7

Sie brachen bei Sonnenaufgang am nächsten Morgen nach Demos auf. Die Fähnchen an ihren Lanzen flatterten, als die hundert Pandioner im klingelnden Trott ostwärts ritten.

»Es ist ein schöner Tag, um unterwegs zu sein.« Vanion blickte auf die sonnigen Wiesen. »Ich wünschte nur – nun ja.«

»Wie fühlt Ihr Euch jetzt, Vanion?«, fragte Sperber seinen alten Freund.

»Viel besser«, antwortete der Hochmeister. »Ich will ehrlich zu Euch sein, Sperber. Diese Schwerter waren sehr, sehr schwer. Sie haben mir nur allzu deutlich gezeigt, wie es ist, alt zu werden.«

»Ihr werdet ewig leben, mein Freund.« Sperber lächelte.

»Wenn man sich so fühlt wie ich mich, als ich diese Schwerter trug, kann ich darauf verzichten.«

Eine Zeit lang ritten sie stumm dahin.

»Es wird nicht leicht sein, Vanion«, sagte Sperber düster. »Annias’ Leute sind in Chyrellos weit in der Überzahl. Und wenn Otha in Lamorkand zum Vormarsch ansetzt, wird es ein knappes Rennen zwischen ihm und Wargun. Sieger ist der, der als Erster in Chyrellos eintrifft.«

»Ich denke, hier kommen wir dem Glaubensbekenntnis sehr nahe, Sperber. Wir werden ganz einfach auf Gott vertrauen müssen. Ich bin sicher, er möchte nicht, dass Annias Erzprälat wird, und ich bin überzeugt, dass er Otha nicht in Chyrellos haben will.«

»Hoffen wir es.«

Berit und Talen ritten nicht weit hinter ihnen. Im Lauf der Monate hatte sich eine besondere Art von Freundschaft zwischen dem Novizen und dem jungen Dieb entwickelt, die sich unter anderem dadurch ergeben hatte, dass beide sich in Anwesenheit der Älteren ein wenig unbehaglich fühlten.

Berit richtete sich im Sattel auf. »Es ist so, Talen«, erklärte er, »wenn der alte Erzprälat stirbt, versammeln die Patriarchen der Hierokratie sich in der Basilika. Die meisten anderen hohen Kirchenmänner sind ebenfalls dort. Für gewöhnlich auch die Könige von Eosien. Jeder König hält zu Beginn eine Rede, doch während der Beratung der Hierokratie darf niemand außer den Patriarchen sprechen. Sie sind auch die Einzigen, die stimmberechtigt sind.«

»Heißt das, die Hochmeister dürfen gar nicht wählen?«

»Die Hochmeister sind Patriarchen«, warf Perraine ein, der hinter ihnen ritt.

»Das wusste ich nicht. Ich habe mich gefragt, warum jeder den Ordensrittern respektvoll Platz macht. Wie kommt es dann, dass Annias der Kirche in Cimmura vorsitzt?«

»Patriarch Udale ist dreiundneunzig, Talen«, erklärte Berit. »Er lebt zwar noch, aber wir sind nicht einmal sicher, ob er überhaupt noch seinen eigenen Namen weiß. Er wird im pandionischen Mutterhaus in Demos gepflegt.«

»Das macht es Annias nicht gerade leichter, nicht wahr? Als Primas darf er nicht reden – oder abstimmen, und er hat gewiss auch keine Möglichkeit, diesen Udale zu vergiften, wenn sich der im Mutterhaus aufhält, oder?«

»Richtig. Und deshalb braucht er Geld. Er muss Leute kaufen, die für ihn reden – und für ihn stimmen.«

»Einen Moment! Annias ist doch nur ein Primas, oder nicht?«

»Stimmt.«

Talen runzelte die Stirn. »Wenn er bloß ein Primas ist, während die anderen Patriarchen sind, wie kann er davon ausgehen, bei der Wahl eine Chance zu haben?«

»Ein Kirchenmann braucht nicht Patriarch zu sein, um den Kirchenthron besteigen zu dürfen. Im Lauf der Geschichte wurden schon mehrmals einfache Dorfpfarrer Erzprälat.«

»Das alles ist sehr kompliziert, findet Ihr nicht? Wäre es nicht einfacher, wenn wir mit der Armee einrückten und den Mann auf den Thron setzten, den wir wollen?«

»Das wurde in früherer Zeit schon versucht. Aber es hat nie richtig geklappt. Ich glaube, Gott hat das nicht gebilligt.«

»Er wird es noch viel weniger billigen, wenn Annias gewählt wird, oder?«

»Da magst du recht haben, Talen.«

Tynian ritt mit breitem Grinsen herbei. »Kalten und Ulath amüsieren sich damit, Lycheas’ Angst noch zu schüren. Ulath köpft im Vorüberreiten Schösslinge mit seiner Axt, und Kalten hat eine Henkersschlinge geknüpft und deutet damit auf überhängende Äste. Wir mussten Lycheas’ Hände an den Sattelknauf ketten, damit er nicht bewusstlos vom Pferd fällt.«

»Kalten und Ulath sind anspruchslose Burschen«, bemerkte Sperber. »Es braucht nicht viel, sie zu amüsieren. Lycheas wird seiner Mutter eine Menge zu erzählen haben.«

Gegen Mittag verließen sie die Landstraße und ritten querfeldein südostwärts. Das schöne Wetter hielt an. Sie kamen rasch voran und erreichten Demos spät am nächsten Tag. Kurz bevor die Kolonne nach Süden zum Lager der übrigen drei Orden abbog, brachten Sperber, Kalten und Ulath Lycheas um den Nordrand der Stadt herum zu dem Kloster, in dem Prinzessin Arissa gefangen gehalten wurde. Es war von bewaldeten Hängen umgeben und hatte gelbe Sandsteinmauern. Vögel sangen auf den Bäumen ringsum im Spätnachmittagssonnenschein.

Sperber und seine Freunde saßen am Tor ab und zerrten den geketteten Lycheas ziemlich grob aus dem Sattel.

»Wir müssen mit Eurer Mutter Oberin sprechen«, sagte Sperber zu der sanften, kleinen Nonne, die ihnen das Tor öffnete. »Hält Prinzessin Arissa sich immer noch die meiste Zeit im Garten an der Südmauer auf?«

»Ja, Herr Ritter.«

»Seid so gut und bittet die Mutter Oberin, sich uns dort anzuschließen. Wir wollen ihr Arissas Sohn übergeben.« Er fasste Lycheas am Schlafittchen und zog ihn quer durch den Hof zu dem mauerumgebenen Garten, in dem Arissa viele Stunden ihrer Gefangenschaft verbrachte.

