»Wie lange wird die Stadt offiziell in Trauer sein?«, fragte Tynian Dolmant an diesem Nachmittag, als sich alle wieder im Studiergemach des Patriarchen zusammengefunden hatten.
»Eine Woche«, antwortete Dolmant. »Dann findet die Beerdigung statt.«
»Und während dieser Zeit tut sich gar nichts?«, erkundigte sich der Alzioner im blauen Umhang. »Keine Sitzungen der Hierokratie oder dergleichen?«
Dolmant schüttelte den Kopf. »Nein. Wir sollen diese Woche mit Beten und innerer Einkehr verbringen.«
»Es ist eine Zeit der Besinnung«, erklärte nun Vanion. »Und Wargun dürfte es schaffen, in der Zwischenzeit hierherzugelangen.« Er runzelte die Stirn. »Wir haben trotzdem ein Problem. Annias hat kein Geld mehr, und das bedeutet, dass seine Stimmenmehrheit immer stärker ins Wanken gerät und seine Verzweiflung wächst. Und Verzweifelte neigen zu unüberlegten Handlungen.«
»Das stimmt«, pflichtete Komier ihm bei. »Ich vermute, dass Annias sich der Straße zuwenden wird. Er wird seine Stimmen durch Einschüchterung halten und die Gesamtstimmenzahl verringern, indem er jene Patriarchen ermorden lässt, die auf unserer Seite stehen, bis er deren Zahl so weit verringert hat, dass ihm die Mehrheit sicher ist. Ich glaube, es ist an der Zeit, uns zu verschanzen, meine Herren. Sehen wir zu, dass wir unsere Freunde hinter feste Mauern schaffen, wo wir sie beschützen können.«
»Ich kann dem nur zustimmen«, sagte Abriel. »Unsere derzeitige Lage ist prekär.«
»Welches Ordenshaus liegt der Basilika am nächsten?«, fragte Patriarch Emban. »Unsere Freunde werden zu den Sitzungen und wieder zurück durch die Straßen laufen müssen. Wir sollten sie so wenig Gefahren wie möglich aussetzen.«
»Unseres ist am nächsten«, erwiderte Vanion. »Und es hat seinen eigenen Brunnen. Nach allem, was heute Morgen geschehen ist, möchte ich wahrhaftig nicht, dass Annias irgendwie an unser Frischwasser herankommt.«
»Vorräte?«, erkundigte Darellon sich.
»Wir haben genug, einer sechsmonatigen Belagerung standzuhalten«, versicherte ihm Vanion. »Leider ist es nur Soldatenproviant, fürchte ich, Eminenz«, wandte er sich an den wohlbeleibten Emban.
Emban seufzte. »Macht nichts. Ich wollte sowieso ein wenig abnehmen.«
»Es ist ein guter Plan«, meinte Hochmeister Abriel, »aber er hat einen Nachteil. Wenn wir uns alle in einem Ordenshaus aufhalten, können die Kirchensoldaten uns umzingeln. Dann sitzen wir fest und haben keine Möglichkeit, zur Basilika zu gelangen.«
»Dann kämpfen wir uns eben den Weg frei!«, brummte Komier und setzte gereizt seinen Helm mit den Ogerhörnern auf.
Abriel schüttelte den Kopf. »Bei Kämpfen geht es nicht ohne Verluste ab. Wir können es uns jedoch nicht leisten, auch nur einen einzigen Patriarchen zu verlieren.«
»Wir können also gar nicht gewinnen«, sagte Tynian.
»Das würde ich nicht sagen«, widersprach Kalten.
»Wisst Ihr denn einen Ausweg?«
»Ich denke schon.« Kalten blickte Dolmant an. »Dazu brauche ich Euer Einverständnis, Eminenz.«
»Ich höre. Wie sieht Euer Plan aus?«
»Wenn Annias zu roher Gewalt greift, bedeutet dies das Ende der bürgerlichen Ordnung, richtig?«
»Mehr oder weniger, ja.«
»Wenn er sich nicht an die Gesetze hält, warum sollten wir es dann? Falls wir die Zahl der Kirchensoldaten um das Ordenshaus der Pandioner verringern wollen, brauchen wir sie nur mit etwas Wichtigem abzulenken.«
»Die Stadt wieder in Brand setzen?«, schlug Talen vor.
»Das wäre vielleicht ein bisschen zu drastisch«, wehrte Kalten ab. »Wir sollten diese Maßnahme jedoch für den Notfall vormerken. Momentan aber sind die Stimmen, die Annias sicher hat, das Wichtigste für ihn. Wenn wir sie eine nach der anderen beseitigen, wird er doch so gut wie alles tun, um die zu beschützen, die er noch hat, oder nicht?«
»Ich werde Euch auf keinen Fall erlauben, Patriarchen umzubringen, Kalten!«, rief Dolmant entsetzt.
