Kurik weckte Sperber früh am nächsten Morgen und half ihm in seine schwarze Paraderüstung. Seinen Schwertgürtel und den Helm mit Federbusch tragend, begab Sperber sich sodann zu Vanions Studiergemach, um dort auf den Sonnenaufgang und die Gefährten zu warten. Heute war der große Tag! Über ein halbes Jahr hatte er darauf hingearbeitet. Heute würde er seiner Königin in die Augen blicken, sie ritterlich grüßen und ihr den Treueid schwören können. Quälende Ungeduld erfasste ihn. Er konnte es kaum noch erwarten. »Und danach, Annias und Martel«, er flüsterte es beinahe, »werdet ihr nur noch eine Fußnote in den Geschichtsbüchern sein.«
»Und wer darf sich Krager vornehmen?«, fragte Kalten, der an Sperbers Seite schritt.
»Überlassen wir ihn jemandem, der uns einen Gefallen tut.«
»Ist mir recht.« Kalten wurde ernst. »Wird es funktionieren, Sperber? Wird der Bhelliom Ehlana tatsächlich heilen, oder haben wir uns nur etwas vorgemacht?«
»Ich rechne fest damit. Wir müssen ganz einfach daran glauben. Der Bhelliom ist sehr, sehr mächtig.«
»Hast du ihn überhaupt schon mal benutzt?«
»Einmal. Denk nicht an den Bhelliom, Kalten. Das ist unglaublich gefährlich.«
Kalten blickte ihn skeptisch an. »Wirst du Ulath bemühen, Lycheas einen Kopf kürzer zu machen, wenn wir im Palast sind?«
»Ich habe noch nicht darüber nachgedacht«, erwiderte Sperber. »Vielleicht sollten wir warten und Ehlana entscheiden lassen.«
»Gewiss. Übrigens, Vanion hat veranlasst, dass unsere Brüder ihre Rüstung anlegen. Sobald die Sonne aufgeht und das Stadttor geöffnet wird, dürften wir alle aufbruchbereit sein.« Er runzelte die Stirn. »Es könnte sich jedoch ein Problem ergeben. Am Tor sind Kirchensoldaten. Wenn sie uns kommen sehen, schmettern sie es uns vielleicht vor der Nase zu.«
»Für so einen Fall gibt es Rammböcke«, meinte Sperber.
»Vielleicht wird die Königin aber nicht sehr erfreut sein, wenn sie erfährt, dass du ihr Stadttor zerschmettert hast.«
»Wir werden die Kirchensoldaten zwingen, es wieder instand zu setzen.«
»Das wäre ehrliche Arbeit, und davon verstehen Kirchensoldaten herzlich wenig. Wirf erst einen Blick auf das Stück Kopfsteinpflaster außerhalb unserer Burg, bevor du eine endgültige Entscheidung triffst. Kirchensoldaten können mit Werkzeug nicht sonderlich gut umgehen.« Die Rüstung des großen Blonden knarrte, als er sich in einen Sessel setzte.
»Es hat uns viel Zeit gekostet, Sperber, aber jetzt haben wir es bald geschafft, was meinst du?«
»Ja, fast«, bestätigte Sperber. »Und wenn Ehlana erst wieder gesund ist, können wir uns auf die Suche nach Martel machen.«
Kaltens Augen leuchteten auf. »Und wir knöpfen uns Annias vor. Ich finde, wir sollten ihn vom Haupttor von Chyrellos baumeln lassen.«
»Er ist ein Primas der Kirche, Kalten«, tadelte Sperber ihn.
Kalten kicherte. »Wir können uns später bei ihm entschuldigen.«
»Und wie stellst du dir das vor?«
»Oh, da lasse ich mir schon was einfallen.« Kalten zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Wir könnten sagen, es sei ein Versehen gewesen, oder dergleichen.«
Als schließlich alle auf dem Hof versammelt waren, zeigte die Sonne sich bereits über dem Horizont. Vanion, der bleich und abgespannt aussah, plagte sich mit einer Kiste die Treppe herunter. »Die Schwerter«, erklärte er Sperber knapp. »Sephrenia sagt, wir werden sie im Thronsaal brauchen.«
»Kann denn nicht ein anderer sie tragen?«, fragte Kalten.
»Nein. Sie sind meine Bürde. Sobald Sephrenia herunterkommt, brechen wir auf.«
Die zierliche Styrikerin wirkte sehr ruhig, ja abwesend, als sie mit Ritter Gareds Schwert in den Händen, dicht gefolgt von Talen, aus dem Ordenshaus trat.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Sperber sie.