»Mutter!«, rief Lycheas, als er sie sah. Er riss sich von Sperber los und stolperte auf sie zu. Die Ketten behinderten seine flehend ausgestreckten Hände.

Prinzessin Arissa sprang empört auf. Die schwarzen Ringe um ihre Augen waren fast verschwunden, und ihre unzufriedene Miene hatte selbstgefälliger Erwartung Platz gemacht.

»Was soll das?«, fragte sie scharf und umarmte ihren zitternden Sohn.

»Sie haben mich ins Verlies geworfen, Mutter«, erwiderte Lycheas schluchzend, »und sie haben mich bedroht!«

»Wie könnt Ihr es wagen, den Prinzregenten so zu behandeln, Sperber?«, schrie sie.

»Die Lage hat sich geändert, Prinzessin«, erklärte Sperber kühl. »Euer Sohn ist nicht mehr Prinzregent.«

»Niemand hat das Recht, ihn abzusetzen. Dafür werdet Ihr mit dem Leben bezahlen, Sperber.«

»Das bezweifle ich, Arissa«, sagte Kalten grinsend. »Ich bin sicher, Ihr werdet Euch freuen zu hören, dass Eure Nichte von ihrer Krankheit genesen ist.«

»Ehlana? Das ist unmöglich.«

»Da täuscht Ihr Euch. Ich weiß, dass Ihr als wahre Tochter der Kirche in unsere Lobpreisung Gottes für ihre Errettung einstimmen werdet. Der Königliche Rat war außer sich vor Freude. Baron Harparin sogar so sehr, dass er den Kopf verlor.«

»Aber es gibt keine Heilung von …« Hastig biss sie sich auf die Unterlippe.

»Von einer Vergiftung durch Darestim?«, beendete Sperber den Satz für sie.

»Woher wisst Ihr …«

»So schwierig war das gar nicht, Arissa. Es bricht nun alles über Eurem Kopf zusammen, Prinzessin. Die Königin war außerordentlich ungehalten, Euret- und Eures Sohnes wegen – und auch Primas Annias wegen. Sie hat uns befohlen, Euch drei in Gewahrsam zu nehmen. Betrachtet Euch unter Arrest.«

»Wie lautet die Anklage?«

»Hochverrat, nicht wahr, Kalten?«

»Ja, ich glaube, das waren die Worte der Königin. Ich bin sicher, es ist alles ein Missverständnis, Eure Hoheit.« Der Blonde lächelte die Tante der Königin spöttisch an. »Ihr, Euer Sohn und der gute Primas dürften keine Schwierigkeiten haben, die Dinge bei der Verhandlung richtigzustellen.«

»Verhandlung?« Arissa erbleichte.

»Soviel ich weiß, ist dies das übliche Verfahren, Prinzessin. Normalerweise hätten wir Euren Sohn einfach gehängt und Euch dann ebenfalls, aber Ihr habt beide eine gewisse Bekanntheit im Reich, deshalb sind einige Formalitäten angebracht.«

»Das ist absurd!«, rief Arissa. »Ich bin Prinzessin aus königlichem Geblüt! Ich kann eines solchen Verbrechens gar nicht angeklagt werden.«

»Nun, vielleicht könnt Ihr das Ehlana erklären«, entgegnete Kalten. »Ich bin überzeugt, sie wird sich Eure Argumente aufmerksam anhören – ehe sie das Urteil spricht.«

»Ihr werdet auch des Mordes an Eurem Bruder angeklagt, Arissa«, fügte Sperber hinzu. »Prinzessin oder nicht, das allein genügte schon, Euch zu hängen. Aber wir sind momentan in Zeitnot. Euer Sohn wird Euch die Sachlage gewiss in allen Einzelheiten erklären können.«

Eine greise Nonne betrat den Garten. Ihre Miene drückte Missfallen über die Anwesenheit von Männern innerhalb der Klostermauern aus.

»Ah, Mutter Oberin.« Sperber begrüßte sie mit einer Verbeugung. »Auf Anordnung der Krone habe ich den Auftrag, diese beiden Verbrecher in Haft zu setzen, bis sie vor Gericht gebracht werden können. Habt Ihr Bußzellen in Eurem Kloster?«

»Ich muss bedauern, Herr Ritter«, entgegnete die Äbtissin, »aber die Bestimmungen unseres Ordens verbieten es uns, Büßerinnen gegen ihren Willen einzusperren.«

»Das macht nichts, Mutter Oberin«, sagte Ulath lächelnd. »Wir kümmern uns darum. Keinesfalls wollen wir die Damen der Kirche in Verlegenheit bringen. Ich kann Euch versichern, dass die Prinzessin und ihr Sohn gar nicht mehr den Wunsch verspüren werden, ihre Zellen zu verlassen – so in Buße vertieft, wie sie sein werden. Lasst mich überlegen. Ich werde zwei Rollen Ketten benötigen, einige kräftige Nägel, einen Hammer und einen Amboss. Ich werde diese Zellen gründlich verschließen, und Ihr und Eure Schwestern braucht Euch nicht mit Politik zu beschäftigen.« Er hielt inne und blickte Sperber an. »Oder soll ich sie an die Mauer ketten?«

Sperber überlegte es ernsthaft. »Nein«, entschied er schließlich. »Sie sind trotz allem Angehörige des Königshauses, da sollte man eine gewisse Rücksicht walten lassen.«

»Ich habe keine Wahl, als auf Eure Wünsche einzugehen, meine Herren Ritter«, sagte die Äbtissin. Sie blickte sie fragend an. »Es gehen Gerüchte um, dass die Königin genesen ist. Ist etwas Wahres daran?«

»Oh ja, Mutter Oberin«, versicherte ihr Sperber. »Die Königin ist wohlauf und hat die Regierungsgeschäfte in Elenien wieder übernommen.«

»Gott sei gelobt!«, rief die greise Nonne. »Und werdet Ihr unsere unerwünschten Gäste bald aus unserem Kloster entfernen?«

»Ja, Mutter Oberin. Sehr bald.«

»Dann werden wir die Räumlichkeiten, welche die Prinzessin entweiht hat, säubern – und natürlich für ihre Seele beten.«

»Natürlich.«

»Wie ungemein rührend«, sagte Arissa spöttisch.

Etwa fünfzehn Minuten später kamen Kalten und Ulath aus dem Klosterinnern zurück.

»Alles gut gesichert?«, fragte Sperber.

