehen haben.«
»Es stinkt grauenvoll, wisst Ihr.«
»Ihr werdet Euch daran gewöhnen.«
»Eure Laune scheint mir heute Morgen nicht die beste zu sein. Stimmt etwas nicht?«
»Ich bin sehr lange unterwegs, habe so manches erlebt, worauf ich nicht vorbereitet war, und muss das alles erst noch verarbeiten.«
»Vielleicht erzählt Ihr mir einmal davon, wenn wir einander besser kennen.« Stragen fiel offenbar etwas ein. »Ach, übrigens, Tel hat mir von diesen drei Schurken erzählt, die Euch gestern gesucht haben. Jetzt suchen sie Euch nicht mehr.«
»Danke.«
»Es war eine persönliche Angelegenheit. Sie hätten zuerst meine Erlaubnis einholen müssen. Bedauerlicherweise konnten wir jedoch nicht viel von ihnen erfahren. Sie wurden von jemandem außerhalb Thalesiens beauftragt – so viel erfuhren wir von dem einen, der noch zu reden imstande war.«
Fünfzehn Minuten später wartete vor dem Hintereingang des ehemaligen Lagerhauses eine vornehme Kutsche auf sie. Als alle darin Platz genommen hatten, wendete der Kutscher sein Zweigespann geschickt in der engen Gasse und lenkte es auf die Straße.
Im Hafen rollte die Kutsche auf einen Kai und hielt neben einem Schiff, das wie ein Küstenfahrer aussah. Die gerefften Segel wiesen Flicken auf, und seine wuchtige Reling war mehrmals beschädigt und ausgebessert worden. Der Rumpf war geteert und ohne Namen.
»Es ist ein Korsar, nicht wahr?«, fragte Kurik Stragen, als sie aus der Kutsche stiegen.
»Das stimmt«, bestätigte Stragen. »Ich habe mehrere dieser Schiffe im Einsatz. Woran habt Ihr das erkannt?«
»An seiner Bauweise. Es ist auf Schnelligkeit ausgelegt, Durchlaucht«, erwiderte Kurik. »Für ein Frachtschiff ist es zu schmal, und die Verstärkung um die Masten verrät, dass mehr Segel gesetzt werden können, als für einen Küstenfahrer üblich sind. Es wurde erbaut, um andere Schiffe zu jagen.«
»Oder vor ihnen zu fliehen, Kurik. Seeräuber führen ein aufregendes Leben. Es gibt allerlei Leute, denen es ein Bedürfnis zu sein scheint, Piraten allein um des Prinzips willen aufzuhängen.«
Sie stiegen die Laufplanke hinauf. Stragen führte sie zu ihren Kabinen auf dem Unterdeck. Die Seeleute kappten die Trossen, und das Schiff lief in langsamer Fahrt aus dem Hafen. Doch kaum hatten sie die Landzunge hinter sich und tieferes Gewässer erreicht, wurden weitere Segel gesetzt, und das abenteuerliche Schiff jagte krängend über die Straße von Thalesien auf die deiranische Küste zu.
Gegen Mittag ging Sperber an Deck und erblickte Stragen an der Bugreling, wo er missmutig über die graue regengekräuselte See starrte. Er trug einen dicken braunen Umhang, und von der Hutkrempe tropfte Wasser auf seinen Rücken.
»Ich dachte, Ihr mögt Regen nicht«, bemerkte Sperber.
»Es ist so muffig unten in der Kabine«, klagte der Räuber. »Ich brauchte frische Luft. Wie schön, dass Ihr mir Gesellschaft leistet, Sperber. Es ist schwer, mit Piraten eine kultivierte Unterhaltung zu führen.«
Eine Zeit lang lauschten sie dem Knarren der Takelung, dem Ächzen der Spanten und dem schwermütigen Platschen des Regens auf der Wasseroberfläche.
»Wie kommt es, dass Kurik so viel über Schiffe weiß?«, fragte Stragen schließlich.