»Ja. Ich habe mich auf das Ritual im Thronsaal vorbereitet«, erwiderte sie.
»Es könnte zum Kampf kommen. Ist es da eine so gute Idee, Talen mitzunehmen?«, gab Kurik zu bedenken.
»Ich kann ihn beschützen«, versicherte sie ihm. »Seine Anwesenheit ist notwendig. Es gibt Gründe dafür, aber ich glaube nicht, dass Ihr sie verstehen würdet.«
»Lasst uns aufsitzen und losreiten«, drängte Vanion.
Ein beachtliches Gerassel setzte ein, als die hundert schwarz gepanzerten pandionischen Ritter in ihre Sättel kletterten. Sperber nahm seinen gewohnten Platz an Vanions Seite ein, Kalten, Bevier, Tynian und Ulath folgten ihnen dichtauf, und die Kolonne Pandioner reihte sich hinter ihnen ein. Sie überquerten die Zugbrücke im Trott und überraschten die Kirchensoldaten vor dem Tor. Auf eine knappe Geste Vanions hin, scherten zwanzig Pandioner aus der Kolonne aus und umzingelten die scheinbaren Arbeiter. »Haltet sie hier fest, bis wir durch das Tor sind. Dann bringt sie in die Stadt und schließt euch uns wieder an.«
»Jawohl, Eminenz«, bestätigte Ritter Perraine.
»Meine Herren«, wandte Vanion sich an die anderen, »ich glaube, Galopp wäre nun angebracht. Wir wollen den Soldaten in der Stadt nicht unnötig viel Zeit geben, sich auf unsere Ankunft vorzubereiten.«
Sie legten die kurze Strecke zwischen Ordenshaus und Osttor mit donnerndem Hufschlag zurück. Kaltens Befürchtung, das Tor würde vor ihrer Nase zugeschmettert werden, bewahrheitete sich nicht. Die Soldaten waren viel zu verblüfft, als dass sie so rasch hätten reagieren können.
»Meine Herren Ritter!«, protestierte ein Offizier mit schriller Stimme. »Ihr dürft die Stadt nicht ohne Genehmigung des Prinzregenten betreten!«
»Erlaubt Ihr, Hochmeister Vanion?«, bat Tynian höflich.
»Selbstverständlich, Ritter Tynian. Wir haben Dringliches zu erledigen und keine Zeit für müßiges Geschwätz.«
Tynian lenkte sein Pferd vorwärts. Das Vollmondgesicht des Ritters von Deira war von der Art, die man üblicherweise mit Gutmütigkeit und Lebensfreude in Verbindung bringen würde. Sein Panzer jedoch verbarg einen außerordentlich gut entwickelten Oberkörper und ungemein kräftige Arme und Schultern. Er zog sein Schwert. »Kamerad«, wandte er sich freundlich an den Offizier, »würdet Ihr die Güte haben, zur Seite zu treten, damit wir weiterreiten können? Ich bin sicher, dass keiner von uns Wert auf Unannehmlichkeiten legt.«
Viele der Kirchensoldaten, die inzwischen daran gewöhnt waren, dass sie in Cimmura tun und lassen konnten, was sie wollten, waren keineswegs darauf vorbereitet, dass jemand ihre Autorität infrage stellte. Zu Tynians Bedauern gehörte der Offizier zu diesen Soldaten. »Ohne ausdrückliche Genehmigung des Prinzregenten muss ich euch das Betreten der Stadt verbieten«, erklärte er unerbittlich.
»Ist das denn Euer letztes Wort?«, fragte Tynian und seufzte.
»Ja.«
»Dann habt Ihr es Euch selbst zuzuschreiben, Kamerad.« Tynian richtete sich in den Steigbügeln auf und schwang sein Schwert in hohem Bogen.
Da der Offizier nicht glauben konnte, dass jemand sich tatsächlich gegen ihn auflehnen könnte, unternahm er nichts, den Hieb abzuwehren oder ihm auszuweichen. Seine Miene verriet nur Verblüffung, als Tynians schwere breite Klinge den Winkel zwischen seinem Hals und der Schulter traf und schräg in seinen Oberkörper drang.
