Sperber war müde, aber er schlief schlecht. In seinem Kopf kreisten Zahlen. Neunundsechzig wurde zu einundsiebzig, dann achtzig, dann wieder rückwärts, und die neun und siebzehn – nein fünfzehn – hingen ominös im Hintergrund. Er wusste bald nicht mehr, was diese Zahlen bedeuteten. Sie wurden zu Nummern, die sich drohend, in Rüstung und mit Waffen in den Händen, vor ihm aufreihten. Und wie fast immer, wenn er jetzt schlief, spukte der Schatten in seinen Träumen. Er tat nichts, er beobachtete nur – und wartete.
Sperber hatte seine Schwierigkeiten mit der Politik. Zu vieles reduzierte sich in seinem Verstand auf Schlachtfeldvergleiche, und auf dem Schlachtfeld zählten überlegene Kräfte, Ausbildung und die Tapferkeit des Einzelnen. In der Politik dagegen waren die Schwächsten den Stärksten ebenbürtig. Eine zittrige Hand, die sich zur Abstimmung erhob, vermochte dasselbe wie eine Faust im Rüsthandschuh. Seine Instinkte sagten ihm, dass die Lösung dieses Problems in seiner Schwertscheide steckte, aber der gewaltsame Tod des Primas von Cimmura würde den Westen spalten, und das zu einem Zeitpunkt, da Otha marschbereit an der Ostgrenze stand.
Schließlich gab er seine Schlafversuche auf und schlüpfte leise aus dem Bett, um den schnarchenden Kalten nicht zu wecken. Er warf seine Mönchskutte über und tappte durch die nächtlichen Korridore zu Dolmants Studiergemach.
Sephrenia saß dort, mit einer Teetasse in der Hand, vor dem niederbrennenden Kaminfeuer. »Ihr macht Euch Sorgen, Lieber, nicht wahr?«, fragte sie leise.
»Ihr nicht?« Er ließ sich seufzend in einen Sessel sinken und streckte die Beine aus. »Wir sind für derlei nicht geschaffen, kleine Mutter. Keiner von uns. Ich vermag mich einfach nicht für diese Zahlenspielerei zu begeistern, und ich bin auch nicht sicher, ob Ihr versteht, was Zahlen bedeuten. Da Styriker nicht lesen, kann überhaupt jemand von Euch Zahlen begreifen, die höher als die Summe Eurer Finger und Zehen sind?«
»Wollt Ihr beleidigend werden, Sperber?«
»Nein, kleine Mutter, das könnte ich nicht – nicht zu Euch. Verzeiht, wenn ich heute Morgen missmutig bin. Ich kämpfe in einem Krieg, von dem ich nichts verstehe. Was haltet Ihr davon, wenn wir ein Gebet an Aphrael richten und sie bitten, die Einstellung einiger Patriarchen zu ändern? Das wäre klar und einfach und würde wahrscheinlich helfen, eine Menge Blutvergießen zu vermeiden.«
»Das würde Aphrael nicht tun, Sperber.«
»Ich hatte es befürchtet, dass Ihr das sagen würdet. Bleibt uns also nur die unangenehme Alternative, das Spiel mitzuspielen, nicht wahr? Es würde mir ja nicht so viel ausmachen, wenn ich die Regeln besser verstünde. Ehrlich gesagt, ich ziehe Schwerter und Meere von Blut vor.« Er blickte sie an. »Na, sagt es schon, Sephrenia.«
»Was soll ich sagen?«
»Seufzt und rollt die Augen himmelwärts und sagt: ›Elenier!‹«
Ihre Augen wurden streng. »Das war unangebracht!«
Patriarch Dolmant trat leise, mit besorgter Miene ein. »Schläft denn heute Nacht gar niemand?«, fragte er.
»Wir haben einen bedeutenden Tag vor uns, Eminenz«, erwiderte Sperber. »Könnt auch Ihr deshalb nicht schlafen?«
Dolmant schüttelte den Kopf. »Einer meiner Köche erkrankte. Ich weiß nicht, weshalb die anderen Dienstboten deshalb nach mir riefen. Ich bin doch kein Arzt.«
»Ich glaube, so etwas nennt man Vertrauen, Eminenz.« Sephrenia lächelte. »Man nimmt an, dass Ihr gute Beziehungen zum elenischen Gott habt. Wie geht es dem Armen, dem Koch, meine ich?«
»Es scheint etwas Ernstes zu sein. Ich habe nach einem Arzt geschickt. Der Mann ist zwar kein besonders guter Koch, aber ich möchte trotzdem nicht, dass er stirbt. Doch nun erzählt mir, Sperber, was in Cimmura wirklich geschehen ist.«
Sperber berichtete knapp, was sich im Thronsaal ereignet hatte, und ebenso knapp von Lycheas’ Geständnis.