»Er ist als junger Bursche zur See gefahren.«
»Das erklärt es natürlich. Ihr möchtet wohl nicht über die Angelegenheiten sprechen, die Euch nach Thalesien geführt haben?«
»Nein. Eine Kirchensache, wisst Ihr.«
Stragen lächelte. »Ah, ja. Unsere schweigsame Heilige Mutter Kirche. Manchmal glaube ich, dass sie diese Geheimniskrämerei halb so ernst nimmt wie unsereiner.«
»Es gehört für uns eben zum Glauben, davon auszugehen, dass die Kirche weiß, was sie tut.«
»Für Euch , Sperber, weil Ihr Ordensritter seid. Ich habe keine derartigen Schwüre geleistet, deshalb kann ich mir gewisse Zweifel erlauben. Allerdings will ich nicht verheimlichen, dass ich in jüngeren Jahren durchaus mit dem Gedanken spielte, Priester zu werden.«
»Ihr hättet es weit bringen können. Sowohl Geistlichkeit wie Armee sind von jeher an fähigen jüngeren Söhnen von Edelleuten interessiert.«
»Das gefällt mir.« Stragen lächelte. »›Jüngerer Sohn‹ hört sich viel besser als ›Bastard‹ an, nicht wahr? Aber die Kirche und ich wären nicht sehr gut miteinander ausgekommen, fürchte ich. Mir fehlt es an der Demut, die sie offenbar verlangt, und eine Versammlung, die nach ungewaschenen Achselhöhlen riecht, hätte mich schon bald veranlasst, meine Eide zu widerrufen.« Er blickte wieder durch den Regen hinaus aufs Meer. »Wenn man es recht bedenkt, hat mir das Leben nicht sehr viele Möglichkeiten geboten. Für die Kirche bin ich nicht demütig und für die Armee nicht gehorsam genug, und einem Handwerk nachzugehen mangelt es mir an der gutbürgerlichen Gesinnung. Eine Zeit lang habe ich mich sogar am Hof versucht. Die Regierung braucht ja immer fähige Beamte. Aber nachdem ich dem geistig etwas trägen Sohn eines Herzogs bei einem Posten zuvorkam, an dem wir beide interessiert waren, wurde er ausfallend. Ich forderte ihn heraus, und er war so dumm, zu unserem Zweikampf in Kettenhemd und mit einem Breitschwert anzurücken. Fasst es nicht als persönliche Beleidigung auf, Sperber, aber Kettenrüstungen haben zu viele kleine Lücken, als dass sie guten Schutz vor einem Degen bieten könnten. Das musste mein Gegner in unserer Auseinandersetzung allzu rasch feststellen. Es erwies sich, dass der Dummkopf, den ich aufgespießt hatte, ein entfernter Verwandter König Warguns gewesen war. Daraufhin habe ich mich rasch aus dem Regierungsdienst zurückgezogen. Unser trunksüchtiger Monarch verfügt über nicht sehr viel Humor.«
»Das ist auch mir aufgefallen.«
»Wie ist es Euch gelungen, seinen Unwillen zu erregen?«
Sperber zuckte mit den Schultern. »Er verlangte, dass ich mich an dem Krieg in Arzium beteilige, aber ich hatte Dringendes in Thalesien zu erledigen. Übrigens, wie verläuft dieser Krieg? Ich bin nicht so recht auf dem Laufenden.«
»Nun, bis zu uns sind nur Gerüchte durchgedrungen. Einige behaupten, die Rendorer wären vernichtet worden; andere schwören, Wargun sei geschlagen und die Rendorer marschieren nordwärts und stecken alles in Brand, was sich anzünden lässt. Welchem Gerücht man mehr Glauben schenkt, hängt von der Einstellung des Einzelnen ab, nehme ich an.« Plötzlich blickte Stragen angespannt heckwärts.
»Was ist?«, fragte Sperber.
»Das Schiff dort hinten.« Stragen deutete mit der Hand. »Es sieht aus wie ein Kauffahrer, aber dazu ist es ein wenig zu schnell.«
»Ebenfalls ein Korsar?«
»Ich kenne es nicht – und glaubt mir, ich würde es kennen, wenn es im selben Geschäft wäre.« Er ließ das Schiff nicht aus den Augen. Plötzlich entspannten sich seine Züge. »Es dreht ab.« Er lachte kurz. »Tut mir leid, wenn Ihr mich für übertrieben argwöhnisch haltet, Sperber, aber Seeräuber ohne gesundes Misstrauen zieren nur allzu rasch einen Galgen in irgendeiner Hafenstadt. Wo waren wir?«
Stragen stellte etwas zu viele Fragen. Jetzt war eine gute Gelegenheit, ihn abzulenken. »Ihr wolltet mir erzählen, wie Ihr Warguns Hof verlassen und Euch selbstständig gemacht habt.«
»Das ging nicht von heute auf morgen«, gestand Stragen, »aber ich hatte die richtige Eignung für ein Leben als Verbrecherkönig. Ich kenne keinerlei Skrupel mehr, seit ich meinen Vater und meine Halbbrüder getötet habe.«
Das kam unerwartet für Sperber.
»Meinen Vater umzubringen war vielleicht ein Fehler«, gab Stragen zu. »Er war kein wirklich schlechter Kerl, und er hat für meine Erziehung bezahlt, aber es schmerzte mich, wie er meine Mutter behandelte. Sie war eine liebenswerte junge Frau aus einer guten Familie, die er als Gesellschafterin für seine kränkelnde Gemahlin in sein Haus geholt hatte. Nun, es kam, wie es kommen musste, und ich bin das lebende Ergebnis. Nachdem ich am Hof in Ungnade gefallen war, beschloss mein Vater, sich von mir zu distanzieren. Er schickte meine Mutter heim zu ihrer Familie. Sie starb kurz darauf. Ich könnte meinen Vatermord vielleicht rechtfertigen, wenn ich behauptete, dass Mutter an gebrochenem Herzen starb, aber die Wahrheit ist, dass sie an einer Gräte erstickte. Jedenfalls stattete ich dem Haus meines Vaters einen kurzen Besuch ab, und nun ist sein Titel frei. Meine beiden Halbbrüder waren so töricht, sich einzumischen, deshalb ruhen alle drei im selben Grab. Ich könnte mir vorstellen, dass mein Vater bedauerte, so viel Geld für meinen Fechtunterricht ausgegeben zu haben. Sein Gesichtsausdruck, als er starb, drückte jedenfalls Bedauern über irgendetwas aus.« Der blonde Mann zuckte die Achseln. »Heute würde ich wahrscheinlich anders handeln. Es bringt nichts ein, unüberlegt seine Verwandtschaft abzuschlachten, nicht wahr?«