Der alzionische Ordensritter lehnte sich im Sattel zurück, nahm den rechten Fuß aus dem Steigbügel und stieß die Leiche von seiner Klinge. »Ich habe ihn gebeten, zur Seite zu treten, Hochmeister Vanion«, erklärte er. »Da er es nicht getan hat, liegt die Verantwortung für das, was ihm zustieß, allein bei ihm, findet Ihr nicht auch?«
»Durchaus, Ritter Tynian«, bestätigte der Hochmeister. »Ihr braucht Euch keine Vorwürfe zu machen. Höflicher hätte niemand sein können.«
»Reiten wir weiter«, brummte Ulath. Er zog seine Streitaxt aus ihrer Schlaufe an der Sattelseite. »Also«, wandte er sich an die entsetzten Kirchensoldaten. »Wer will der Nächste sein?«
Die Soldaten ergriffen die Flucht.
Die Ritter, welche die Arbeiter bewacht hatten, trotteten herbei und trieben ihre Gefangenen vor sich her. Vanion ließ zehn Pandioner zur Bewachung des Tors zurück und ritt an der Spitze der Kolonne in die Stadt. Die Bürger von Cimmura wussten über die Lage im Schloss Bescheid, und als sie die pandionischen Ritter in ihren schwarzen Panzern mit finsteren Gesichtern durch die Kopfsteinstraßen reiten sahen, zweifelten sie nicht, dass es zum Kampf kommen würde. Hastig wurden straßauf, straßab Fenster und Türen von innen verriegelt.
Die Pandioner ritten durch nunmehr verlassene Straßen.
Ein plötzliches Pfeifen erklang von hinten, dann ein heftiger metallischer Schlag. Sperber wirbelte halb herum.
»Du solltest wirklich besser auf deinen Rücken aufpassen, Sperber«, tadelte ihn Kalten. »Das war ein Armbrustbolzen. Er hätte dich genau zwischen den Schulterblättern getroffen. Du schuldest mir die Kosten für die Neuemaillierung meines Schildes.«
»Ich schulde dir mehr als das, Kalten«, entgegnete Sperber dankbar.
»Eigenartig«, stellte Tynian fest. »Die Armbrust ist eine lamorkische Waffe. Es gibt nicht viele Kirchensoldaten, die damit umgehen können.«
»Vielleicht eine persönliche Fehde«, warf Ulath ein. »Habt Ihr in letzter Zeit irgendwelche Lamorker beleidigt, Sperber?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Jedes weitere Wort wäre nur Zeitvergeudung«, sagte Vanion. »Wenn wir das Schloss erreichen, befehle ich den Soldaten sofort, die Waffen niederzulegen.«
»Glaubt Ihr, dass sie gehorchen?«, fragte Kalten.
Vanion lächelte freudlos. »Wahrscheinlich nicht – jedenfalls nicht, ehe wir ihnen eine Lehre erteilt haben. Sobald wir dort sind, Sperber, möchte ich, dass Ihr und Eure Freunde den Schlosseingang sichert. Es wäre höchst unerfreulich, wenn wir die Kirchensoldaten durch die Korridore hetzen müssten.«
»Jawohl, Hochmeister«, erwiderte Sperber steif.
Die Kirchensoldaten, die vom Stadttor geflohen waren, hatten ihre Kameraden im Schloss gewarnt. So hatten diese sich auf dem Schlosshof gesammelt und das prächtige Tor geschlossen.
»Bringt den Rammbock her!«, rief Vanion.
Ein Dutzend Pandioner ritt mit einem schweren Baumstamm herbei, der von Schlaufen an ihren Sätteln gehalten wurde. Sie benötigten etwa fünf Minuten, das Tor einzubrechen, dann strömten die Ordensritter auf den Hof.
»Werft eure Waffen auf den Boden!«, brüllte Vanion den verwirrten Soldaten auf dem Hof zu.
Sperber führte seine Freunde an der Innenmauer entlang zum Schlosseingang. Dort saßen sie ab und stiegen die Freitreppe hinauf zu den zwölf Soldaten, die dort Wache standen. Der diensthabende Offizier zog sein Schwert. »Ihr habt hier keinen Zutritt!«, rief er.
»Macht Platz, Nachbar«, forderte Sperber ihn mit bedrohlich ruhiger Stimme auf.
»Ihr habt mir nichts zu befeh…«, begann der Offizier. Ein Geräusch wie von einer Melone, die auf einem Steinboden aufschlägt, ertönte, als Kurik seinen Morgenstern auf den Schädel des Offiziers herabsausen ließ. Der Mann zuckte nur noch kurz.