»Otha?«, rief Dolmant. »Annias ist tatsächlich so weit gegangen?«
»Wir können es nicht wirklich beweisen, Eminenz. Es wäre jedoch nützlich, es in Annias’ Gegenwart zu erwähnen. Vielleicht bringt ihn das ein wenig aus der Fassung. Jedenfalls haben wir auf Ehlanas Anordnung Lycheas und Arissa in dem Kloster nahe Demos eingesperrt, und ich habe ein ganzes Bündel von Haftbefehlen für Personen dabei, die sich des Hochverrats schuldig gemacht haben. Annias’ Name steht ganz obenauf.« Er hielt inne und überlegte. »Da fällt mir etwas ein. Wir könnten die Ritter zur Basilika schicken, damit sie Annias verhaften und ihn dann in Ketten nach Cimmura bringen. Ehlana hat es ernst gemeint, als sie von Hängen und Köpfen sprach.«
»Ihr könnt Annias nicht aus der Basilika herausholen, Sperber. Es ist eine Kirche, ein Asyl Gottes!«
»Zu dumm«, brummte Sperber. »Wer ist der Anführer von Annias’ Speichelleckern in der Basilika?«
»Makova, der Patriarch von Coombe. Er leitet das Ganze mehr oder weniger seit etwa einem Jahr. Makova ist ein Esel, in jeder Beziehung bestechlich, aber im Kirchenrecht ein Fachmann. Er kennt alle Lücken im Gesetz und hat hunderterlei Schliche parat.«
»Nimmt Annias an den Sitzungen teil?«
»Meistens ja. Er hält sich gern auf dem Laufenden, was die Abstimmungen betrifft. Er verbringt seine Freizeit damit, den neutralen Patriarchen Angebote zu machen. Diese neun Männer sind sehr schlau. Sie akzeptieren nie offen. Sie antworten mit ihren Stimmen. Möchtet Ihr Euch dieses Katz-und-Maus-Spiel ansehen, kleine Mutter?«, fragte Dolmant mit leichter Ironie.
»Danke, Dolmant, ich muss leider ablehnen, denn es gibt viele Elenier, die überzeugt sind, dass die Basilika einstürzen würde, wenn ein Styriker sie beträte. Ich glaube nicht, dass es mir gefallen würde, angespuckt zu werden. Ich bleibe lieber hier, wenn Ihr nichts dagegen habt.«
»Wann beginnen die Sitzungen gewöhnlich?«, fragte Sperber den Patriarchen.
»Das ist unterschiedlich«, antwortete Dolmant. »Makova ist der Vorsitzende; das war eine Abstimmung mit einfacher Mehrheit. Er nutzt dieses Amt und beruft die Sitzungen ein, wie es ihm gefällt, und die Boten, die dazu einladen, verirren sich scheinbar immer, wenn sie Annias’ Gegnern Bescheid geben sollen. Makova begann damit, dass er versuchte, eine Hauptabstimmung durchzubringen, während wir noch im Bett lagen.«
»Was ist, wenn er mitten in der Nacht eine Sitzung einberuft, Dolmant?«, fragte Sephrenia.
»Das kann er nicht. Irgendwann im Altertum legte ein Patriarch, der nichts Besseres zu tun hatte, die Regeln für die Sitzungen der Hierokratie fest. Der Geschichte ist zu entnehmen, dass er ein langweiliger alter Windbeutel war, der sich in unwichtige Einzelheiten verbiss. Er war unter anderem auch für die Regel mit den hundert Stimmen – beziehungsweise mit den sechzig Prozent – bei Hauptpunkten verantwortlich. Wahrscheinlich aus einer Laune heraus hat er auch die Bestimmung niedergelegt, dass die Sitzungen der Hierokratie nur bei Tageslicht stattfinden dürfen. Viele seiner Regeln sind ganz und gar überflüssig, aber er redete sechs Wochen lang, und schließlich stimmten seine Brüder für die Annahme seiner Regeln, nur damit er endlich zu reden aufhörte.« Dolmant strich sich nachdenklich übers Kinn. »Wenn alles vorbei ist, schlage ich diesen Esel zur Heiligsprechung vor. Diese pedantischen und lächerlichen Regeln sind momentan vielleicht das Einzige, was Annias’ Thronbesteigung verhindert. Jedenfalls haben wir es uns angewöhnt, schon am frühen Morgen im Audienzsaal zu erscheinen, um nichts zu versäumen. Um ehrlich zu sein, ist es auch ein kleiner Racheakt. Makova ist normalerweise kein Frühaufsteher, aber seit ein paar Wochen begrüßt er notgedrungen gemeinsam mit uns die Sonne, denn wenn er nicht anwesend wäre, könnten wir einen neuen Vorsitzenden wählen und ohne ihn in der Tagesordnung fortfahren. Es könnte über alles Mögliche abgestimmt werden, was ihm nicht gefallen würde.«
»Könnte er die Abstimmungen nicht einfach für ungültig erklären lassen?«
Nun feixte Dolmant regelrecht. »Abstimmungsergebnisse aufzuheben, zählt zu den Hauptpunkten, Sephrenia, und dafür hat er nicht die notwendigen Stimmen.«
Jemand klopfte respektvoll an die Tür, und Dolmant sah persönlich nach. Ein Diener raunte ihm etwas zu.