»Ein Schmied würde eine Stunde brauchen, diese Zellentüren aufzubekommen«, versicherte ihm Kalten. »Reiten wir weiter?«

Sie hatten kaum eine halbe Meile zurückgelegt, als Ulath plötzlich den großen Pandioner aus dem Sattel stieß und dabei brüllte: »Vorsicht, Sperber!«

Der Armbrustbolzen zischte durch die leere Luft, wo sich noch vor einem Moment Sperber befunden hatte, und bohrte sich in einen Baum am Straßenrand.

Kalten riss sein Schwert aus der Scheide und spornte sein Pferd in die Richtung, aus welcher der Bolzen gekommen war.

»Alles in Ordnung bei Euch?«, fragte Ulath. Er saß ab, um Sperber auf die Füße zu helfen.

»Von einem Bluterguss abgesehen, ja. Ihr stoßt sehr kraftvoll zu, mein Freund.«

»Tut mir leid, Sperber. Es war die Aufregung.«

»Ist schon gut, Ulath. Stoßt so fest Ihr wollt, wenn so was passiert. Wie habt Ihr den Bolzen überhaupt gesehen?«

»Reines Glück. Ich schaute zufällig in diese Richtung und sah eine Bewegung im Gebüsch.«

Kalten kam fluchend zurück. »Ich habe ihn nicht erwischt.«

»Ich werde dieses Burschen allmählich sehr leid«, brummte Sperber und zog sich in den Sattel.

»Denkst du, es ist derselbe, der dir in Cimmura in den Rücken schießen wollte?«, fragte Kalten.

»Wir sind nicht in Lamorkand, Kalten, wo in jeder Küche im ganzen Reich eine Armbrust in einer Ecke lehnt.« Er überlegte kurz. »Reden wir nicht darüber, wenn wir wieder bei Vanion sind«, bat er. »Ich kann schon auf mich aufpassen, und er hat ohnehin genug am Hals.«

Die Ritter der vier Orden warteten in einem gut verborgenen Lager etwa drei Meilen südlich von Demos. Sperber und seine Gefährten wurden zu einem Zelt gewiesen, wo ihre Freunde mit Hochmeister Abriel vom cyrinischen Orden, Hochmeister Komier vom genidianischen und Hochmeister Darellon vom alzionischen, in ein Gespräch vertieft waren. »Wie hat die Prinzessin die Neuigkeiten aufgenommen?«, fragte Vanion.

»Sie war ziemlich unzufrieden«, spöttelte Kalten. »Sie versuchte, eine Rede zu halten, aber da sie im Grunde genommen nichts weiter sagen wollte als ›das könnt ihr nicht tun‹, würgten wir sie ab.«

»Ihr habt was? «, rief Vanion.

»Oh, nicht so, Hochmeister Vanion. Eine missverständliche Wortwahl, fürchte ich«, entschuldigte Kalten sich.

»Sagt, was Ihr meint, Kalten«, rügte ihn Vanion. »Jetzt sind Zweideutigkeiten unangebracht!«

»Ich würde die Prinzessin doch nicht wirklich strangulieren, Eminenz.«

»Ich schon«, brummte Ulath.

»Dürfen wir den Bhelliom sehen?«, wandte Komier sich an Sperber.

Sperber blickte Sephrenia an, und sie nickte, wenngleich etwas zögernd. Sperber langte unter seinen Wappenrock und holte den Leinenbeutel hervor. Er knüpfte die Zugschnur auf; dann schüttelte er die Saphirrose auf seinen Handteller.

Es war schon ein paar Tage her, seit er auch nur das geringste Unbehagen empfunden hatte, den der ungewöhnliche Schatten immer hervorrief, doch er verspürte es, kaum dass sein Blick auf die Blütenblätter der Saphirrose fiel, und wieder zuckte dieser formlose Schatten, jetzt noch schwärzer und größer, unmittelbar am Rand seines Blickfelds.

»Großer Gott!«, stieß Hochmeister Abriel keuchend aus.

»Lasst ihn schnell wieder verschwinden«, brummte der Thalesier Komier.

»Aber …«, protestierte Hochmeister Darellon.

»Wollt Ihr Eure Seele bewahren, Darellon?«, fragte Komier. »Wenn ja, dann starrt dieses Ding nicht länger als ein paar Sekunden an!«

»Steckt ihn wieder weg, Sperber«, wies Sephrenia ihn an.

»Gibt es Neues über Otha?«, erkundigte Kalten sich, als Sperber den Bhelliom zurück in den Beutel fallen ließ.

»Er hat sich offenbar nicht von der Grenze gerührt«, antwortete Abriel. »Vanion erzählte uns von dem Geständnis des Bastards Lycheas. Es ist anzunehmen, dass Annias Otha gebeten hat, dortzubleiben und vorerst nur zu drohen. Denn so kann der Primas von Cimmura behaupten, er kenne eine Möglichkeit, den Vormarsch der Zemocher zu verhindern. Das könnte ihm einige Stimmen einbringen.«

»Otha weiß, dass Sperber den Bhelliom hat. Das ist doch anzunehmen, nicht wahr?«, fragte Ulath.

»Da Azash es weiß, weiß Otha es auch«, sagte Sephrenia. »Ob Annias es bereits erfahren hat, ist noch nicht sicher.«

»Was tut sich in Chyrellos?«, fragte Sperber Vanion.

»Wir haben zuletzt gehört, dass das Leben des Erzprälaten Cluvonus nur noch an einem seidenen Faden hängt. Da es unmöglich ist, unser Kommen zu verheimlichen, reiten wir nun offen nach Chyrellos. Und nachdem Otha seinen ersten Zug gemacht hat, haben auch wir unsere Pläne geändert. Wir wollen versuchen, Chyrellos zu erreichen, bevor Cluvonus stirbt. Zweifellos wird Annias alles tun, damit die Wahl so schnell wie möglich anberaumt wird. Wirklich Befehle erteilen kann er erst danach. Aber sobald Cluvonus den letzten Atemzug getan hat, können die Patriarchen, die Annias gekauft hat, die Einberufung der Wahl fordern. Als Erstes werden sie darüber abstimmen, die Stadttore zu schließen. Annias wird wahrscheinlich die nötigen Stimmen haben, diesen Antrag durchzubringen.«

»Kann Dolmant in etwa abschätzen, wie die Stimmenverteilung gegenwärtig ist?«, fragte Sperber.