»Kommt darauf an, was Ihr davon erwartet.«
Stragen bedachte ihn mit einem flüchtigen Grinsen. »Wie auch immer, ich erkannte, bald nachdem ich mich für die Straße entschieden hatte, dass der Unterschied zwischen einem Baron und einem Taschendieb oder einer Herzogin und einer Hure nicht sehr groß ist. Ich versuchte, das meinem Vorgänger zu erklären, aber der Narr wollte mir nicht zuhören. Er zog sein Schwert, und ich setzte ihn ab. Danach begann ich, die Diebe und Huren von Emsat auszubilden. Ich stattete sie mit falschen Titeln, entwendetem Putz und einer dünnen Tünche guter Manieren aus, um ihnen den Anschein von Edelleuten zu geben. Dann setzte ich sie auf die Aristokratie an. Das Geschäft geht ausgezeichnet. Ich bin mittlerweile in der Lage, meiner früheren Gesellschaftsschicht die unzähligen Kränkungen und Unverschämtheiten zurückzuzahlen, die sie einst mir angedeihen ließ.« Er machte eine Pause. »Habt Ihr nun genug über meinen fragwürdigen und respektlosen Lebenswandel gehört, Sperber? Ich muss sagen, Eure Höflichkeit und Nachsicht sind schier übermenschlich. Abgesehen davon bin ich es müde, mich noch länger beregnen zu lassen. Begeben wir uns doch hinunter. Ich habe ein Dutzend Flaschen köstlichen arzischen Rotweins in meiner Kabine. Wir könnten uns ein wenig betrinken und kultiviert unterhalten.«
Sperber dachte über diesen seltsamen Mann nach, während er ihm unter Deck folgte. Stragens Motive waren klar, und sein Groll und Rachedurst waren durchaus verständlich. Ungewöhnlich war nur, dass ihm Selbstmitleid offenbar völlig wesensfremd war. Doch Sperber musste sich eingestehen, dass er Stragen mochte. Er traute ihm natürlich nicht – das wäre töricht –, aber er mochte ihn trotzdem.
»Ich auch«, stimmte Talen an diesem Abend in ihrer Kabine ein, als Sperber Stragens Geschichte knapp wiedergab und gestand, dass er ihn mochte. »Aber das ist wahrscheinlich ganz natürlich. Stragen und ich haben vieles gemein.«
»Wirfst du mir das wieder vor?«, brummte Kurik.
»Es war nicht auf dich gemünzt, Vater«, versicherte ihm Talen. »So etwas passiert eben, und ich bin in dieser Hinsicht bei Weitem nicht so empfindlich wie Stragen.« Er grinste. »Aber ich konnte unsere ähnliche Lebensgeschichte zu meinem Vorteil nutzen, während ich in Emsat war. Ich glaube, er mag mich auch, und er hat mir einige recht interessante Angebote gemacht. Er möchte, dass ich für ihn arbeite.«
»Du hast vielversprechende Zukunftsaussichten, Talen«, sagte Kurik säuerlich. »Du kannst entweder Platimes Nachfolge übernehmen oder die Stragens – vorausgesetzt, du wirst nicht vorher erwischt und aufgehängt.«
»Ich denke bereits in größeren Maßstäben«, erklärte Talen prahlerisch. »Stragen und ich haben uns darüber Gedanken gemacht. Der Rat der Diebe kommt einer Regierung gegenwärtig sehr nahe. Das Einzige, was ihm dazu noch fehlt, ist ein Führer – ein König vielleicht oder gar ein Kaiser. Wärst du nicht stolz, Vater des Kaisers der Diebe zu sein, Kurik?«
»Nein, wahrhaftig nicht!«
»Was meint Ihr, Sperber?« Die Augen des Jungen blitzten spitzbübisch. »Soll ich in die Politik gehen?«
»Ich glaube, wir können etwas Angemesseneres für dich finden, Talen.«
»Möglich, aber wird es so lohnend sein – oder so viel Spaß machen?«
Eine Woche später erreichten sie die elenische Küste etwa fünf Meilen nördlich von Cardos. Gegen Mittag gingen sie an einem einsamen Strand, der landeinwärts von dunklen Tannen geschützt war, von Bord.
»Die Straße nach Cardos?«, wandte Kurik sich an Sperber, während sie Faran und Kuriks Wallach sattelten.
»Dürfte ich einen Vorschlag machen?«, fragte Stragen, der in der Nähe stand.
»Selbstverständlich.«
»König Wargun ist arg rührselig, wenn er betrunken ist – und das ist er fast immer. Eure Flucht hat ihn wahrscheinlich so mitgenommen, dass er jede Nacht in sein Bier flennt. Für Eure Festnahme hat er in Thalesien und Deira eine hohe Belohnung ausgesetzt und hier wahrscheinlich ebenfalls. Euer Gesicht ist in Elenien wohlbekannt, und von hier nach Cimmura sind es ungefähr zweihundertfünfzig Meilen – das ist ein harter Ritt von einer guten Woche, im günstigsten Fall. Wollt Ihr unter diesen Umständen wirklich eine so verkehrsreiche Straße nehmen? Gar in Anbetracht der Tatsache, dass jemand Euch mit Pfeilen spicken will, statt Euch Wargun zu übergeben!«
»Scheint in der Tat nicht ratsam. Kennt Ihr einen anderen Weg?«
»Ja, glücklicherweise. Wir werden allerdings einen guten Tag länger brauchen. Platime hat mir einmal diesen Weg gezeigt. Er ist zwar längst nicht so bequem, dafür aber nur sehr wenigen bekannt.«
Sperber musterte den dünnen blonden Mann mit leichtem Argwohn. »Kann ich Euch trauen, Stragen?«, fragte er direkt.