»Das ist mir neu«, sagte Tynian zu Ulath. »Ich habe noch nie zuvor gesehen, wie das Hirn aus den Ohren quillt.«
»Kurik ist wirklich gut mit dem Morgenstern«, lobte Ulath.
»Irgendwelche Fragen?«, wandte Sperber sich drohend an die Wachen.
Sie starrten ihn stumm an.
»Ich glaube, ihr solltet eure Waffen fallen lassen«, sagte Kalten zu ihnen.
Hastig gehorchten sie.
»Wir lösen euch hier ab, Nachbarn«, erklärte Sperber ihnen. »Ihr könnt euch euren Kameraden auf dem Hof anschließen.«
Die Wachen rannten die breite Treppe hinunter.
Die Pandioner ritten langsam auf die Kirchensoldaten auf dem Hof zu. Einige der fanatischeren leisteten Widerstand, doch die Ordensritter erteilten ihnen die Lehre, zu der Vanion seinen Segen gegeben hatte. Blut rann über den gepflasterten Boden, und bald lagen abgetrennte Köpfe, Arme und ein paar Beine auf dem Hof. Immer mehr Soldaten erkannten, welchen Ausgang dieser Kampf nehmen würde. Sie warfen ihre Waffen zur Seite und ergaben sich. Ein kleiner Trupp leistete noch hartnäckigen Widerstand, doch er wurde alsbald von den Rittern an die Wand gedrängt. Auch diesen Soldaten wurde eine Lehre erteilt, aus der sie jedoch keinen Nutzen mehr ziehen konnten.
Vanion schaute sich auf dem Hof um. »Treibt die Überlebenden in den Marstall«, befahl er, »und lasst ein paar Mann als Wachen dort.« Dann saß er ab und schritt zum zerschmetterten Tor zurück. »Es ist vorbei, kleine Mutter«, rief er Sephrenia zu, die mit Talen und Berit außerhalb der Schlossmauer gewartet hatte. »Ihr könnt jetzt ohne Bedenken hereinkommen.«
Sephrenia lenkte ihren Schimmelzelter auf den Hof, doch nicht ohne sich die Augen mit einer Hand zuzuhalten. Talen dagegen schaute sich begeistert um.
»Schaffen wir ihn weg«, wandte Ulath sich an Kurik und bückte sich, um den getöteten Offizier an den Schultern aufzuheben. Zu zweit trugen sie die Leiche außer Sicht, und Tynian kratzte mit der Stiefelsohle rasch das ausgetretene Gehirn von der obersten Stufe.
»Zerstückelt Ihr Eure Gegner immer so?«, fragte Talen, ehe er absaß, um zu Sephrenia hinüberzugehen und ihr aus dem Sattel zu helfen.
Sperber zuckte mit den Schultern. »Vanion wollte, dass die Soldaten sehen, was ihnen widerfährt, wenn sie weiteren Widerstand leisten. Zerstückelung wirkt für gewöhnlich ungemein überzeugend.«
»Müsst Ihr so reden?« Sephrenia schauderte.
»Es ist besser, wenn Ihr noch kurz hier wartet, kleine Mutter«, meinte Sperber, als Vanion sich ihnen mit weiteren zwanzig Rittern anschloss. »Es könnten sich noch Soldaten im Innern verborgen haben.«
Sie stießen tatsächlich auf einige Krieger, doch Vanions Ritter trieben sie geschickt aus ihren Verstecken und brachten sie zum Eingang, wo ihnen die strikte Anweisung erteilt wurde, sich zu ihren Kameraden im Marstall zu gesellen.
Die Flügeltür der Ratskammer war unbewacht. Sperber öffnete sie und ließ Vanion den Vortritt.
Lycheas saß verängstigt hinter dem Ratstisch, neben ihm ein feister Mann in Rot sowie Baron Harparin, der verzweifelt an einer Klingelschnur zerrte. »Ihr dürft hier nicht herein!«, protestierte er schrill mit seiner weibischen Stimme. »Im Namen König Lycheas’ befehle ich euch, das Schloss auf der Stelle zu verlassen!«
Vanion blickte ihn mit eisiger Miene an. Sperber wusste, wie sehr der Hochmeister den widerwärtigen Päderasten verachtete. »Dieser Mann erzürnt mich«, Vanion deutete auf Harparin. »Würde ihm bitte jemand eine Lehre erteilen?«
Ulath schritt mit der Streitaxt in der Faust um den Tisch herum.