»Der Koch ist soeben gestorben«, sagte Dolmant zu Sperber und Sephrenia. Seine Stimme klang betroffen. »Bitte wartet. Der Arzt möchte mit mir reden.«
»Merkwürdig«, murmelte Sperber.
»Es kommt tatsächlich vor, dass Menschen eines natürlichen Todes sterben, Sperber«, sagte Sephrenia.
»Nicht in meinem Beruf – zumindest nicht sehr oft.«
»Vielleicht war er alt.«
Dolmant kehrte mit sehr bleichem Gesicht zurück. »Er wurde vergiftet!«
»Wa…as?«, rief Sperber.
»Mein Koch wurde vergiftet, und der Arzt hat festgestellt, dass das Gift sich in dem Haferbrei befindet, den der Mann fürs Frühstück zubereitete. Der Haferbrei hätte für alle im Haus den Tod bedeuten können!«
»Vielleicht solltet Ihr Eure Einstellung zu Annias’ Verhaftung noch einmal überdenken, Eminenz«, sagte Sperber grimmig.
»Ihr glaubt doch nicht etwa …« Dolmants Augen weiteten sich.
»Annias ist für die Vergiftung von Aldreas und Ehlana verantwortlich, Eminenz«, erinnerte Sperber ihn. »Ich bezweifle, dass ihm der verfrühte Tod von ein paar Patriarchen und ein paar Dutzend Ordensrittern Gewissensbisse bereiten würde.«
»Der Mann ist ein Ungeheuer!« Dolmant fing zu fluchen an, und seine Verwünschungen waren in Kasernen zweifellos üblicher als in theologischen Seminaren.
»Vielleicht solltet Ihr Emban ersuchen, alle Patriarchen, die auf unserer Seite stehen, zu benachrichtigen«, riet Sephrenia Dolmant. »Offenbar ist Annias eine billigere Methode eingefallen, die Wahl zu gewinnen.«
»Ich wecke jetzt am besten die anderen auf.« Sperber erhob sich. »Ich möchte sie davon in Kenntnis setzen, und es dauert eine Zeit lang, ehe man einen Plattenpanzer angelegt hat.«
Es war noch dunkel, als sie in Begleitung von fünfzehn Rittern von jedem der vier Orden zur Basilika aufbrachen. Sechzig Ordensritter waren eine Streitmacht, der sich zweifellos nur wenige in den Weg stellen würden.
Das erste bleiche Licht des Tages erschien am Osthimmel, als sie die gewaltige Kuppelkirche erreichten, das Herz der Heiligen Stadt. Die Ankunft der Kolonne Pandioner, Cyriniker, Genidianer und Alzioner in der vergangenen Nacht war nicht unbemerkt geblieben. Jedenfalls wurde das von Fackeln beleuchtete Bronzetor zu dem riesigen Hof vor der Basilika von hundertfünfzig rot uniformierten Kirchensoldaten bewacht – unter dem Befehl desselben Hauptmanns, der auf Makovas Anordnung zu verhindern versucht hatte, dass Sperber und seine Gefährten auf ihrem Weg nach Borrata das pandionische Ordenshaus in Chyrellos verließen.
»Halt!«, befahl er in gebieterischem, ja beleidigendem Tonfall.
»Wollt Ihr versuchen, Patriarchen der Kirche den Zutritt zu verwehren, Hauptmann?«, wandte Hochmeister Abriel sich ruhig an ihn. »Obwohl Ihr wisst, dass Ihr dabei Eure Seele gefährdet?«
»Von seinem Hals ganz zu schweigen«, brummte Ulath.
»Patriarch Dolmant und Patriarch Emban dürfen selbstverständlich eintreten«, entgegnete der Hauptmann. »Kein wahrer Sohn der Kirche könnte ihnen das verweigern.«
»Und was ist mit diesen übrigen Patriarchen, Hauptmann?«, fragte ihn Dolmant.
»Ich sehe keine weiteren Patriarchen, Eminenz«, war die hämische Antwort.