Stragen schüttelte betrübt den Kopf. »Talen«, wandte er sich an den Jungen, »hast du ihm denn nie das Diebesasylrecht erklärt?«
»Ich habe es versucht, aber Sperber hat manchmal Schwierigkeiten, die Ehrbegriffe anderer zu verstehen. Es ist so, Sperber, wenn Stragen zuließe, dass uns was zustößt, während wir unter seinem Schutz reisen, bekäme er es mit Platime zu tun.«
»Das ist mehr oder weniger der Grund, weshalb ich mitkam«, gestand Stragen. »Solange ich bei Euch bin, befindet Ihr Euch unter meiner Protektion. Ich mag Euch, Sperber, und es kann nicht schaden, wenn ein Ordensritter ein gutes Wort beim lieben Gott für mich einlegt, falls es unerwarteterweise dazu kommen sollte, dass man mich hängt.« Sein ironischer Gesichtsausdruck kehrte zurück. »Nicht nur das, vielleicht kann ich einige meiner Todsünden sühnen, wenn ich für Euer körperliches Heil sorge.«
»Habt Ihr wirklich so viele Sünden begangen, Stragen?«, fragte Sephrenia ihn sanft.
»Mehr als ich mich erinnern kann, liebe Schwester«, antwortete er auf Styrisch, »und viele sind zu abscheulich, als dass ich in Eurer Gegenwart darüber reden möchte.«
Sperber warf einen raschen Blick auf Talen, und der Junge nickte ernst. »Verzeiht, Stragen«, entschuldigte sich Sperber. »Ich habe Euch verkannt.«
»Macht nichts, alter Junge.« Stragen grinste. »Und durchaus verständlich. Es gibt Tage, da traue ich mir selbst nicht.«
»Wo ist dieser andere Weg nach Cimmura?«
Stragen schaute sich um. »Na, so was, wenn ich mich nicht irre, beginnt er gleich da oben am Strand. Ist das nicht ein erstaunlicher Zufall?«
»Es ist wohl Euer Schiff, das uns hierhergebracht hat?«
»Ich bin Miteigner, ja.«
»Und Ihr habt zum Kapitän gesagt, dass es vielleicht recht günstig wäre, uns hier abzusetzen?«
»Ich glaube, ich habe etwas Ähnliches gesagt.«
»Wahrhaftig ein erstaunlicher Zufall«, bestätigte Sperber.
Stragen blickte hinaus aufs Meer. »Merkwürdig«, murmelte er und deutete auf ein vorbeisegelndes Schiff. »Das ist derselbe Kauffahrer, den wir in der Straße von Thalesien gesehen haben. Er hat offenbar nichts geladen, sonst könnte er nicht so schnell so weit gekommen sein.« Er zuckte mit den Schultern. »Was soll’s? Reiten wir los.«
Der von Stragen empfohlene Weg durch den Wald erwies sich als kaum mehr denn ein Pfad, der sich über den Gebirgszug zwischen der Küste und dem breiten Streifen Ackerland um Cimmura schlängelte. Nachdem er das Gebirge verlassen hatte, ging er unmerklich in furchige Landwege über, die sich durch Felder und Wiesen wanden.
Eines Morgens, als sie den Streifen Ackerland etwa halb überquert hatten, näherte sich ein heruntergekommen aussehender Bursche auf einem lahmen Maultier vorsichtig dem Lager. »Ich muss mit einem Mann namens Stragen reden«, rief er außer Bogenschussweite.
»Komm her!«, forderte Stragen ihn auf.
Der Mann saß gar nicht erst ab. »Ich komme von Platime«, erklärte er dem Thalesier. »Ich soll Euch warnen. Ein paar Kerle hielten auf der Straße von Cardos nach Cimmura Ausschau nach euch.«
»Hielten?«
»Sie konnten uns nichts mehr sagen, nachdem wir sie bemerkt hatten, und sie halten jetzt auch nach nichts mehr Ausschau.«
»Ah!«
»Bevor wir sie aufhalten konnten, stellten sie allerdings Fragen. Sie haben eine Menge Bauern nach Euch und Euren Begleitern gefragt und Euch alle gut beschrieben. Ich glaube nicht, dass sie Euch nur gesucht haben, um sich mit Euch über das Wetter zu unterhalten, Durchlaucht.«
»Waren es Elenier?«, fragte Stragen gespannt.
»Ein paar, ja. Die Übrigen schienen thalesische Seeleute zu sein. Jemand ist hinter Euch und Euren Freunden her, Stragen, und sie führen nichts Gutes im Schild. An Eurer Stelle würde ich zusehen, dass ich so schnell wie möglich nach Cimmura und in Platimes Keller komme.«
»Vielen Dank, Freund«, sagte Stragen.
Der Bursche zuckte die Achseln. »Ich werde dafür bezahlt. Mit Dank lässt mein Beutel sich nicht füllen.« Er wendete sein Maultier und ritt davon.
»Ich wusste , ich hätte umdrehen und dieses Schiff versenken sollen!«, schnaubte Stragen. »Ich werde nachlässig. Reiten wir rasch weiter, Sperber. Hier sind wir nicht einmal vor Blicken geschützt.«
Drei Tage später erreichten sie Cimmura und hielten am Nordrand des Tales an, um auf die durch Rauch und Nebel nur verschwommen erkennbare Stadt hinabzublicken.
»Ein nicht gerade anziehender Ort, Sperber«, stellte Stragen kritisch fest.