»Wagt es ja nicht!«, quiekte Harparin. Er wich voller Furcht zurück und zerrte weiterhin verzweifelt, aber vergeblich, an der Klingelschnur. »Ich bin Mitglied des Königlichen Rates. Wagt es ja nicht, mir etwas anzutun!«
Ulath wagte es. Harparins Kopf hüpfte einmal auf dem Boden auf, dann rollte er über den Teppich bis zum Fenster. Sein Mund war weit aufgerissen, und seine Augen quollen noch vor Entsetzen hervor. »War es das, was Ihr gemeint habt, Hochmeister Vanion?«, erkundigte sich der hünenhafte Thalesier höflich.
»So ungefähr, ja. Danke, Ritter Ulath.«
»Was ist mit den beiden anderen?« Ulath deutete mit der Axt auf Lycheas und den Feisten.
»Äh … noch nicht, Ritter Ulath.« Der Hochmeister der Pandioner trat mit dem Kasten, in dem sich die Schwerter der gefallenen Ritter befanden, an den Ratstisch. »Nun, Lycheas, wo ist der Graf von Lenda?«, fragte er scharf.
Lycheas starrte ihn offenen Mundes an.
»Ritter Ulath!«, sagte Vanion eisig.
»Nein!«, gellte Lycheas. »Lenda ist unten im Verlies. Wir haben ihm nichts getan, Hochmeister Vanion. Ich schwöre Euch, dass er …«
»Schafft Lycheas und diesen Dicken in den Keller«, befahl Vanion zwei Rittern. »Befreit den Grafen von Lenda und sperrt statt ihm diese beiden ins Verlies. Dann geleitet Graf Lenda hierher.«
»Gestattet Ihr, dass ich das übernehme?«, fragte Sperber.
»Selbstverständlich.«
»Bastard Lycheas«, sagte Sperber förmlich, »als Streiter der Königin ist es mir ein Vergnügen, Euch wegen Hochverrats zu arretieren. Die Strafe für ein solches Vergehen ist allgemein bekannt. Eure Hinrichtung wird zur angemessenen Zeit stattfinden. Euch darüber Gedanken zu machen, hilft Euch vielleicht, die Zeit während der langen eintönigen Stunden Eurer Gefangenschaft zu vertreiben.«
»Ich könnte uns Zeit und Ausgaben ersparen, Sperber«, erbot Ulath sich hilfsbereit und hob vielsagend seine Axt.
Sperber tat, als überlegte er. »Nein«, entgegnete er schließlich in bedauerndem Tonfall. »Lycheas hat das Volk von Cimmura seine Regentschaft bitter spüren lassen. Ich finde, die Menschen haben ein Recht auf das ergötzliche Schauspiel einer blutigen öffentlichen Hinrichtung.«
Lycheas flennte hemmungslos vor Angst, als Ritter Perraine und ein weiterer Pandioner ihn an Baron Harparins Schädel vorbei und durch die Tür zerrten.
»Ihr seid ein harter und entschlossener Mann, Sperber«, bemerkte Bevier.
»Ich weiß.« Sperber blickte Hochmeister Vanion an. »Wir müssen auf Lenda warten. Er hat den Schlüssel zum Thronsaal. Ich möchte nicht, dass Ehlana beim Aufwachen als Erstes eine eingeschlagene Tür sieht.«
Vanion nickte. »Ich brauche Lenda ohnehin.« Er setzte den Schwertkasten auf dem Ratstisch ab und ließ sich auf einem Stuhl nieder. »Vergesst nicht, Harparin zuzudecken, bevor Sephrenia kommt. Dinge wie diese gehen ihr sehr nahe.« Für Sperber war das ein neuerlicher, unvermuteter Hinweis, dass Vanions Besorgnis um Sephrenia weit über das übliche Maß hinausging.
Ulath trat ans Fenster, riss einen Vorhang herunter und schob den Kopf des Päderasten mit dem Fuß zu dessen Körper zurück; dann bedeckte er die Leiche.