»Wir wollen keinen von ihnen töten, Eminenz. Es genügt, wenn wir ein paar quasi in Gewahrsam nehmen. Annias ist leidlich intelligent, es dürfte demnach nicht zu lange dauern, bis er dahinterkommt.«
»Das geht aber nicht ohne irgendeine Anklage, Ritter Kalten«, gab Abriel zu bedenken. »Man kann Patriarchen der Kirche nicht grundlos verhaften, unter welchen Umständen auch immer.«
»Oh, da gibt es Anklagepunkte, Hochmeister Abriel – alle möglichen sogar – aber ›Verbrechen gegen die Elenische Krone‹ hört sich doch am besten an, meint Ihr nicht?«
»Es ist nicht auszuhalten, wenn er den klugen Mann zu markieren versucht«, murmelte Sperber Tynian zu.
»Aber davon wirst du begeistert sein, Sperber«, versicherte Kalten ihm. Mit einer Geste schier unerträglicher Selbstzufriedenheit warf er seinen schwarzen Umhang zurück. »Wie viele von diesen Haftbefehlen, die Graf Lenda in Cimmura für dich unterschrieben hat, hast du noch in der Tasche.«
»Acht oder neun? Wieso?«
»Sind irgendwelche Personen darunter, ohne deren Gesellschaft du es in den nächsten Wochen nicht aushalten würdest?«
»Ich könnte sehr gut ohne einen einzigen von ihnen auskommen.« Sperber glaubte zu wissen, worauf sein Freund hinauswollte.
»Dann müssen wir lediglich ein paar Namen austauschen«, sagte Kalten. »Es sind amtliche Dokumente, also wird es auch legal aussehen . Nachdem wir uns vier oder fünf dieser gekauften Patriarchen geschnappt und sie zum Ordenshaus der Alzioner gebracht haben – das zufällig am anderen Ende der Stadt liegt –, wird Annias da nicht alles in seiner Macht Stehende tun, sie zurückzubekommen? Ich könnte mir vorstellen, dass sich zu dem Zeitpunkt die Zahl der Kirchensoldaten um das pandionische Ordenshaus drastisch verringern wird.«
»Erstaunlich!«, sagte Ulath. »Kalten hat tatsächlich einen durchführbaren Plan.«
Vanion seufzte. »Das Einzige, was ich bedenklich finde, ist der Austausch der Namen. Man kann nicht einfach einen Namen durchstreichen und einen anderen darüberschreiben – nicht auf einem amtlichen Dokument.«
»Ich habe nichts von durchstreichen gesagt, Hochmeister Vanion«, entgegnete Kalten bescheiden. »Einmal, als wir noch Ritteranwärter waren, habt Ihr Sperber und mir erlaubt, für ein paar Tage nach Hause zu reisen. Ihr habt ein paar Zeilen geschrieben, damit wir ungehindert durch das Tor durften. Wir haben dieses Papier zufällig aufgehoben. Die Schreiber im Skriptorium besitzen ein Mittel, das Tinte völlig löscht. Sie benutzen es zur Ausbesserung, wenn sie Schreibfehler machen. Das Datum auf Eurem Passierschein hat sich auf geheimnisvolle Weise geändert. Man könnte fast sagen, auf wundersame Weise, meint Ihr nicht?« Er zuckte mit den Schultern. »Aber ich war wohl immer schon Gottes besonderer Liebling.«
»Wäre das machbar?«, fragte Komier Sperber.
»Als wir Novizen waren, gab es da keine Schwierigkeiten«, versicherte ihm Sperber.
»Ihr habt diese beiden tatsächlich zu Rittern geschlagen, Vanion?«, fragte Abriel.
»Es waren gerade keine besseren da.«
Das Grinsen im Studiergemach war ansteckend.
»Das ist verwerflich, Kalten«, sagte Dolmant. »Ich müsste es strengstens verbieten – wenn ich davon ausginge, dass Ihr es ernst meint. Es war aber nur eine Überlegung, nicht wahr, mein Sohn?«
»Selbstverständlich, Eminenz.«
»Das hatte ich auch nicht anders erwartet.« Dolmant lächelte freundlich – dann zwinkerte er.
Sephrenia schüttelte den Kopf. »Meine Güte, gibt es denn nicht wenigstens einen ehrlichen Elenier auf der Welt? Also auch Ihr, Dolmant?«
»Ich habe absolut nichts gutgeheißen, kleine Mutter«, protestierte er mit übertriebener Unschuldsmiene.