»Das kann ich nicht bestreiten«, gab Sperber zu, »aber es ist unser Zuhause.«
Stragen nickte. »Ich verlasse Euch jetzt. Ihr habt so allerlei zu erledigen und ich ebenfalls. Darf ich vorschlagen, wir vergessen, dass wir uns je begegnet sind? Ihr habt mit Politik zu tun und ich mit Eigentumsaneignung. Möge Gott entscheiden, was unehrlicher ist. Viel Glück, Sperber, und haltet die Augen offen.« Er verbeugte sich aus dem Sattel vor Sephrenia, wendete sein Pferd und ritt hinunter zu der rußigen Stadt.
»Ich könnte mich fast an ihn gewöhnen«, sagte Sephrenia. »Wohin jetzt, Sperber?«
»Zum Ordenshaus«, entschied der große Pandioner. »Wir waren sehr lange fort, und ich möchte gern erst den Stand der Dinge erfahren, ehe ich mich ins Schloss begebe.« Er blinzelte zur Mittagssonne, die im anhaltenden Dunst verwaschen und kraftlos aussah. »Sehen wir zu, dass wir möglichst unbemerkt bleiben, bis wir wissen, wer in der Stadt das Sagen hat.«
Sie hielten sich zwischen den Bäumen, während sie um Cimmura herum zur Nordseite ritten. Einmal rutschte Kurik von seinem Wallach und kroch zum Rand des Unterholzes, um sich umzublicken. Er kehrte mit ernstem Gesicht zurück. »Kirchensoldaten haben Posten auf der Wehrmauer bezogen.«
Sperber fluchte. »Bist du sicher?«
»Die Soldaten tragen Rot.«
»Reiten wir trotzdem weiter. Wir müssen ins Ordenshaus gelangen.«
Die vermeintlichen Straßenarbeiter legten immer noch Kopfsteine vor der Burg der Pandioner.
»Das machen sie jetzt schon fast ein Jahr«, murmelte Kurik, »und sind nicht viel weiter gekommen. Warten wir, bis es dunkel wird?«
»Das dürfte nicht viel nützen. Die Ordensburg wird auch nachts beobachtet, und ich möchte nicht, dass unsere Rückkehr allgemein bekannt wird.«
»Sephrenia«, wandte Talen sich an die Styrikerin, »könnt Ihr eine Rauchsäule dicht an der Innenmauer beim Tor aufsteigen lassen?«
»Ja.«
»Gut. Damit können wir uns diese Pflasterleger vom Hals schaffen.« Der Junge erklärte seinen Plan.
»Gar nicht dumm, Sperber«, sagte Kurik stolz. »Was meinst du?«
»Einen Versuch ist es wert. Warten wir ab, was geschieht.«
Die rote Uniform, die Sephrenia für Kurik erschuf, war nicht perfekt, aber die Rußflecken und versengten Stellen, die sie hinzufügte, verdeckten die gröberen Unstimmigkeiten. Wichtig waren die goldenen Schulterstücke, die ihn als Offizier auswiesen. Der stämmige Knappe lenkte nunmehr sein Pferd durch die Büsche zu einer Stelle nahe dem Stadttor.
Sephrenia begann styrische Worte zu murmeln und mit den Fingern zu gestikulieren.
Die Rauchsäule, die hinter der Mauer aufstieg, war sehr überzeugend: dick, ölig schwarz und erschreckend groß.
»Haltet mein Pferd«, bat Talen Sperber und glitt aus dem Sattel. Er rannte zum Rand des Gebüsches und brüllte aus voller Lunge: »Feurio!«
Die vermeintlichen Straßenarbeiter starrten ihn verständnislos an, dann drehten sie sich um und blickten bestürzt auf die Stadt.
»Man braucht bloß ›Feurio‹ zu rufen«, erklärte Talen, als er zurückkehrte. »Das hilft immer, um die Leute abzulenken.«
In diesem Moment galoppierte Kurik zu den Spionen vor dem Tor des Ordenshauses. »Los, Männer! Am Ziegenweg brennt ein Haus. Helft das Feuer löschen, bevor es sich über die ganze Stadt ausbreitet.«
»Wir haben den Befehl, hierzubleiben und die Pandioner nicht aus den Augen zu lassen!«, protestierte ein Arbeiter.
»Hast du in der Stadt irgendwas, woran dein Herz hängt?«, fragte Kurik barsch. »Wenn das Feuer außer Kontrolle gerät, kannst du hier stehen und es im Auge behalten, während es verbrennt. Und jetzt los mit euch allen! Ich reite zur Burg hinauf. Vielleicht kann ich die Pandioner überreden, uns beim Löschen zu helfen.«
Die Arbeiter blickten ihn an, ließen ihr Werkzeug fallen und rannten zur vermeintlichen Feuersbrunst, während Kurik sich der Zugbrücke des Ordenshauses näherte.
»Sehr geschickt«, lobte Sperber Talen.
»Diebe tun so was oft.« Der Junge zuckte mit den Schultern. »Wir müssen allerdings echtes Feuer legen. Dann rennen die Leute aus den Häusern, um zu gaffen. Das gibt uns die Gelegenheit, uns in ihren Häusern nach Wertsachen umzusehen.« Er blickte zum Stadttor. »Unsere Freunde sind nicht mehr zu sehen. Reiten wir lieber zur Burg, bevor sie zurückkommen.«
Zwei Pandioner in schwarzer Rüstung kamen ihnen ernst entgegen, als sie die Zugbrücke erreichten. »Brennt es in der Stadt, Sperber?«, fragte einer besorgt.