»Knapp, Ritter Sperber«, antwortete Hochmeister Abriel vom cyrinischen Orden. Er war ein stämmiger Mann in den Sechzigern mit Silberhaar und dem Gesicht eines Asketen. »Es sind bei Weitem nicht alle Patriarchen in Chyrellos.«

»Was zum Teil der Tüchtigkeit von Annias’ Meuchlern zuzuschreiben sein dürfte«, sagte der Thalesier Komier trocken.

»Höchstwahrscheinlich«, stimmte Abriel bei. »Jedenfalls halten sich gegenwärtig einhundertzweiunddreißig Patriarchen in Chyrellos auf.«

»Von wie vielen insgesamt?«, erkundigte Kalten sich.

»Von einhundertachtundsechzig.«

»Warum eine so krumme Zahl?«, fragte Talen neugierig.

»Es wurde einst so bestimmt, junger Mann. Man entschied sich für diese Zahl, damit hundert Stimmen erforderlich sein würden, einen neuen Erzprälaten zu wählen.«

»Hundertsiebenundsechzig wäre näher dran gewesen«, sagte Talen nach kurzer Überlegung.

»Woran?« Kalten blickte ihn an.

»An den hundert Stimmen. Hundert Stimmen wären sechzig Prozent von …« Talen bemerkte Kaltens verständnislose Miene. »Ah, ist schon gut, Kalten. Ich erkläre es Euch später.«

»Kannst du das im Kopf ausrechnen, Junge?«, fragte Komier erstaunt. »Dann haben wir eine Menge Papier mit unseren Berechnungen vergeudet.«

»Es ist ein Trick, Eminenz«, sagte Talen bescheiden. »In meinem Geschäft muss man manchmal sehr schnell mit Zahlen umgehen. Darf ich fragen, wie viele Stimmen Annias gegenwärtig hat?«

»Fünfundsechzig«, erwiderte Ariel, »teils feste, teils wahrscheinliche.«

»Und wir?«

»Achtundfünfzig.«

»Dann gewinnt niemand. Er braucht noch fünfunddreißig Stimmen und wir zweiundvierzig.«

»So einfach ist es leider nicht, fürchte ich.« Abriel seufzte. »Nach dem Verfahren, das die Kirchenväter bestimmt haben, können entweder hundert oder ein gleicher Prozentsatz der von den Anwesenden abgegebenen Stimmen entscheiden, sowohl die Wahl eines neuen Erzprälaten als auch andere Hauptpunkte.«

»Und das zu berechnen, haben wir den Stoß Papier verbraucht«, brummte Komier.

»Annias braucht also achtzig Stimmen«, sagte Talen nach kurzem Nachdenken, »aber es fehlen ihm noch fünfzehn.« Er runzelte die Stirn. »Einen Moment!«, rief er. »Eure Zahlen stimmen nicht. Ihr habt nur hundertdreiundzwanzig gerechnet, aber gesagt, dass hundertzweiunddreißig Patriarchen in Chyrellos sind.«

»Neun davon haben sich noch nicht entschieden«, erklärte ihm Abriel. »Dolmant befürchtet, dass sie nur noch auf eine größere Bestechung warten. Es wird hin und wieder über Nebenpunkte abgestimmt. In diesen Fällen ist lediglich eine einfache Mehrheit erforderlich. Manchmal stimmen die neun mit Annias, manchmal nicht. Sie wollen ihm ihre Macht zeigen. Sie wählen, wie es zu ihrem Vorteil ist.«

»Auch wenn sie jedes Mal mit Annias stimmen, macht das keinen Unterschied«, stellte Talen fest. »Egal, wie man es sieht, aus neun werden trotzdem keine fünfzehn.«

»Aber er braucht keine fünfzehn«, warf Hochmeister Darellon bedrückt ein. »Durch all die Anschläge und die vielen Kirchensoldaten auf den Straßen von Chyrellos haben sich siebzehn der Patriarchen, die gegen Annias sind, irgendwo in der Heiligen Stadt versteckt. Sie sind nicht anwesend, um wählen zu können, und das ändert den Prozentsatz.«

»Lieber Gott«, wandte Kalten sich an Ulath, »mir brummt jetzt schon der Kopf.«

»Das sieht nicht gut aus, meine Herren«, sagte Talen. »Ohne diese siebzehn sind neunundsechzig Stimmen nötig. Annias braucht also nur noch vier weitere.«

»Und sobald er genug Geld aufbringt, vier der neun Patriarchen zu bestechen, wird er der Wahlsieger«, stellte Ritter Bevier fest. »Der Junge hat recht, meine Herren. Es sieht nicht gut für uns aus.«

»Dann müssen wir die Zahlen ändern«, erklärte Sperber.

»Wie ändert man Zahlen?«, fragte Kalten. »Eine Zahl bleibt eine Zahl, daran kann man nichts ändern.«

»Man kann, wenn man hinzufügt. Wir müssen, sobald wir in Chyrellos sind, diese siebzehn Patriarchen finden, die sich versteckt halten, und sie zur Abstimmung sicher zur Basilika bringen. Dadurch braucht Annias wieder achtzig Stimmen, um zu gewinnen, und so viele kriegt er nicht.«

»Aber wir auch nicht«, gab Tynian zu bedenken. »Selbst wenn wir sie zur Basilika brächten, hätten wir doch nur achtundfünfzig Stimmen.«

»Zweiundsechzig, Ritter Tynian«, verbesserte ihn Berit respektvoll. »Die Hochmeister der vier Orden sind ebenfalls Patriarchen, und ich kann mir nicht vorstellen, dass einer von ihnen für Annias stimmen würde.«

»Das ändert die Anzahl erneut«, warf Talen ein. »Werden die siebzehn und die vier dazugerechnet, ergibt es insgesamt … hundertsechsunddreißig. Das bedeutet, dass für den Wahlsieg zweiundachtzig – eigentlich einundachtzig und ein Bruchteil – Stimmen nötig sind.«

»So viele kann keine Seite zusammenbekommen«, sagte Komier düster. »Wir können nicht gewinnen.«

»Wir brauchen die Wahl nicht zu gewinnen, um trotzdem zu erreichen, was wir wollen«, erklärte Vanion. »Wir versuchen ja nicht, irgendeinen Kandidaten durchzubringen, sondern lediglich Annias vom Thron fernzuhalten. Wir gewinnen schon, wenn Annias die erforderliche Stimmenzahl nicht bekommt.« Sperbers Freund erhob sich und schritt im Zelt hin und her. »Sobald wir Chyrellos erreichen, ersuchen wir Dolmant, Wargun eine Nachricht nach Arzium zu senden, dass in der Heiligen Stadt eine Kirchenkrise ausgebrochen ist. Damit steht Wargun unter unserem Kommando. Und wir erteilen ihm den von uns vieren unterzeichneten Befehl, seine Operationen in Arzium abzubrechen und nach Chyrellos zu eilen. Falls Otha sich in Marsch setzt, werden wir Wargun ohnehin hier brauchen.«

»Wie sollen wir genügend Stimmen für eine solche Erklärung zusammenbekommen?«, fragte Hochmeister Darellon.