»Ihr müsst Euch umsehen, Hauptmann«, riet ihm Emban. »Nach dem Kirchenrecht sind die Hochmeister der Ritterorden auch Patriarchen. Macht Platz und lasst uns ein!«
»Ich kenne kein solches Kirchengesetz.«
»Wollt Ihr mich einen Lügner nennen, Hauptmann?« Embans üblicherweise gutmütiges Gesicht wirkte nun eisern.
»Aber … gewiss nicht, Eminenz. Darf ich mich in dieser Angelegenheit an meine Vorgesetzten wenden?«
»Nein. Tretet zur Seite!«
Der Hauptmann fing zu schwitzen an. »Ich danke Eurer Eminenz, dass Ihr mich auf meinen Fehler hingewiesen habt«, stammelte er. »Es war mir nicht bekannt, dass auch die Hochmeister einen kirchlichen Rang haben. Alle Patriarchen dürfen eintreten. Alle Übrigen, fürchte ich, müssen vor dem Tor warten.«
»Er hat allen Grund, sich zu fürchten, wenn er wirklich darauf besteht«, knirschte Ulath.
»Hauptmann«, sagte Hochmeister Komier, »alle Patriarchen haben das Recht auf einen gewissen Verwaltungsstab, richtig?«
»Gewiss, mein Herr – uh, Eminenz.«
»Diese Ritter sind unser Stab. Schreiber und dergleichen. Falls Ihr ihnen den Zutritt verwehrt, erwarte ich, dass lange Reihen schwarz gewandeter Untergebener der anderen Patriarchen in spätestens fünf Minuten die Basilika verlassen!«
»Das geht nicht, Eminenz«, beharrte der Hauptmann.
»Ulath!«, donnerte Komier.
»Wenn Ihr gestattet, Eminenz«, warf Bevier rasch ein. Sperber bemerkte, dass Bevier seine Lochaberaxt locker in der Rechten hielt. »Der Hauptmann und ich kennen uns von früher. Vielleicht kann ich ihn zur Vernunft bringen.« Der junge cyrinische Ritter lenkte sein Pferd näher heran. »Obgleich unsere Bekanntschaft nicht herzlich war, Hauptmann«, sagte er, »bitte ich Euch inständig, Eure Seele nicht zu gefährden, indem Ihr Euch über unsere Heilige Mutter Kirche hinwegsetzt. Werdet Ihr nun, in Anbetracht dieses Rates, zur Seite treten, wie die Kirche es Euch befohlen hat?«
»Nein, Herr Ritter.«
Bevier seufzte bedauernd. Mit einem fast beiläufigen Hieb seiner furchterregenden Axt sandte er den Kopf des Hauptmanns in hohem Bogen durch die Luft. Bevier tat dergleichen häufiger, wie Sperber schon aufgefallen war. Sobald er sicher war, dass er sich auf theologisch solidem Boden befand, entschloss der junge Arzier sich zuweilen zu erschreckend direktem Vorgehen. Selbst jetzt wirkte sein Gesicht friedlich gelassen, während er beobachtete, wie der kopflose Hauptmann noch einige Sekunden stocksteif dastand. Als die Leiche schließlich zusammensackte, seufzte er leise.
Die Kirchensoldaten holten bestürzt Luft und schrien vor Entsetzen auf, ehe sie sich besannen, nach ihren Waffen zu greifen.
»Dann wollen wir mal«, sagte Tynian und langte nach seinem Schwert.
»Freunde«, wandte Bevier sich nun mit freundlicher, aber befehlender Stimme an die Soldaten. »Ihr habt soeben einen bedauerlichen Vorfall miterlebt. Ein Soldat der Kirche hat sich eigensinnig geweigert, einen rechtmäßigen Befehl unserer Heiligen Mutter auszuführen. Wir wollen nun Gott in seiner unendlichen Barmherzigkeit in einem gemeinsamen, inbrünstigen Gebet bitten, die schreckliche Sünde dieses Hauptmanns zu vergeben. Kniet nieder, Freunde, und betet.« Bevier schüttelte das Blut von seiner Axt, wobei es auf einige der umstehenden Soldaten spritzte.
Zuerst sanken nur ein paar Soldaten auf die Knie, dann weitere und schließlich die übrigen.
»Lieber Gott«, betete Bevier ihnen vor, »wir flehen dich an, nimm die Seele unseres treuen, soeben dahingeschiedenen Bruders auf und gewähre ihm Vergebung für seine große Sünde.« Er schaute sich um. »Betet weiter, Freunde«, wies er die knienden Soldaten an. »Betet nicht nur für euren ehemaligen Hauptmann, sondern auch für euch selbst, damit keine Sünde sich heimtückisch und listig in eure Seelen stehle, wie sie in die seine Eingang gefunden hat. Verteidigt nachdrücklich eure Lauterkeit und Demut, liebe Freunde, damit ihr nicht das gleiche Geschick wie euer Hauptmann erleidet.« Dann lenkte der cyrinische Ritter in brüniertem Stahl und makellos weißem Wappenrock und Umhang sein Pferd im Schritt durch die Reihen kniender Soldaten. Dabei verteilte er Segen mit einer Hand, während er in der anderen seine Lochaberaxt hielt.