»Nicht wirklich«, beruhigte ihn Sperber. »Sephrenia beschäftigt nur die Kirchensoldaten.«
Der andere Ritter grinste Sephrenia an, dann richtete er sich auf. »Wer seid ihr, die ihr Einlass in das Haus der Soldaten Gottes begehrt?«, begann er das Ritual.
»Dafür haben wir jetzt keine Zeit, Bruder«, wehrte Sperber ab. »Vielleicht machen wir es das nächste Mal dann doppelt und dreifach. Wer hat jetzt die Leitung des Ordenshauses?«
»Hochmeister Vanion.«
Das kam überraschend. Als Sperber das letzte Mal von Vanion gehört hatte, war er im Einsatz in Arzium gewesen, wo der Krieg tobte. »Weißt du, wo er sich momentan aufhält?«
»In seinem Turm, Sperber«, warf der zweite Ritter ein.
»Wie viele Ritter sind gegenwärtig hier?«, fragte Sperber die beiden.
»Ungefähr hundert.«
»Gut. Ich werde sie vielleicht brauchen.« Sperber stupste Faran mit den Absätzen. Der mächtige Fuchs drehte den Kopf und blickte seinen Herrn sichtlich erstaunt an. »Wir sind in Eile, Faran«, erklärte Sperber seinem Pferd. »Wir holen das Ritual das nächste Mal nach.«
Farans Miene war unverkennbar missbilligend, als er über die Zugbrücke trottete.
»Ritter Sperber!«, ertönte eine laute Stimme von der Stallung. Das Gesicht des Novizen Berit, eines schlaksigen, knochigen jungen Mannes, verzog sich zu einem breiten Grinsen.
»Könnt Ihr nicht noch ein bisschen lauter brüllen, Berit?«, rügte Kurik ihn. »Vielleicht kann man Euch dann sogar in Chyrellos hören.«
»Tut mir leid, Kurik«, entschuldigte Berit sich verlegen.
»Sorgt dafür, dass sich ein anderer Novize um unsere Pferde kümmert, und kommt mit uns«, wies Sperber den jungen Mann an. »Wir haben allerlei zu tun, und wir müssen mit Vanion reden.«
»Sofort, Ritter Sperber.« Berit rannte in die Stallung zurück.
»Er ist ein so netter Junge.« Sephrenia lächelte.
»Er macht sich vielleicht noch«, brummte Kurik.
»Sperber?« , rief ein vermummter Pandioner überrascht, als sie durch den Rundbogeneingang ins Ordenshaus traten. Der Vermummte schob die Kapuze zurück. Es war Ritter Perraine, der Pandioner, der in Dabur zur Tarnung einen Viehhändler gespielt hatte. Perraine sprach mit leichtem Akzent.
»Perraine! Was machst du in Cimmura?«, staunte Sperber und schüttelte seine Hand. »Wir dachten, du hättest in Dabur Wurzeln geschlagen.«
Perraine schien sich endlich von seiner Überraschung zu erholen. »Ah, nachdem Ashram tot war, bestand kein Grund mehr, in Dabur zu bleiben. Aber wie kommst du hierher? Wir hörten, dass König Wargun dich durch ganz Westeosien verfolgen ließ.«
»Verfolgen bedeutet noch nicht Erwischen, Perraine.« Sperber grinste. »Aber wir können uns später unterhalten. Als Erstes müssen meine Freunde und ich mit Vanion sprechen.«
»Selbstverständlich.« Perraine verneigte sich knapp vor Sephrenia und schritt hinaus auf den Hof.
Sie stiegen die Treppe zum Südturm hinauf, in dem Vanion sein Studiergemach hatte. Der Hochmeister des Ordens der Pandioner trug eine weiße styrische Robe. Sein Gesicht war in der kurzen Zeit, seit Sperber ihn zuletzt gesehen hatte, noch mehr gealtert. Die anderen waren ebenfalls da: Ulath, Tynian, Bevier und Kalten. Ihre Gegenwart ließ den keineswegs kleinen Raum scheinbar schrumpfen. Sie waren allesamt große Männer, nicht nur dank ihres Körperbaus, sondern auch ihres beachtlichen Rufs wegen. Der Eindruck all dieser breiten Schultern beherrschte das Gemach. Wie es unter Ordensrittern üblich war, wenn sie sich im Ordenshaus aufhielten, trugen alle Mönchskutten über ihren Kettenhemden.
»Endlich!« Kalten stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Sperber, warum hast du uns nicht wissen lassen, wie es euch erging?«
»Im Trollland ist es etwas schwierig, Kuriere zu finden, Kalten.«
»Hattet Ihr Glück?«, fragte Ulath gespannt. Er war ein hünenhafter Thalesier mit zwei blonden Zöpfen, und der Bhelliom hatte eine ganz besondere Bedeutung für ihn.
Sperber blickte Sephrenia rasch an und bat sie stumm um Erlaubnis.
»Also gut«, sagte sie, »aber nur kurz.«
Sperber langte in seinen Kittel und zog den Leinenbeutel mit dem Bhelliom heraus. Er öffnete die Zugschnur, holte das kostbarste Kleinod der Welt heraus und legte es auf den Tisch, den Vanion für seine Schreibarbeiten benutzte. Auch jetzt glaubte Sperber, aus den Augenwinkeln einen schwarzen Schatten zucken zu sehen. Der Höllenhund, den sein Albtraum in Thalesien herbeibeschworen hatte, folgte ihm immer noch, und der Schatten erschien ihm nun größer und dunkler, als ließe ihn jeder neue Blick auf den Bhelliom mächtiger und bedrohlicher werden.