»Ich habe nicht an eine Abstimmung gedacht, mein Freund.« Vanion lächelte dünn. »Dolmants Reputation wird Patriarch Bergsten überzeugen, dass die Erklärung offiziell ist, und Bergsten kann Wargun befehlen, sogleich nach Chyrellos aufzubrechen. Für das Missverständnis können wir uns später immer noch entschuldigen. Bis dahin wird Wargun jedoch bereits mit den vereinten Armeen des Westens in Chyrellos sein.«

»Ohne die elenische Armee«, warf Sperber ein. »Meine Königin sitzt in Cimmura mit nur zwei Dieben als Schutz.«

»Ich will Euch nicht beleidigen, Ritter Sperber«, sagte Darellon, »aber das ist in der momentanen Situation wahrhaftig nicht ausschlaggebend!«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, widersprach Vanion. »Annias braucht jetzt verzweifelt Geld. Er muss unbedingt Zugang zum elenischen Staatsschatz haben – nicht nur, um die restlichen neun Patriarchen zu bestechen, sondern auch, um die Stimmen zu behalten, die er bereits hat. Es brauchen nur noch ein paar abzuspringen, dann kann er den Thron vergessen. Ehlana – und ihre Staatskasse – zu schützen, ist jetzt sogar noch wichtiger als zuvor.«

»Vielleicht habt Ihr recht, Vanion«, räumte Darellon ein. »Daran hatte ich wohl nicht gedacht.«

»Also gut«, fuhr Vanion fort, »wenn Wargun mit den Streitkräften Chyrellos erreicht, verlagert sich das Kräfteverhältnis. Annias’ Macht über jene, die ihn jetzt unterstützen, ist nicht sehr groß, und ich glaube, er verdankt sie zu einem großen Teil der Einschüchterung durch seine Soldaten, die auf den Straßen allgegenwärtig sind. Sobald sich daran etwas ändert, wird ein Großteil abspringen. Wie ich es sehe, meine Herren, ist es unsere Aufgabe, Chryrellos noch vor Cluvonus’ Ableben zu erreichen, anschließend dafür zu sorgen, dass die Nachricht an Wargun sofort losgeschickt wird, und dann die Patriarchen aufzuspüren, die sich versteckt haben, damit wir sie rechtzeitig zur Wahl in die Basilika bringen können.« Er blickte Talen an. »Wie viele brauchen wir – was ist das absolute Minimum, um Annias’ Sieg zu verhindern?«

»Wenn er sich die Stimmen dieser neun beschaffen kann, wird er vierundsiebzig haben, Eminenz. Und wenn wir sechs der Patriarchen finden, die sich versteckt haben, werden es hundertfünfundzwanzig Wähler sein. Sechzig Prozent davon sind fünfundsiebzig. Er hätte also nicht genügend.«

»Sehr gut, Talen«, dankte Vanion. »Das wär’s denn, meine Herren. Wir reiten nach Chyrellos und suchen die Stadt nach sechs Patriarchen ab, die bereit sind, gegen Annias zu stimmen. Wir stellen selbst einen Kandidaten auf – irgendjemanden – und führen bis Warguns Ankunft einfach eine Abstimmung nach der anderen durch.«

»Das ist trotzdem nicht das Gleiche wie ein Sieg«, brummelte Komier.

»Aber das nächstbeste«, gab Vanion zu bedenken.

Sperber schlief in dieser Nacht sehr unruhig. Die Dunkelheit schien mit Schreien, Ächzen und Stöhnen und einem unbeschreiblichen Grauen erfüllt zu sein. Schließlich stand er auf, warf sich eine Mönchskutte über und begab sich zu Sephrenia.

Wie er fast erwartet hatte, fand er sie mit einer Teetasse in der Hand am Eingang ihres Zeltes sitzend vor. »Schlaft Ihr denn nie?«, fragte er.

»Eure Träume halten mich wach, Lieber.«

»Ihr wisst, was ich träume?«, fragte er staunend.

»Keine Einzelheiten, aber ich weiß, dass Euch etwas quält.«

»Ich habe den Schatten wieder gesehen, als ich Vanion und den anderen Hochmeistern den Bhelliom zeigte.«

»Ist es das, was Euch beunruhigt?«

»Zum Teil. Jemand hat mit der Armbrust auf mich geschossen, als Ulath, Kalten und ich aus dem Kloster kamen, in dem Arissa gefangen ist.«

»Aber das ist geschehen, bevor Ihr den Bhelliom aus dem Beutel genommen habt. Vielleicht gibt es überhaupt keinen Zusammenhang zwischen den Vorfällen.«

»Möglicherweise spart der Schatten sie auf – vielleicht kann er sie in der Zukunft eintreffen sehen. Es könnte auch sein, dass ich den Bhelliom gar nicht berühren muss, um den Schatten zu veranlassen, einen Mörder zu schicken.«

»Gehören zur elenischen Logik so viele Vermutungen?«

»Nein, und das beunruhigt mich ein bisschen – aber nicht genug, dass ich die Hypothese aufgebe. Azash schickt nun schon lange die verschiedensten Kreaturen, die mich töten sollen, kleine Mutter, und alle hatten irgendetwas Unnatürliches an sich. Dieser Schatten, den ich aus den Augenwinkeln sehe, ist zweifellos nicht natürlich, sonst hättet Ihr ihn ebenfalls sehen müssen.«

»Das könnte stimmen.«

»Dann wäre ich doch töricht, wenn ich meine Vorsicht außer Acht ließe, nur weil ich nicht beweisen kann, dass Azash den Schatten schickt, oder?«

»Wahrscheinlich.«

»Obwohl ich es nicht beweisen kann, weiß ich aber, dass es irgendeine Verbindung zwischen dem Bhelliom und diesem huschenden Schatten gibt. Welcherart sie ist, weiß ich noch nicht, und vielleicht schätze ich deshalb bestimmte Zufälle falsch ein. Doch um sicherzugehen, gehe ich lieber vom Schlimmsten aus: dass der Schatten zu Azash gehört, dass er dem Bhelliom folgt und menschliche Meuchler auf mich ansetzt.«