»Ich habe ja immer gesagt, dass er ein guter Junge ist«, wandte Ulath sich an Tynian, als der Trupp dem selig lächelnden Bevier folgte.
»Das habe ich nie auch nur für einen Augenblick lang bezweifelt, mein Freund«, erwiderte Tynian.
»Hochmeister Abriel.« Patriarch Dolmant lenkte sein Pferd an den knienden Soldaten vorbei, von denen viele vor Rührung weinten. »Habt Ihr Ritter Bevier in letzter Zeit über das wahre Wesen seines Glaubens befragt? Ich mag mich täuschen, aber mir scheint, als hätte ich gewisse Abweichungen von der wahren Lehre unserer Heiligen Mutter bemerkt.«
»Sobald ich Zeit und Gelegenheit habe, werde ich ihn eingehend katechisieren, Eminenz.«
»Es eilt nicht so, Hochmeister. Ich habe nicht das Gefühl, seine Seele befände sich in unmittelbarer Gefahr. Das ist eine wahrhaftig grauenvolle Waffe, die er da führt.«
»Ja, Eminenz«, pflichtete ihm Abriel bei. »Grauenvoll.«
Die Neuigkeit über das plötzliche Ableben des uneinsichtigen Offiziers am Tor verbreitete sich in Windeseile. An der massiven Eingangstür der Basilika hielten keine Kirchensoldaten sie auf – es waren überhaupt keine zu sehen.
Die schwerbewaffneten Ritter saßen ab, stellten sich in Reihen auf und folgten ihren Hochmeistern und den beiden Patriarchen in das riesige Kirchenschiff. Lautes Rasseln und Krachen war zu hören, als der Trupp vor dem Altar kurz niederkniete. Dann marschierten sie durch einen kerzenhellen Korridor zum Verwaltungstrakt und dem Audienzsaal des Erzprälaten.
Die Männer, die vor dem Saal Posten standen, waren keine Kirchensoldaten, sondern Angehörige der Leibgarde des Erzprälaten. Ihre Loyalität galt dem Amt, und sie waren absolut unbestechlich. Aber sie hielten sich auch strikt an den Buchstaben der Kirchengesetze und waren darin wahrscheinlich besser bewandert als viele der Patriarchen im Audienzsaal. Sie erkannten den kirchlichen Rang der vier Ordensobersten sofort an. Einen Grund zu finden, weshalb das Gefolge eingelassen werden sollte, dauerte allerdings etwas länger. Schließlich war es der schlaue Patriarch Emban mit seinen beinahe enzyklopädischen Kenntnissen von Kirchenrecht und Kirchengebräuchen, der darauf hinwies, dass jeder Kirchenmann mit der erforderlichen Legitimation und Einladung durch einen Patriarchen zugelassen werden musste. Nachdem die Posten zugestimmt hatten, wies Emban darauf hin, dass Ordensritter als Angehörige von eigentlich klösterlichen Orden Kirchenmänner waren. Die Leibgardisten überlegten und erkannten Embans Beweisführung an. Gemessen öffneten sie die breite Flügeltür. Sperber bemerkte manches kaum unterdrückte Lächeln, als er und seine Freunde hintereinander eintraten. Die Leibgardisten waren absolut unbestechlich und neutral, was jedoch nicht ausschloss, dass sie eine eigene, persönliche Meinung hatten.
Der Audienzsaal stand dem Thronsaal eines Königs an Größe nicht nach. Der Erzprälatenthron – kunstvoll aus massivem Gold geschmiedet – stand auf einem Podest vor einem Hintergrund purpurner Vorhänge am Ende des Saales, und zu beiden Seiten reihten sich, tribünenartig ansteigend, hochlehnige Sitzbänke. Die untersten vier Reihen waren rot gepolstert, ein sichtbarer Hinweis, dass sie für Patriarchen reserviert waren. Über diesen Sitzen und mit Samtschnüren von tiefstem Purpur von ihnen getrennt, erstreckten sich die hölzernen Tribünenplätze für Zuschauer. Hinter einem Stehpult vor dem Thron hielt der Patriarch Makova von Coombe in Arzium soeben eine bombastische Rede voll religiösen Schwulstes. Makova, dessen Gesicht eingefallen und pockennarbig war, drehte sich verärgert um, als die Türflügel aufschwangen und die Ritter den Patriarchen von Demos und Uzera in den Saal folgten.