»Schaut nicht zu tief in diese Blütenblätter«, warnte Sephrenia. »Der Bhelliom kann sich Eurer Seelen bemächtigen, wenn Ihr ihn zu lange betrachtet.«
»Großer Gott!«, entfuhr es Kalten. »Seht euch diesen Stein an!«
Jedes einzelne leuchtende Blütenblatt der Saphirrose war so vollkommen, dass man vermeinte, den Tau darauf glitzern zu sehen. Tief in ihrem Herzen lockte ein blaues Licht schier übermächtig, sie zu betrachten und ihre Vollkommenheit zu bewundern.
»Oh Gott«, betete Bevier inbrünstig, »behüte uns vor der Verführung dieses Steines.« Bevier war cyrinischer Ritter und ausgesprochen fromm. Doch wenn nur die Hälfte von dem stimmte, was Sperber selbst gespürt hatte, war Beviers Angst vor dem Bhelliom mehr als berechtigt.
Ulath, der thalesische Hüne, murmelte in Troll: »Nicht töten, Bhelliom-Blaurose. Ordensritter nicht Feinde von Bhelliom. Ordensritter beschützen Bhelliom vor Azash. Hilf wieder recht machen, was falsch ist, Blaurose. Ich bin Ulath-von-Thalesien. Wenn Bhelliom zornig, dann wende Zorn gegen Ulath.«
Sperber richtete sich auf. »Nein!«, sagte er entschlossen in der grässlichen Trollsprache. »Ich bin Sperber-von-Elenien. Ich bin der, der töten Ghwerigtroll. Ich bin der, der bringen Bhelliom-Blaurose zu diesem Ort, um zu heilen meine Königin. Wenn Bhelliom-Blaurose das tut und immer noch Zorn hat, dann wende Zorn gegen Sperber-von-Elenien, nicht gegen Ulath-von-Thalesien.«
»Narr!«, entfuhr es Ulath. »Habt Ihr eine Ahnung, was dieses Ding Euch antun kann?«
»Würde es Euch denn etwas anderes antun?«
»Meine Herren, bitte«, warf Sephrenia müde ein, »hört sofort mit diesem Unsinn auf!«
Sie blickte auf die glühende Saphirrose auf dem Tisch. »Höre mich, Bhelliom-Blaurose!«, sagte sie mit fester Stimme, ohne sich die Mühe zu machen, in Troll zu sprechen. »Sperber-von-Elenien hat die Ringe. Bhelliom-Blaurose muss Sperber-von-Elenien als Herrn anerkennen und ihm gehorchen!«
Der Stein verdunkelte sich flüchtig, dann leuchtete er wieder tiefblau.
»Gut«, lobte sie. »Ich werde Bhelliom-Blaurose bei dem, was getan werden muss, leiten und Sperber-von-Elenien wird ihm befehlen. Blaurose muss gehorchen!«
Der Edelstein flackerte, dann kehrte das Leuchten zurück.
»Steckt ihn nun zurück, Sperber.«
Sperber schob die Rose wieder in den Beutel und diesen zurück unter seinen Kittel.
»Wo ist Flöte?«, erkundigte sich Berit und schaute sich um.
»Das , mein junger Freund, ist eine sehr, sehr lange Geschichte«, sagte Sperber.
»Sie ist doch nicht tot?«, fragte Tynian erschrocken.
»Nein«, beruhigte Sperber ihn. »Das wäre unmöglich. Flöte ist unsterblich.«
»Kein Mensch ist unsterblich«, warf der fromme Bevier schockiert ein.
»Eben«, entgegnete Sperber. »Flöte ist kein Mensch. Sie ist die styrische Kindgöttin Aphrael.«
»Häresie!«, stieß Bevier keuchend aus.
»So würdet Ihr nicht reden, wenn Ihr in Ghwerigs Höhle dabei gewesen wärt, Ritter Bevier«, warf Kurik ein. »Ich habe sie mit eigenen Augen aus einem bodenlosen Abgrund emporschweben sehen.«
»Es könnte ein Zauber gewesen sein.« Aber Bevier wirkte nicht mehr so selbstsicher.
»Nein, Bevier«, versicherte ihm Sephrenia. »Kein Zauber hätte erreicht, was sie in jener Höhle tat. Sie war – und ist – Aphrael.«
»Ehe wir uns auf ein theologisches Streitgespräch einlassen, brauche ich Auskünfte«, sagte Sperber. »Wie ist es Euch gelungen, von Wargun wegzukommen, und wie ist die Lage in der Stadt?«
»Wargun war kein großes Problem«, versicherte ihm Vanion. »Auf unserem Weg nach Süden kamen wir durch Cimmura, und es verlief alles mehr oder weniger, wie wir es in Azie geplant hatten. Wir steckten Lycheas ins Verlies, übertrugen dem Grafen von Lenda die Regentschaft und überzeugten die Armee und die Kirchensoldaten hier in Cimmura, mit uns in den Süden zu marschieren.«
»Wie ist Euch das gelungen?«, fragte Sperber überrascht.
»Vanion ist ein Überredungskünstler.« Kalten grinste. »Die meisten Generale standen zu Annias, doch als sie protestieren wollten, berief sich Vanion auf das Kirchengesetz, von dem Graf Lenda in Azie sprach, und übernahm den Oberbefehl über die Armee. Die Generale protestierten weiter, bis er sie alle auf den Hof eskortieren ließ. Nachdem Ulath ein paar von ihnen enthauptet hatte, wechselten die meisten anderen die Seiten.«
»Oh, Vanion! « Sephrenias Tonfall zeugte von tiefster Missbilligung.