»Das hört sich plausibel an.«

»Ich freue mich, dass Ihr mir zustimmt.«

»Ihr seid Euch dessen doch bereits klar gewesen, Sperber. Warum seid Ihr dann zu mir gekommen?«

»Ich brauchte Euch als Zuhörerin, während ich es mir selbst noch einmal klarmachte.«

»Ich verstehe.«

»Außerdem bin ich gern in Eurer Gesellschaft.«

Sie lächelte ihn liebevoll an. »Ihr seid ein so guter Junge, Sperber. Und jetzt erzählt mir, weshalb Ihr diesen letzten Anschlag auf Euer Leben vor Vanion geheim gehalten habt .«

Er seufzte. »Ihr billigt es also nicht.«

»Stimmt.«

»Nun, ich möchte nicht, dass er mich in die Mitte der Kolonne steckt und gerüstete Ritter ihre Schilde über mich halten müssen. Ich muss sehen, was auf mich zukommt, Sephrenia. Könnte ich das nicht, würde ich aus der Haut fahren.«

»Du meine Güte«, sagte sie und seufzte.

Faran war gereizt. Anderthalb Tage fast ununterbrochenen Dahintrabens hatte seine normale Übellaunigkeit noch gesteigert. Etwa fünfzig Meilen vor Chyrellos ließen die Hochmeister die Kolonne anhalten und wiesen die Ritter an, abzusitzen und ihre Pferde eine Zeit lang im Schritt gehen zu lassen.

Faran versuchte, Sperber dreimal zu beißen, während der große Ritter aus dem Sattel kletterte. Als der kräftige Braune jedoch halb herumwirbelte und Sperber in die Hüfte trat, hielt der Ritter es für angebracht, etwas zu unternehmen. Mit Kaltens Hilfe kam er auf die Beine, schob sein Visier zurück und zog sich am Zügel hoch, bis er dem hässlichen Streitross direkt in die Augen blicken konnte. »Hör auf!«, knurrte er.

Faran funkelte ihn mit hasserfüllten Augen an.

Sperber bewegte seine Hand sehr schnell und fasste mit den eisenbehandschuhten Fingern das linke Ohr des Braunen. Grimmig begann er es zu drehen.

Faran trat ihm mit dem Vorderhuf ins Knie.

»Es liegt ganz bei dir, Faran«, erklärte ihm Sperber. »Du wirst ohne dieses Ohr jedoch ausgesprochen lächerlich aussehen.« Er drehte es noch fester, bis das Pferd unwillig schnaubte.

»Es ist immer schön, sich mit dir zu unterhalten, Faran«, sagte Sperber und gab das Ohr frei. Dann streichelte er den schweißigen Nacken. »Ich treibe dich nicht zu meinem Vergnügen so hart an. Aber wir haben es nicht mehr weit. Kann ich dir jetzt wieder trauen?«

Faran seufzte und scharrte mit einem Vorderhuf.

»Gut. Dann gehen wir ein Stück im Schritt.«

»Das ist geradezu unheimlich«, sagte Hochmeister Abriel zu Vanion. »Noch nie zuvor habe ich eine so vollkommene Verbindung zwischen Pferd und Mensch erlebt.«

»Das macht Sperber so stark«, erwiderte Vanion. »Er ist schon allein gefährlich genug, aber wenn er auf diesem Pferd sitzt, wird er zur Naturkatastrophe.«

Die Ritter führten ihre Pferde etwa eine Meile im Schritt, ehe sie wieder aufsaßen und durch den Nachmittagssonnenschein auf die Heilige Stadt zuritten.

Es war schon fast Mitternacht, als sie die breite Brücke über den Arruk überquerten und sich dem Westtor von Chyrellos näherten. Das Tor wurde von Kirchensoldaten bewacht. »Ich bedauere, meine Herren«, sagte der Hauptmann der Torwache, »aber auf Befehl der Hierokratie darf kein Bewaffneter Chyrellos während der Dunkelheit betreten.«

Hochmeister Komier langte nach seiner Streitaxt.

»Einen Moment, mein Freund«, hielt Hochmeister Abriel ihn sanft zurück. »Ich glaube, es gibt eine Möglichkeit, dieses Problem zu beheben, ohne jemandes Gefühle zu verletzen«, wandte er sich an den rot uniformierten Offizier.

»Ja, Herr Ritter?« Die Stimme des Hauptmanns klang geradezu beleidigend selbstgefällig.

»Dieser Befehl, von dem Ihr gesprochen habt, gilt er auch für Angehörige der Hierokratie?«

»Herr Ritter?«, entgegnete der Hauptmann verwirrt.

»Es ist eine ganz einfache Frage, Hauptmann. Ein Ja oder Nein genügt. Trifft dieser Befehl auch auf die Patriarchen der Kirche zu?«

Der Hauptmann wand sich. »Niemand darf einen Kirchenpatriarchen behindern, Herr Ritter.«

»›Eminenz!‹«, verbesserte Abriel ihn.

Der Hauptmann blinzelte verständnislos.

»Die korrekte Anrede für einen Patriarchen ist ›Eminenz‹, Hauptmann. Nach dem Kirchengesetz sind meine drei Gefährten und ich Patriarchen der Kirche. Lasst Eure Männer antreten, Hauptmann. Wir wollen sie inspizieren.«

Der Hauptmann zögerte.

»Ich spreche für die Kirche, Leutnant«, sagte Abriel scharf. »Wollt Ihr Euch widersetzen?«

»Äh … ich bin Hauptmann, Eminenz«, murmelte der Mann.

»Ihr wart Hauptmann, Leutnant. Möchtet Ihr wieder Sergeant sein? Wenn nicht, dann tut sogleich, was ich befehle!«

»Jawohl, Eminenz«, erwiderte der verstörte Mann. »He, ihr!«, brüllte er. »Alle! Stellt euch zur Inspektion auf!«

Die Inspektion der Wachabteilung am Tor wurde mit äußerster Strenge vorgenommen. Tadel wurden großzügig und in beißendem Tonfall verteilt. Danach ritt die Kolonne ohne weitere Behinderung in die Heilige Stadt ein. Kein Lachen wurde laut, kein Ritter verzog auch nur die Miene – bis sie außer Hörweite des Stadttores waren. Die Disziplin der Ordensritter war eben ein Wunder der zivilisierten Welt.