»Oh, natürlich, Eminenz. Es war nur ein Gedankenspiel, nicht wahr? Keiner von uns würde etwas so Verwerfliches je ernsthaft in Erwägung ziehen.«
»Ihr nehmt mir die Worte aus dem Mund«, bestätigte Dolmant.
»Als pandionischer Ritteranwärter wart Ihr ein viel netterer Junge, Dolmant«, rügte sie.
Alle starrten den Patriarchen von Demos wortlos an.
»Oh je.« Sephrenia zwinkerte, und ein Lächeln huschte um ihre Mundwinkel. »Das hätte ich wohl nicht sagen sollen, oder, Dolmant?«
»War das wirklich nötig, kleine Mutter?«, entgegnete er verlegen.
»Ja, Lieber. Ihr habt angefangen, Euch ein bisschen zu viel auf Eure Klugheit einzubilden. Als Eure Lehrerin – und Freundin – ist es meine Pflicht, das zu verhindern, wann immer möglich.«
Dolmant tippte mit einem Finger auf den Tisch. »Ich kann mich doch darauf verlassen, dass das unter uns bleibt, meine Herren?«
»Nicht einmal wilde Pferde könnten es mir entlocken, Dolmant.« Emban grinste. »Soweit es mich betrifft, habe ich nie auch nur davon gehört – zumindest, bis ich Euch das nächste Mal um einen Gefallen bitten muss.«
»Wart Ihr gut, Eminenz?«, fragte Kalten respektvoll. »Als Pandioner, meine ich?«
»Er war der Beste, Kalten«, antwortete Sephrenia an Dolmants Stelle stolz. »Er konnte es sogar mit Sperbers Vater aufnehmen. Es hat uns alle sehr betrübt, als die Kirche ihm andere Pflichten zuwies. Wir verloren einen sehr guten Pandioner, als er den geistlichen Weg beschritt.«
Dolmant ließ mit immer noch argwöhnischer Miene den Blick über die Gesichter seiner Freunde wandern, dann seufzte er. »Nie hätte ich gedacht, dass Ihr mich verraten würdet, Sephrenia.«
»Es ist doch nichts, wessen Ihr Euch schämen müsst, Eminenz«, sagte Vanion.
»Es könnte sich als politisch ungelegen erweisen«, meinte Dolmant. »Zumindest habt Ihr geschwiegen, Bruder.«
»Macht Euch keine Sorgen, Dolmant«, warf Emban aufmunternd ein. »Ich werde Eure Freunde hier im Auge behalten. Sobald ich bemerke, dass einer sich schwertut, seine Zunge im Zaum zu halten, werde ich ihn in jenes Kloster in Zembar schicken, in dem die Brüder ein Schweigegelübde ablegen müssen.«
»Aber jetzt sollten wir beginnen, meine Herren«, meinte Vanion. »Wir müssen einige freundliche Patriarchen festnehmen. Kalten, Ihr fangt an, die Schrift zu üben. Die Namen, die Ihr anstelle der gelöschten auf den Haftbefehlen einfügt, müssen Graf Lendas Handschrift tragen.« Er hielt inne und blickte seinen blonden Untergebenen an. »Es kann nicht schaden, wenn Ihr Sperber mitnehmt.«
»Das schaffe ich schon allein.«
Vanion schüttelte den Kopf. »Nein, Kalten«, widersprach er. »Das glaube ich nicht. Ich kenne Eure Rechtschreibversuche von früher.«
»Schlimm?«, fragte Darellon.
»Grauenvoll, mein Freund. Einmal schrieb er ein Wort von sechs Buchstaben und hat nicht einen einzigen richtig geschafft.«
»Manche Wörter sind schwierig zu schreiben, Vanion.«
»Auch der eigene Name? «
»Aber das könnt Ihr nicht machen!«, protestierte der Patriarch von Cardos schrill, als Sperber und Kalten ihn ein paar Tage später aus seinem Haus holten. »Ihr könnt einen Patriarchen der Kirche nicht verhaften, solange die Hierokratie tagt, selbst wenn er etwas Schwerwiegendes getan hätte.«
»Aber die Hierokratie tagt jetzt nicht, Eminenz«, erinnerte Sperber ihn. »Nicht während der offiziellen Trauerwoche.«
»Trotzdem kann ich nicht vor ein Zivilgericht gestellt werden. Ich verlange, dass Ihr diese unbegründete Anklage vor einem Kirchengericht erhebt!«
»Schafft ihn hinaus«, wies Sperber den schwarz gepanzerten Ritter Perraine ohne ein weiteres Wort an.