»Was hat das zu bedeuten?«, rief Makova empört.
»Nichts Besonderes, Makova«, antwortete Emban. »Dolmant und ich geleiten lediglich einige unserer Mitpatriarchen zu ihren Sitzen, da sie an unseren Beratungen teilnehmen wollen.«
»Ich sehe keine Patriarchen«, schnaubte Makova.
»Aber, aber, Makova! Alle Welt weiß, dass die Hochmeister der Kriegerorden uns ranggleich und deshalb Angehörige der Hierokratie sind.«
Makova blickte rasch zu einem schmächtigen Mönch, der seitlich vom Pult an einem Tisch saß, auf dem sich dicke Bücher und alte Schriftrollen häuften. »Würden die Anwesenden die Güte haben, sich die Worte des kirchlichen Rechtsberaters anzuhören?«, fragte er.
Zustimmendes Gemurmel wurde laut. Die Bestürzung in den Gesichtern einiger Patriarchen verriet, dass sie die Antwort bereits kannten.
Der schmächtige Mönch blätterte in mehreren umfangreichen Bänden nach, dann erhob er sich und erklärte, nachdem er sich geräuspert hatte: »Seine Eminenz, der Patriarch von Uzera, hat das Gesetz richtig zitiert. Die Hochmeister der Ritterorden gehören der Hierokratie an. Die Namen der gegenwärtigen Inhaber dieser Ämter sind im Ratsverzeichnis eingetragen. Die Hochmeister haben in den vergangenen zwei Jahrhunderten keinen Gebrauch von ihrem Recht gemacht, an Sitzungen teilzunehmen, was sie jedoch keineswegs ausschließt.«
»Eine Amtsgewalt, die lange nicht ausgeübt wurde, ist erloschen«, schnaubte Makova.
»Ich fürchte, das stimmt nicht ganz, Eminenz«, bedauerte der Mönch. »Es gibt viele Präzedenzien für wiederaufgenommene Teilnahme in der Geschichte. Beispielsweise weigerten sich die Patriarchen des Königreichs Arzium infolge eines Disputs über angemessene Amtsroben achthundert Jahre lang, zu den Sitzungen zu erscheinen. Und …«
»Schon gut. Schon gut«, wehrte Makova ergrimmt ab. »Aber diese schwer gerüsteten Assassinen haben kein Recht, sich hier aufzuhalten!« Er funkelte die Ordensritter an.
»Ihr täuscht Euch auch in diesem Punkt, Makova«, entgegnete Emban lächelnd. »Die Ordensritter sind Angehörige religiöser Orden, und ihre Eide sind nicht weniger bindend und rechtskräftig als unsere. Sie gelten demnach als Kirchenmänner und dürfen als Zuhörer an Sitzungen teilnehmen – vorausgesetzt, sie wurden von einem anwesenden Patriarchen eingeladen.« Emban drehte sich um. »Meine Herren Ritter, es wäre mir eine Ehre, wenn Ihr meine persönliche Einladung annehmt.«
Makova blickte rasch zu dem Rechtsgelehrten, und der schmächtige Mönch bestätigte die Richtigkeit mit einem Nicken.
»Worauf es hinausläuft, Makova«, sagte Emban mit salbungsvoller Stimme, »ist die Tatsache, dass die Ordensritter das gleiche Recht haben, hier anwesend zu sein, wie die Schlange Annias, die in unverdientem Prunk auf der Nordtribüne sitzt – und bestürzt auf der Unterlippe kaut, wie ich bemerke.«
»Ihr geht zu weit, Emban!«, rief Annias.
»Das glaube ich nicht, alter Junge. Wollen wir über irgendetwas abstimmen, um festzustellen, auf welch schwankenden Beinen Eure Unterstützung steht?« Emban schaute sich um. »Aber wir möchten die Sitzung nicht länger als unbedingt nötig unterbrechen. Ich bitte Euch, meine Mitpatriarchen und geschätzten Gäste, lasst uns unsere Plätze aufsuchen, damit die Hierokratie ihre hohlen Beratungen wieder aufnehmen kann.«
»Hohl?« Makova keuchte auf.
»Hohl und eitel, alter Junger. Ehe Cluvonus nicht dahingeschieden ist, ist nichts, was wir beschließen, von irgendeiner Bedeutung. Wir vertreiben uns lediglich die Zeit – und verdienen uns unsere Diäten.«
»Das ist ein sehr respektloser kleiner Mann«, flüsterte Tynian Ulath zu.
»Aber gut.« Der hünenhafte Genidianer grinste.