Trotz der späten Stunde patrouillierten große Abteilungen Kirchensoldaten durch die Straßen. Sperber kannte diese Art von Männern und wusste, dass ihre Loyalität käuflich war. In den meisten Fällen machten sie ihren Dienst nur um des Soldes willen. Aufgrund ihrer großen Zahl in Chyrellos hatten sie sich eine gewisse arrogante Unverschämtheit angewöhnt. Das Erscheinen von vierhundert Ordensrittern in Panzerrüstung auf den Straßen zur mitternächtlichen Stunde führte zur geziemenden Bescheidenheit, wie Sperber fand – zumindest unter den einfachen Soldaten. Die Offiziere brauchten etwas länger, die Situation zu erfassen.

»Kalten«, befahl Vanion, »teilt die Kolonne in Zehnertrupps auf. Durchkämmt die Stadt und verbreitet laut, dass die Ordensritter ihren Schutz jedem Patriarchen anbieten, der sich zur Wahl in die Basilika begeben möchte.«

»Jawohl, Eminenz«, gab Kalten zurück. »Ich werde die Heilige Stadt aufwecken. Bestimmt wartet jeder schon atemlos darauf, meine Nachricht zu hören.«

»Glaubt Ihr, es besteht noch Hoffnung, dass er eines Tages erwachsen wird?«, fragte Sperber kopfschüttelnd.

»Hoffentlich nicht«, entgegnete Vanion lächelnd. »Gleichgültig, wie alt wir anderen werden, können wir uns doch immer daran erfreuen, dass wir einen ewigen Jungen unter uns haben. Das ist recht tröstlich.«

Die Hochmeister mit Sperber und seinen Gefährten sowie einer Zwanzigmannabteilung unter dem Befehl von Ritter Perraine folgten der breiten Prunkstraße.

Dolmants Haus wurde von einem Zug Soldaten bewacht. Sperber erkannte ihren Offizier als einen, der dem Patriarchen von Demos treu ergeben war. »Gott sei Dank!«, rief der junge Mann erleichtert, als die Ritter vor Dolmants Tor anhielten.

»Wir waren in der Gegend und haben uns zu einem Anstandsbesuch entschlossen«, sagte Vanion und lächelte. »Seine Eminenz ist doch wohlauf, hoffe ich?«

»Er wird sich gleich viel besser fühlen, nun, da Ihr und Eure Freunde hier seid, Eminenz. Die Lage in Chyrellos ist sehr angespannt.«

»Das kann ich mir vorstellen. Ist Dolmant noch wach?«

Der Offizier nickte. »Er ist in einer Besprechung mit dem Patriarchen von Uzera. Vielleicht ist Euch Patriarch Emban bekannt, Eminenz?«

»Ein etwas beleibter Mann … leutselig?«

»Das ist er, Hochmeister Vanion. Ich melde seiner Eminenz, dass Ihr eingetroffen seid.«

Dolmant, der Patriarch von Demos, war so hager und streng wie immer, doch sein asketisches Gesicht leuchtete auf, als die Ordensritter sein Studiergemach betraten. »Willkommen, meine Herren«, begrüßte er sie. »Ihr kennt doch alle Emban?« Er deutete auf den dicken Patriarchen.

Emban war wahrhaftig mehr als nur ›beleibt‹. »Euer Studiergemach sieht allmählich wie eine Gießerei aus, Dolmant.« Er lachte und ließ den Blick über die Ritter schweifen. »So viel Stahl habe ich schon seit Jahren nicht mehr auf einem Fleck gesehen.«

»Ein beruhigender Anblick, findet Ihr nicht?«

»Ja, oh ja!«

»Wie sieht es in Cimmura aus, Vanion?«, fragte Dolmant besorgt.

»Gute Neuigkeiten. Königin Ehlana ist genesen und hat die Regierung wieder fest in der Hand«, berichtete Vanion.

»Gott sei Dank!«, rief Emban. »Ich glaube, Annias ist bankrott.«

»Dann ist es Euch also gelungen, den Bhelliom zu finden?«, wandte Dolmant sich an Sperber.

Sperber nickte. »Möchtet Ihr ihn sehen, Eminenz?«

»Lieber nicht. Ich dürfte ja nicht an seine Kräfte glauben, aber ich habe so einige Geschichten gehört. Aberglauben, zweifellos – aber wir wollen kein Risiko eingehen.«

Sperber seufzte insgeheim erleichtert. Er war gar nicht darauf erpicht, den Schatten wieder zu sehen, und erst recht nicht darauf, tagelang mit dem unguten Gefühl herumlaufen zu müssen, dass jemand mit einer Armbrust auf ihn zielte.

»Es ist erstaunlich, dass die Nachricht von der Genesung der Königin Annias noch nicht erreicht hat«, bemerkte Dolmant. »Zumindest hat er sich nichts anmerken lassen.«

»Es würde mich wundern, wenn er davon gehört hätte«, warf Komier ein. »Vanion hat die Stadt abgeriegelt, um die Cimmuraner zu Hause zu halten. Personen, die versuchen, die Stadt zu verlassen, werden höflich, aber bestimmt zurückgewiesen.«

»Ihr habt doch nicht Eure Pandioner in Cimmura gelassen, Vanion?«

»Nein, Eminenz. Wir haben von anderer Seite Hilfe bekommen. Wie geht es dem Erzprälaten?«

»Er liegt im Sterben«, antwortete Emban. »Das tut er zwar schon seit einigen Jahren, aber jetzt geht er die Sache offenbar etwas ernsthafter an.«

»Hat Otha weitere Schritte unternommen?«, erkundigte Darellon sich.

Dolmant schüttelte den Kopf. »Er lagert immer noch unmittelbar an der lamorkischen Grenze. Er stößt alle möglichen Drohungen aus und verlangt, dass ihm der mysteriöse zemochische Schatz zurückgegeben wird.«

»Er ist gar nicht so mysteriös, Dolmant«, warf Sephrenia ein. »Otha will den Bhelliom, und er weiß, dass Sperber ihn hat.«

»Dann kann es nicht ausbleiben, dass irgendwann jemand vorschlägt, Sperber soll ihm den Stein aushändigen, um eine Invasion zu verhindern«, gab Emban zu bedenken.

»Ehe wir ihn aus der Hand geben, Eminenz«, erklärte Sephrenia, »vernichten wir ihn lieber.«

»Sind von denjenigen Patriarchen, die sich verkrochen haben, inzwischen welche aus ihren Verstecken hervorgekommen?«, fragte Hochmeister Abriel.