Der Patriarch von Cardos wurde aus dem Zimmer gezerrt.
»Was geht dir durch den Kopf?«, fragte Kalten.
»Zweierlei. Unseren Gefangenen schienen die Anklagepunkte nicht sehr zu überraschen, nicht wahr?«
»Jetzt, da du es erwähnst – nein.«
»Ich habe das Gefühl, dass Lenda ein paar Namen übersah, als er die Liste zusammenstellte.«
»Das ist möglich. Und das zweite?«
»Wir senden Annias eine Botschaft. Er weiß, dass wir ihm nichts anhaben können, solange er sich in der Basilika aufhält. Also halten wir ihn dort fest und schränken seine Bewegungsfreiheit ein – das wird ihn zumindest gewaltig ärgern. Wir können ihm die Sache mit dem vergifteten Koch nicht so einfach durchgehen lassen.«
»Und wie stellst du dir das vor?«
»Pass auf – und mach einfach mit.«
»Mache ich das nicht immer?«
Sie traten hinaus auf den Hof des prunkvollen Hauses des Patriarchen, das – davon war Sperber überzeugt – mit dem Geld elenischer Steuerzahler erbaut worden war.
»Meine Kameraden und ich haben Euer Ersuchen um eine geistliche Anhörung in Erwägung gezogen, Eminenz«, wandte der große Pandioner sich an den Verhafteten. Er begann durch sein Bündel Haftbefehle zu blättern.
»Dann werdet Ihr mich in die Basilika zu einer Anhörung bringen?«, fragte der Patriarch.
»Hm?«, murmelte Sperber scheinbar abwesend und las weiter.
»Ich fragte, dann werdet Ihr mich zur Basilika geleiten und Eure absurden Anschuldigungen dort vorbringen?«
»Nein, das nicht, Eminenz. Das wäre zurzeit zu umständlich.« Sperber zog den Haftbefehl für den Primas von Cimmura aus dem Bündel und zeigte ihn Kalten.
»Ja, das ist er«, bestätigte Kalten. »Das ist der Kerl, den wir festnehmen müssen.«
Sperber rollte den Haftbefehl zusammen und tupfte damit auf seine Wange. »Ich sage Euch, was wir tun werden, Eminenz. Wir bringen Euch ins alzionische Ordenshaus und inhaftieren Euch dort. Diese Anklage kommt aus dem Elenischen Reich, und jegliches kirchliche Verfahren muss vom Oberhaupt der Kirche jenes Reiches geleitet werden. Da Primas Annias während der Geschäftsunfähigkeit des Patriarchen von Cimmura stellvertretend die Amtsgeschäfte übernommen hat, macht ihn das zum zuständigen Leiter dieser Anhörung. Seltsam, wie sich alles ergibt, nicht wahr? Wir sind gern bereit, Euch ihm zu übergeben. Er braucht lediglich die Basilika zu verlassen, sich zum alzionischen Ordenshaus zu begeben und uns zu befehlen, Euch ihm auszuhändigen.« Er blickte auf einen rot gewandeten Offizier, der von dem düster dreinblickenden Ritter Perraine bewacht wurde.
»Der Hauptmann Eurer Wache hier wird einen ausgezeichneten Boten abgeben. Sprecht mit ihm und erklärt ihm die Situation. Dann schicken wir ihn zur Basilika, um Annias Bescheid zu geben. Weist ihn an, den guten Primas zu bitten, uns zu besuchen. Es wird uns eine große Freude sein, ihm auf neutralem Boden zu begegnen, nicht wahr, Kalten?«
»Oh, durchaus!«, erwiderte Kalten.
Der Patriarch von Cardos bedachte sie mit einem misstrauischen Blick, dann sprach er rasch zum Hauptmann seiner Wachabteilung. Immer wieder sah er dabei verstohlen auf den zusammengerollten Haftbefehl in Sperbers Hand.
»Glaubst du, er hat es kapiert?«, murmelte Kalten.
»Hoffentlich! Ich habe alles getan, außer es ihm ins Gesicht zu brüllen.«
Der Patriarch von Cardos kehrte mit vor Grimm erstarrtem Antlitz zurück.