Sperber wusste genau, was er jetzt tun würde. »Du«, sagte er leise zu Talen, der wahrscheinlich versehentlich mit eingelassen worden war, »begleitest mich.«
»Wohin gehen wir?«
Sperber lachte freudlos. »Einen alten Bekannten ärgern.« Er führte den Jungen die Treppe zu einer oberen Tribünenreihe hinauf, wo der ausgemergelte Primas von Cimmura, umgeben von mehreren seiner schwarz gewandeten Speichellecker, hinter einem Schreibpult saß. Sperber und Talen begaben sich zu Sitzen auf der Bank unmittelbar hinter Annias. Sperber sah, dass Ulath, Berit und Tynian ihnen folgten, und winkte ihnen warnend ab. Zur gleichen Zeit geleiteten Dolmant und Emban die Hochmeister zu Plätzen in den unteren gepolsterten Reihen.
Sperber wusste, dass Annias manchmal ungewollt mit einer unbedachten Bemerkung hinausplatzte, wenn er überrascht wurde, und er wollte herausfinden, ob sein Feind auf irgendeine Weise etwas mit der versuchten Massenvergiftung in Dolmants Haus zu tun hatte. »Kann das wirklich der Primas von Cimmura sein?«, rief er in vorgetäuschtem Erstaunen. »Was, in aller Welt, macht Ihr so fern von zu Hause, Annias?«
Annias drehte sich um und funkelte ihn an. »Was führt Ihr im Schilde, Sperber?«, fragte er heftig.
»Zuschauen, weiter nichts«, antwortete der Pandioner. Er nahm seinen Helm ab und legte seine Panzerhandschuhe hinein. Dann schnallte er seinen Schild und den Schwertgurt ab und stützte sie an die Rückenlehne von Annias’ Platz. »Das Zeug ist Euch doch nicht im Weg, Nachbar?«, fragte er freundlich. »Es ist nämlich etwas schwierig, sich zu setzen, wenn man so mit seinem Handwerkzeug bebürdet ist, wisst Ihr.« Er nahm auf der Bank Platz. »Wie ist es Euch ergangen, Annias? Ich habe Euch schon seit Monaten nicht mehr gesehen.« Er machte eine Pause. »Ihr seht ein bisschen abgezehrt und blass aus, alter Junge. Frische Luft und körperliche Arbeit würden Euch guttun.«
»Seid still, Sperber«, fauchte Annias. »Ich versuche zuzuhören.«
»Oh, natürlich. Wir können uns später noch ausgiebig unterhalten – unsere Erlebnisse austauschen und derlei mehr.« An Annias’ Reaktion war nichts außergewöhnlich, und Sperber war sich nicht mehr ganz so sicher, dass der Mann die Hand im Spiel gehabt hatte.
»Meine Brüder, darf ich um Eure Aufmerksamkeit bitten«, rief Dolmant. »Es hat sich einiges ereignet, was ich der Hierokratie zu Gehör bringen möchte. Obgleich unsere obersten Pflichten ewig sind, haben wir auch Aufgaben auf dieser Welt und müssen uns auf dem Laufenden halten.«
Makova blickte fragend zu Annias hinauf. Der Primas griff nach einem Gänsekiel und einem Stück Papier. Sperber stützte die Arme auf die Rückenlehne und blickte seinem Feind über die Schulter. »Lasst ihn reden«, kritzelte Annias.
»Mühsam, nicht wahr, Annias?«, sagte Sperber freundlich. »Es wäre doch viel praktischer, wenn Ihr selbst eine Stimme hättet, nicht wahr?«
»Ich sagte Euch, Ihr sollt den Mund halten, Sperber!«, knirschte der Primas und reichte einem jungen Mönch den Zettel, damit er ihn Makova bringe.
»Sind wir heute aber gereizt«, bemerkte Sperber. »Habt Ihr vergangene Nacht schlecht geschlafen, Annias?«
Annias drehte sich um und funkelte ihn an. »Wer ist das?«, fragte er scharf. Er deutete auf Talen.
»Mein Page. Das ist eine der Bürden meines Ritterranges. Er muss sozusagen einspringen, wenn mein Knappe anderweitig beschäftigt ist.«
Makova hatte inzwischen einen raschen Blick auf den Zettel geworfen. »Die Worte des weisen Primas von Demos sind uns immer willkommen«, erklärte er von oben herab. »Aber bitte fasst Euch kurz. Wir haben über wichtige Punkte zu entscheiden.«
Er gab das Pult frei.
»Selbstverständlich, Makova«, erwiderte Dolmant und trat hinter das Rednerpult. »Nun denn, in aller Kürze«, begann er, »infolge der Genesung von Königin Ehlana hat sich die politische Lage in Elenien grundlegend geändert und …«
Überraschungsrufe erklangen, gefolgt von einem Stimmengewirr. Sperber, der sich immer noch auf die Rückenlehne von Annias’ Platz stützte, freute sich, als er sah, wie der Primas kreidebleich wurde und hochruckte, als wolle er aufspringen. »Unmöglich!«, krächzte er.