»Eine ganze Generation kleiner Knaben wird sicherer schlafen, nun, da Harparin nicht mehr unter uns weilt«, sagte Kalten leichthin. »Und wahrscheinlich werden sie Ulath in ihre nächtlichen Gebete einbeziehen.«
Ulath zuckte die Achseln. »Ich kann jede Fürbitte brauchen, die ich bekommen kann.«
Sephrenia trat mit Talen und Berit ein und schaute sich um. »Ich bin angenehm überrascht«, sagte sie erleichtert. »Es tut wohl, kein blutiges Gemetzel zu sehen.« Plötzlich kniff sie die Augen zusammen und deutete auf die bedeckte Leiche nahe der Wand. »Was ist das?«
»Der verblichene Baron Harparin«, erklärte Kalten. »Er verließ uns ziemlich plötzlich.«
»Habt Ihr etwa nachgeholfen, Sperber?«, fragte Sephrenia anklagend.
»Nicht er, sondern ich«, warf Ulath ein. »Es tut mir leid, wenn es Euch stört, aber ich bin nun mal Thalesier. Wir sind weit und breit als Barbaren verschrien, und man kann sich doch seiner Verpflichtung nicht entziehen, dem Ruf seiner Heimat Ehre zu machen, oder denkt Ihr da anders?«
Sie entsagte es sich, darauf zu antworten, und ließ den Blick über die Gesichter der in der Ratskammer anwesenden Pandioner schweifen. »Gut.« Sie nickte. »Wir sind alle hier. Öffnet den Kasten, Vanion.«
Der Hochmeister tat wie geheißen.
»Meine Herren Ritter«, begann Sephrenia, nachdem sie Ritter Gareds Schwert neben den Kasten auf den Tisch gelegt hatte. »Vor einigen Monaten haben mir zwölf von Euch geholfen, den Zauber zu wirken, der Königin Ehlana am Leben erhalten hat. Sechs Eurer tapferen Kameraden sind seither in das Haus des Todes eingegangen. Ihre Schwerter müssen jedoch hier sein, wenn wir den Zauber aufheben, um die Königin heilen zu können. Deshalb muss jeder von Euch, der dabei gewesen ist, zusätzlich zum eigenen Schwert auch eines der gefallenen Brüder tragen. Ich werde den Zauber sprechen, der es Euch ermöglicht, diese Schwerter an Euch zu nehmen. Danach begeben wir uns zum Thronsaal, wo Euch die Schwerter der Gefallenen abgenommen werden.«
Vanion blickte sie erstaunt an. »Abgenommen? Von wem?«
»Ihren ursprünglichen Besitzern.«
»Ihr werdet Geister im Thronsaal beschwören?«, fragte er überrascht.
»Dazu bedarf es keiner Beschwörung. Dafür sorgt ihr Schwur. Wie schon einmal nehmt Ihr um den Thron herum Aufstellung und streckt die Schwerter aus. Ich hebe den Zauber auf, wodurch der Kristall verschwinden wird. Alles andere hängt von Sperber ab – und vom Bhelliom.«
»Sagt mir genau, was ich tun muss«, verlangte Sperber.
»Zur rechten Zeit«, erwiderte sie. »Ich möchte nicht, dass Ihr voreilig handelt.«
Ritter Perraine geleitete den merklich gealterten Grafen von Lenda in die Ratskammer.
»Wie war es im Verlies?«, erkundigte Vanion sich beiläufig.
»Klamm, Hochmeister Vanion«, antwortete Lenda.
Vanion musterte das gefurchte Gesicht des greisen Edelmannes. »Wie geht es Euch gesundheitlich, Lenda? Ihr seht sehr müde aus.«
»Alte Männer sehen immer sehr müde aus, Vanion.« Lenda lächelte sanft. »Und ich bin älter als die meisten.« Er straffte die dünnen Schultern. »Ins Verlies geworfen zu werden, ist ein Berufsrisiko für Diener der Öffentlichkeit. Man gewöhnt sich daran. Ich war schon in schlimmeren.«
»Ich bin sicher, Lycheas und dieser feiste Kerl werden den Aufenthalt im Verlies genießen, Euer Gnaden«, sagte Kalten lächelnd.
»Das bezweifle ich, Ritter Kalten.«
»Wir haben sie darauf aufmerksam gemacht, dass das Ende ihrer Gefangenschaft den Übergang in eine andere Welt einleitet. Deshalb bin ich überzeugt, dass sie das Verlies vorziehen. So unangenehme Mitbewohner sind Ratten gar nicht!«
»Ich habe Baron Harparin nicht gesehen. Ist er entkommen?«
»Sozusagen«, antwortete Kalten. »Er war beleidigend. Ihr habt Harparin ja selbst gekannt. Ritter Ulath erteilte ihm eine kleine Nachhilfe in Höflichkeit – mit seiner Streitaxt.«
»Dieser Tag ist voll erfreulicher Überraschungen«, sagte Lenda glucksend.