»Ich war in arger Zeitnot, kleine Mutter«, entschuldigte er sich. »Wargun war ungeduldig. Er wollte das gesamte elenische Offizierskorps niedermetzeln. Das konnte ich ihm glücklicherweise ausreden. Jedenfalls trafen wir König Soros von Pelosien an der Grenze und marschierten gemeinsam nach Arzium. Die Rendorer ergriffen die Flucht, als sie uns kommen sahen. Wargun beabsichtigt, sie zu jagen, aber ich glaube, lediglich zu seinem persönlichen Vergnügen. Den anderen Hochmeistern und mir gelang es, ihn zu überzeugen, dass unsere Anwesenheit in Chyrellos während der Wahl des neuen Erzprälaten absolut erforderlich sei, woraufhin er jedem gestattete, hundert Ritter mitzunehmen.«
»Wie großzügig von ihm«, sagte Sperber sarkastisch. »Wo sind die Ritter der anderen Orden?«
»Sie haben ihr Lager außerhalb von Demos aufgeschlagen. Dolmant möchte nicht, dass wir nach Chyrellos kommen, ehe es die Situation dort erforderlich macht.«
»Wenn Lenda die Dinge im Schloss unter Kontrolle hat, weshalb sind dann Kirchensoldaten auf der Stadtmauer?«
»Annias hat natürlich erfahren, was wir hier getan hatten. Es gibt Mitglieder der Hierokratie, die ihm ergeben sind, und sie alle haben ihre eigenen Truppen. Er lieh sich einige ihrer Männer aus und sandte sie hierher. Sie befreiten Lycheas und steckten den Grafen von Lenda ins Verlies. Zurzeit haben sie die Stadt in der Hand.«
»Dagegen sollten wir etwas tun.«
Vanion nickte. »Wir waren mit den anderen Orden unterwegs nach Demos, als wir durch Zufall erfuhren, was sich hier tat. Die anderen Orden zogen weiter nach Demos, um bereit zu sein, in Chyrellos einzurücken, sobald es so weit ist, und wir kehrten nach Cimmura zurück. Wir sind erst spät in der vergangenen Nacht angekommen. Die Ritter wollten sofort in die Stadt, aber wir alle haben schwere Kämpfe hinter uns, und jeder war müde. Ich möchte, dass die Männer sich erst ausgeruht haben, ehe wir in der Stadt Ordnung schaffen.«
»Müssen wir mit Schwierigkeiten rechnen?«
»Das bezweifle ich. Diese Kirchensoldaten sind nicht Annias’ Männer. Wie gesagt, sind sie von anderen Patriarchen ausgeliehen, und ihre Loyalität ist zweifelhaft. Ich glaube, eine kleine Kraftprobe wird genügen, um sie zur Aufgabe zu bewegen.«
»Sind die übrigen sechs Ritter, die am Zauber im Thronsaal beteiligt sind, unter Euren hundert?«, fragte Sephrenia den Hochmeister.
»Ja«, antwortete Vanion matt. »Wir sind alle hier.« Er blickte auf das pandionische Schwert, das Sephrenia bei sich trug. »Wollt Ihr mir das geben?«
»Nein«, erwiderte sie entschieden. »Ihr habt bereits genug zu tragen. Aber jetzt wird es nicht mehr lange dauern.«
»Ihr wollt den Zauber umkehren?«, fragte Tynian. »Ehe Ihr den Bhelliom benutzt, um die Königin zu heilen, meine ich?«
»Das ist unumgänglich«, erklärte sie. »Der Bhelliom muss mit ihrer Haut in Berührung kommen, um sie heilen zu können.«
Kalten trat ans Fenster. »Es ist bereits Spätnachmittag. Wenn wir heute noch handeln wollen, sollten wir es gleich machen.«
»Warten wir bis morgen«, entschied Vanion. »Falls die Soldaten Widerstand leisten, könnte es eine Zeit lang dauern, bis wir sie unterworfen haben. Und ich möchte keinesfalls, dass es auch nur einem einzigen gelingt, sich in der Dunkelheit davonzustehlen und Annias zu warnen, ehe wir Zeit hatten, Verstärkung heranzuschaffen.«
»Wie viele Soldaten sind im Schloss?«, fragte Sperber.
»Meine Spione berichten von zweihundert«, antwortete Vanion. »Nicht genug, uns ernsthafte Schwierigkeiten zu machen.«
»Wir müssen uns etwas einfallen lassen, um die Stadt ein paar Tage lang völlig abzuriegeln, wenn wir verhindern wollen, dass rot uniformierter Entsatz flussaufwärts heranrückt«, riet Ulath.
»Darum kann ich mich kümmern«, sagte Talen. »Ich laufe in die Stadt, kurz bevor es dunkel wird, und rede mit Platime. Er wird die Tore für uns sichern.«
»Kann man ihm trauen?«, fragte Vanion.
»Platime? Natürlich nicht. Aber ich glaube, diesen Gefallen wird er uns erweisen. Er hasst Annias.«
»Das wär’s denn«, sagte Kalten zufrieden. »Wir brechen im Morgengrauen auf, und bis zum Mittagessen haben wir Ordnung geschafft.«
»Nicht nötig, für den Bastard Lycheas mitzudecken«, brummte Ulath und prüfte die Schneide seiner Streitaxt mit dem Daumen. »Ich glaube nicht, dass er großen Appetit haben wird.«