»Erstaunlich, nicht wahr, Annias? Und so völlig unerwartet. Ich bin sicher, Ihr freut Euch über die allerbesten Wünsche, die mich die Königin Euch zu übermitteln bat.«
»Erklärt das, Dolmant!« Makovas Stimme überschlug sich fast.
»Ich wollte mich nur kurzfassen – wie Ihr mich ersucht habt, Makova. Vor einer knappen Woche genas Königin Ehlana von ihrer rätselhaften Krankheit. Nach ihrer Wiederherstellung kamen verschiedene Tatsachen ans Licht, und nun befindet sich der Prinzregent – und seine Mutter, wie ich hörte – unter Anklage wegen Hochverrats in Gewahrsam.«
Annias sank halb ohnmächtig auf seinem Sitz zusammen.
»Der verehrte und ehrenwerte Graf von Lenda hat den Vorsitz des Königlichen Rates übernommen, und Haftbefehle für diverse Mitverschwörer in dem hinterhältigen Komplott gegen die Königin wurden mit seinem Siegel ausgestellt. Der Streiter der Königin ist unterwegs, die Hochverräter zu verhaften, und er wird sie zweifellos allesamt vor Gericht bringen – vor das königliche oder das göttliche.«
»Baron Harparin müsste als Ranghöchster den Vorsitz des Königlich Elenischen Rates übernehmen!«, protestierte Makova.
»Baron Harparin steht gegenwärtig vor dem Allerhöchsten Gericht, Makova«, sagte Dolmant hart. »Sein Richter ist Gott. Ich fürchte, für seinen Freispruch besteht wenig Hoffnung – möge Gott ihm gnädig sein.«
»Was ist ihm zugestoßen?«, fragte Makova bestürzt.
»Ich hörte, dass er während der Regierungsumgestaltung versehentlich enthauptet wurde. Bedauerlich, aber so etwas passiert hin und wieder.«
»Harparin?« Annias keuchte entsetzt.
»Er beging den Fehler, Hochmeister Vanion zu beleidigen«, murmelte Sperber ihm ins Ohr, »und Ihr wisst ja, wie reizbar Vanion sein kann. Im Nachhinein hat er es schrecklich bedauert, aber inzwischen lag Harparin an zwei verschiedenen Stellen. Der schöne Teppich der Ratskammer ist nicht mehr zu gebrauchen – das viele Blut –, wie Ihr Euch denken könnt.«
»Hinter wem seid Ihr noch her, Sperber?«, fragte Annias.
»Ich habe die Liste jetzt nicht bei mir, Annias, aber sie umfasst sehr viele Namen Höhergestellter – Namen, die Ihr zweifellos erkennen würdet.«
An der Tür rührte sich etwas; dann kamen ziemlich hastig zwei verängstigt wirkende Patriarchen in den Saal und huschten zu Plätzen auf den rot gepolsterten Bänken. Kalten war, ehe er sich wieder zurückzog, flüchtig grinsend an der Tür zu sehen.
»Nun?«, flüsterte Sperber Talen zu.
»Die zwei Herren bringen die Summe auf hundertneunzehn«, wisperte Talen. »Wir haben jetzt fünfundvierzig, Annias immer noch fünfundsechzig. Nun braucht er zweiundsiebzig statt einundsiebzig. Wir rücken näher, Sperber.«
Der Schreiber des Primas von Cimmura brauchte mit seiner Berechnung etwas länger. Annias kritzelte ein einzelnes Wort auf einen Zettel. Sperber, der über seine Schulter blickte, las: »Abstimmen.«
Der Punkt, über den Makova eine Abstimmung verlangte, war vollkommen lächerlich. Alle wussten das. Die einzige Frage, welche die Abstimmung beantworten sollte, war die, für welche Seite die neun neutralen, nahe der Tür sitzenden und nun ziemlich verängstigt wirkenden Patriarchen sich entscheiden würden.
Makovas Stimme zitterte, als er schließlich das Abstimmungsergebnis verkündete. Die neun hatten allesamt gegen den Primas von Cimmura gestimmt.
Die Flügeltür wurde aufs Neue geöffnet, und drei Mönche in schwarzen Kutten traten ein. Sie schoben ihre Kapuzen zurück und begaben sich feierlich gemessenen Schrittes zum Podest. Als sie es erreichten, zog einer ein gefaltetes schwarzes Tuch unter seiner Kutte hervor, und die drei breiteten es ernst über den Thron, womit sie kundtaten, dass der Erzprälat Cluvonus dahingeschieden war.