»Graf von Lenda«, sagte Vanion nun förmlich, »wir werden uns jetzt in den Thronsaal begeben, um den Zauber von der Königin zu nehmen. Ich möchte, dass Ihr als Zeuge daran teilnehmt, damit Ihr die Identität der Königin bestätigen könnt, sollte es zu einem späteren Zeitpunkt zu Zweifeln kommen. Das einfache Volk ist abergläubisch, und es gibt gewisse Persönlichkeiten, die vielleicht ein Gerücht in Umlauf bringen möchten, dass Ehlana nicht wirklich ist, wer sie zu sein scheint.«
»Sehr gern, Hochmeister Vanion«, versicherte ihm Lenda, »aber wie wollt Ihr den Zauber von ihr nehmen?«
»Ihr werdet es sehen.« Sephrenia lächelte. Sie streckte die Hände über die Schwerter und murmelte einen langen styrischen Spruch. Die Schwerter glühten flüchtig, und die Ritter, die dabei gewesen waren, als Königin Ehlana in Kristall gehüllt wurde, traten zum Tisch. Sephrenia sprach mit gedämpfter Stimme, worauf ein jeder eines der Schwerter an sich nahm. »Sehr gut«, lobte sie. »Begeben wir uns nun zum Thronsaal.«
»Das alles ist sehr geheimnisvoll«, sagte Lenda zu Sperber, während sie durch den Korridor zum Thronsaal schritten.
»Habt Ihr schon einmal gesehen, wie echte Magie gewirkt wurde, Euer Gnaden?«, fragte Sperber ihn.
»Ich glaube nicht an Magie, Sperber.«
Sperber lächelte. »Das könnte sich schon bald ändern.«
Der greise Edelmann zog den Schlüssel aus einer Tasche und sperrte die Tür zum Thronsaal auf. Dann folgten alle Sephrenia in den Saal. Es war dunkel. Während Lendas Gefangenschaft hatte man alle Kerzen verlöschen lassen. Aber auch in der Dunkelheit konnte Sperber immer noch den gemessenen Schlag des Herzens seiner Königin vernehmen. Kurik trat auf den Korridor zurück und kehrte mit einer brennenden Fackel wieder.
»Frische Kerzen?«, fragte er Sephrenia.
»Unbedingt«, antwortete sie. »Wir wollen doch nicht, dass Ehlana in einem dunklen Raum erwacht.«
Kurik und Berit wechselten die niedergebrannten Kerzen gegen neue aus. Dann blickte Berit neugierig auf die junge Königin, der er so treu gedient hatte, ohne sie je gesehen zu haben. Seine Augen weiteten sich plötzlich, als er sie anstarrte, und er hielt den Atem an. Sein Blick war der einer durchaus angebrachten Verehrung, aber Sperber fand, dass es vielleicht noch ein bisschen mehr war als Hochachtung. Berit war im selben Alter wie Ehlana, und sie war bildschön.
»So ist es viel besser«, lobte Sephrenia und blickte sich in dem nun von Kerzenschimmer erhellten Saal um. »Sperber, kommt mit mir.« Sie führte ihn zu dem Podest, auf dem der Thron stand.
Ehlana trug prächtige Gewänder, und auf ihrem hellblonden Haar glitzerte die Krone von Elenien. Sie hatte die Augen geschlossen, und ihr Gesicht strahlte inneren Frieden aus.
»Gleich ist es so weit, meine Königin«, murmelte Sperber mit Tränen in den Augen.
»Zieht Eure Handschuhe aus, Sperber«, wies Sephrenia ihn an. »Die Ringe müssen den Bhelliom berühren, wenn Ihr ihn benutzt.«
Er schlüpfte aus den Rüsthandschuhen, holte den Leinenbeutel hervor und knüpfte die Zugschnur auf.
»Also dann, meine Herren«, wandte Sephrenia sich an die überlebenden Ritter. »Nehmt Eure Plätze ein.«
Vanion und die fünf anderen Pandioner stellten sich rings um den Thron auf, jeder mit seinem eigenen Schwert und dem eines ihrer gefallenen Brüder.