»Nicht einer«, schnaubte Emban. »Wahrscheinlich stecken sie in den tiefsten Rattenlöchern, die sie finden konnten. Zwei von ihnen hatten übrigens tödliche Unfälle.«

»Unsere Ritter suchen die Stadt nach ihnen ab«, erklärte Hochmeister Darellon. »Selbst die ängstlichsten Hasenfüße fassen vielleicht ein bisschen Mut, wenn Ordensritter sie beschützen.«

»Darellon!«, rügte Dolmant.

»Tut mir leid«, entschuldigte Darellon sich höflichkeitshalber.

»Wird das etwas an der Berechnung ändern?«, wandte Komier sich an Talen. »Ich meine, wenn man die beiden abzieht, die gemeuchelt wurden?«

»Nein, Eminenz«, erwiderte Talen. »Wir hatten sie gar nicht einbezogen.«

Dolmant blickte die beiden leicht verwirrt an.

»Der Junge ist ein mathematisches Genie«, erklärte Komier. »Er kann im Kopf schneller rechnen als ich mit dem Stift.«

»Du überraschst mich immer wieder, Talen«, sagte Dolmant. »Könnte ich dich für eine Karriere in der Kirche interessieren?«

»Um die Spenden der Gläubigen zu zählen, Eminenz?«, fragte Talen.

»Äh … nein, das wohl nicht, Talen.«

»Hat sich etwas an den Stimmen geändert, Eminenz?«, fragte Abriel.

Dolmant schüttelte den Kopf.

»Annias hat nach wie vor die einfache Mehrheit. Er kann alles durchbringen, sofern es kein Hauptpunkt ist. Seine Speichellecker fordern eine Abstimmung über so gut wie alles, was anfällt, und deshalb sitzen wir die ganze Zeit im Ratssaal.«

»Die Zahlen werden sich ein wenig ändern, Eminenz«, kündete Komier an. »Meine Freunde und ich haben beschlossen, diesmal mitzuwählen.«

»Also das ist ungewöhnlich«, staunte Patriarch Emban. »Die Hochmeister der Ritterorden haben seit zweihundert Jahren an keiner Wahl der Hierokratie mehr teilgenommen.«

»Wir sind doch willkommen, Eminenz?«

»Was mich betrifft, auf jeden Fall, Eminenz. Annias dürfte jedoch nicht sehr begeistert darüber sein.«

»Wie bedauerlich für ihn. Wie sieht es mit unseren Zahlen aus, Talen?«

»Sie stiegen soeben von neunundsechzig Stimmen auf einundsiebzig. Das wären die sechzig Prozent, die Annias braucht, um die Wahl zu gewinnen.«

»Und eine einfache Stimmenmehrheit?«

»Hat er immer noch. Er braucht nur einundsechzig.«

»Ich glaube nicht, dass einer der neutralen Patriarchen bei einer Hauptabstimmung zu ihm überläuft, es sei denn, die Bestechungssumme ist hoch genug«, sagte Dolmant. »Die Neutralen werden sich wahrscheinlich der Stimme enthalten, dann braucht Annias …«

Er überlegte stirnrunzelnd.

»Sechsundsechzig Stimmen, Eminenz«, half Talen aus. »Eine Stimme fehlt ihm.«

»Großartiger Junge«, murmelte Dolmant. »Dann sollten wir jede Abstimmung zu einer Hauptabstimmung machen – sogar, wenn es darum geht, ob mehr Kerzen angezündet werden sollen oder nicht.«

»Wie können wir das bewerkstelligen?«, fragte Komier. »Ich bin ein bisschen eingerostet, was das Verfahren angeht.«

Dolmant lächelte leicht. »Einer erhebt sich und sagt: ›Hauptpunkt.‹«

»Wird das nicht einfach überstimmt?«

Emban gluckste. »Oh nein, mein lieber Komier. Eine Abstimmung darüber, ob eine Sache ein Hauptpunkt ist oder nicht, ist an sich bereits eine Hauptabstimmung. Ich glaube, wir haben ihn, Dolmant. Diese eine Stimme, die ihm fehlt, wird seine Thronbesteigung verhindern.«

»Außer er kommt zu Geld«, gab Dolmant zu bedenken. »Oder es stirbt noch ein Patriarch. Wie viele von uns muss er umbringen, um die Wahl zu gewinnen, Talen?«

»Alle wären am besten für ihn.« Talen grinste.

»Benimm dich!«, fuhr Berit ihn an.

»Verzeiht«, entschuldigte Talen sich, »ich hätte ›Eminenz‹ hinzufügen sollen, nehme ich an. Annias muss die Gesamtzahl der Wählenden um wenigstens zwei vermindern, um die sechzig Prozent zu erreichen, die er braucht, Eminenz.«

»Dann werden wir jedem loyalen Patriarchen Ritter als Leibwächter zuteilen müssen. Dadurch verringert sich natürlich die Zahl derer, die in der Stadt nach den fehlenden Patriarchen suchen. Es sieht allmählich so aus, als hinge es von der Kontrolle über die Straßen ab. Wir brauchen Wargun! Dringendst!«

Emban blickte ihn verwundert an.

»Das ist uns in Demos eingefallen, Eminenz«, erklärte Abriel. »Annias schüchtert die Patriarchen durch die Anwesenheit der vielen Kirchensoldaten in der Stadt ein. Wenn ein Patriarch – entweder Ihr oder Patriarch Dolmant – eine Kirchenkrise ausruft und Wargun befehlen würde, seine Operationen in Arzium abzubrechen und seine Armeen nach Chyrellos zu bringen, würde das Bild sich ändern. Die Einschüchterung käme dann von der anderen Seite.«

»Abriel!«, tadelte Dolmant schmerzlich berührt. »Wir wählen Erzprälaten nicht durch Einschüchterung!«

»Wir leben in der wirklichen Welt, Eminenz«, entgegnete Abriel. »Annias hat die Regeln für dieses Spiel aufgestellt. Deshalb sehen wir uns gezwungen, nach diesen Regeln zu spielen – außer Ihr habt bessere Würfel.«

»Es würde uns obendrein wenigstens eine Stimme mehr bringen«, fügte Talen hinzu.

»Ach?« Dolmant blickte ihn an.

»Patriarch Bergsten begleitet Warguns Armee. Wir könnten ihn wahrscheinlich veranlassen, richtig zu stimmen, oder?«

Emban grinste. »Wie wär’s, wenn wir uns zusammentun und ein Schreiben an den König von Thalesien verfassen, Dolmant?«

»Das wollte ich gerade vorschlagen, Emban. Und vielleicht sollten wir vergessen, jemandem davon zu berichten. Widersprüchliche Order von anderen Patriarchen würden Wargun nur verwirren, und er muss schon verwirrt genug sein, wie die Dinge liegen.«