Sephrenia stand neben Sperber und begann mit dem styrischen Spruch, den ihre Hände in webender Bewegung begleiteten. Die Kerzenflammen flackerten wie im Rhythmus zu dem klangvollen Zauber. Plötzlich breitete sich im Saal der Geruch des Todes aus. Sperber riss den Blick von Ehlanas Antlitz, um sich rasch im Kreis der Ritter umzusehen. Wo sich sechs befunden hatten, standen nun zwölf. Die durchscheinenden Gestalten jener, die in den vergangenen Monaten einer nach dem anderen den Tod gefunden hatten, waren zurückgekehrt, um ein letztes Mal ihre Schwerter in die Hand zu nehmen.
»Jetzt, meine Herren Ritter«, wies Sephrenia die lebenden wie die toten an, »richtet Eure Schwerter auf den Thron.« Sie sprach nun eine andere Beschwörung. Die Spitze eines jeden Schwertes fing zu glühen an und leuchtete immer heller, bis ein Ring aus reinem Licht den Thron umgab. Sephrenia hob den Arm und rief ein kurzes Wort; dann senkte sie den Arm so heftig, als wolle sie die Luft durchschneiden. Die Kristallhülle, die den Thron umgab, zerfloss, als wäre sie aus Wasser. Dann war sie verschwunden.
Ehlana sank nach vorn und zitterte heftig am ganzen Leib. Sie atmete schwer, und ihr Herzschlag, der immer noch im Saal widerhallte, wurde stockend. Sperber sprang auf das Thronpodest, um ihr zu Hilfe zu eilen.
»Noch nicht!«, rief Sephrenia scharf.
»Aber …«
»Tut, was ich sage!«
Hilflos stand Sperber eine Minute, die ihm länger als eine Stunde schien, über seine Königin gebeugt. Dann trat Sephrenia herbei und hob Ehlanas Kinn mit beiden Händen. Die weit aufgerissenen grauen Augen der Königin waren blicklos, und ihr Gesicht war grotesk verzerrt.
»Nehmt jetzt den Bhelliom in beide Hände, Sperber«, befahl Sephrenia, »und legt ihn auf ihre Brust über dem Herzen. Aber denkt daran, dass beide Ringe den Stein berühren müssen! Und dann befehlt ihm, sie zu heilen.«
Sperber nahm die Saphirrose in beide Hände und tupfte damit behutsam auf Ehlanas Brust.
»Heile meine Königin, Bhelliom Blaurose!«, befahl er laut.
Die ungeheure Kraft, die von dem Stein in seinen Händen ausging, zwang Sperber in die Knie. Die Kerzen flackerten, und ihr Schein verdüsterte sich, als huschte ein dunkler Schatten über den Saal. War irgendetwas geflohen? Oder war es der Schatten des Grauens, das Sperber folgte und seine Träume in Albträume verwandelte?
Ehlana erstarrte, und ihre schlanke Gestalt wurde gegen die Rückenlehne ihres Throns geschmettert. Ein heiseres Keuchen löste sich aus ihrer Kehle. Dann wurden ihre Augen mit einem Mal klar, und sie blickte Sperber überrascht an.
»Es ist vollbracht«, erklärte Sephrenia mit zittriger Stimme, dann knickten ihre Knie ein, und sie sank kraftlos auf das Podest.
Ehlana holte zitternd Atem. »Mein Ritter!«, rief sie schwach und streckte die Arme nach dem Pandioner in der schwarzen Rüstung aus, der vor ihr kniete. Trotz ihrer Schwäche war ihre Stimme voll und melodisch. Es war die Stimme einer Frau, nicht mehr die Kinderstimme, an die Sperber sich erinnerte. »Oh, Sperber, endlich seid Ihr zu mir zurückgekehrt!« Sie schlang die zitternden Arme um seine gepanzerten Schultern, schob das Gesicht unter das hochgeklappte Visier und küsste ihn.
»Genug für jetzt, Kinder«, sagte Sephrenia. »Sperber, tragt sie zu ihren Gemächern.«
Sperber war aufgewühlt. Ehlanas Kuss war alles andere als kindlich gewesen. Er steckte den Bhelliom in den Beutel zurück, nahm seinen Helm ab und warf ihn Kalten zu. Dann nahm er seine Königin sanft in die Arme, und sie schmiegte ihre Wange an seine.
»Oh, ich habe dich gefunden«, hauchte sie und legte die Arme um seine Schultern. »Ich liebe dich und lasse dich nie mehr gehen.«
Sperber erkannte die Ballade, aus der Ehlana zitierte, und er fand es sehr ungeziemend. Es machte ihm Sorgen. Etwas war ganz offensichtlich nicht so, wie es sein sollte.