»Oh, noch etwas, Hauptmann«, hielt Sperber den Kirchensoldaten zurück, der gerade losmarschieren wollte. »Hättet Ihr die Güte, dem Primas von Cimmura etwas von uns auszurichten? Sagt ihm nur, Ritter Sperber vom pandionischen Orden schlägt ihm vor, aus der Basilika herauszukommen und sein Spiel auf der Straße zu spielen – wo uns gewisse kleine Beschränkungen nicht den Spaß verderben können.«
Kurik traf an diesem Abend ein, müde und staubig von der Reise. Berit führte ihn in Dolmants Studiergemach, wo er sich sogleich in einen Sessel sinken ließ. »Ich hätte schon ein bisschen eher hier sein können«, entschuldigte er sich, »aber in Demos besuchte ich noch Aslade und die Jungs. Sie wird sehr böse auf mich, wenn ich in die Stadt komme, ohne mich zu Hause sehen zu lassen.«
»Wie geht es ihr?«, erkundigte Patriarch Dolmant sich.
»Sie ist fetter geworden.« Kurik lächelte. »Und ich glaube, sie wird mit zunehmendem Alter ein wenig töricht. Sie war nostalgisch und hat mich auf den Heuboden mitgenommen.« Sein Kinn straffte sich leicht. »Später habe ich ein ernstes Wort mit den Jungs geredet und ihnen eindringlich geraten, die Disteln auf der Wiese stehen zu lassen.«
»Habt Ihr eine Ahnung, wovon er redet, Sperber?«, fragte Dolmant verdutzt.
»Ja, Eminenz.«
»Aber Ihr habt nicht vor, es mir zu erklären, oder?«
»Nein, Eminenz, lieber nicht. – Wie geht es Ehlana?«, fragte er seinen Knappen.
»Sie ist schwierig«, brummte Kurik. »Haltlos. Eigenwillig. Schroff. Arrogant. Gebieterisch. Hinterlistig. Nachtragend. Wie junge Königinnen eben sind. Aber ich mag sie. Irgendwie erinnert sie mich an Flöte.«
»Ich habe dich nicht um eine Beschreibung gebeten, Kurik«, rügte ihn Sperber, »sondern mich nach ihrem Befinden erkundigt.«
»Oh, sie scheint sich wohlzufühlen. Wenn ihr irgendwas fehlen würde, könnte sie bestimmt nicht so schnell rennen.«
»Rennen?«
»Sie denkt offenbar, dass sie eine Menge versäumt hat, während sie schlief. Sie hat inzwischen ihre Nase in jeden Winkel des Schlosses gesteckt. Lenda denkt ernsthaft an Selbstmord, glaube ich, und die Kammerzofen sind allesamt der Verzweiflung nahe. Ihr entgeht nicht ein Staubkörnchen! Wenn sie fertig ist, wird sie zwar möglicherweise nicht das beste Königreich auf der Welt haben, aber zweifellos das ordentlichste.« Kurik griff in seine Lederweste. »Da.« Er zog ein dickes Bündel gefaltetes Papier hervor. »Sie hat dir einen Brief geschickt. Nimm dir Zeit, ihn zu lesen. Sie hat zwei volle Tage gebraucht, ihn zu schreiben.«
»Wie geht es mit der Heimwehr voran?«, erkundigte sich Kalten.
»Sehr gut. Kurz bevor ich aufbrach, kam ein Bataillon Kirchensoldaten vor der Stadt an. Der Bataillonsführer beging den Fehler, zu nah ans Tor zu treten, als er Einlass begehrte. Zwei Bürger begossen ihn.«
»Kochendes Pech?«, riet Tynian.
»Nein, Ritter Tynian. Die beiden Burschen verdienen sich ihren Lebensunterhalt mit der Entleerung und Säuberung von Senkgruben. Der Offizier bekam die Früchte ihrer Tagesarbeit ab – einen Riesenbottich voll. Der Oberst – oder was immer sein Rang war – verlor den Kopf und befahl einen Sturm aufs Tor. Da erst kamen Steine und brennendes Pech von den Mauern. Die Soldaten schlugen ihr Lager unweit der Ostmauer auf, um zu beraten. Spät in der Nacht kletterten etwa zwei Dutzend von Platimes Schurken an Seilen von den Zinnen hinunter und besuchten ihr Lager. Am nächsten Morgen hatten die Soldaten kaum noch Offiziere. Sie lungerten noch eine Zeit lang vor der Stadt herum, dann zogen sie ab. Ich glaube, deine Königin hat nichts zu befürchten, Sperber. Als Gruppe sind Soldaten nicht sehr einfallsreich, und unübliche Taktiken verwirren sie. Platime und Stragen amüsieren sich großartig, und die Bürger entwickeln einen gewissen Stolz, wenn es um ihre Stadt geht. Sie fegen sogar ihre Straßen, denn es könnte ja sein, dass Ehlana bei einer ihrer morgendlichen Inspektionen vorbeikommt.«
»Diese Idioten lassen sie doch nicht etwa aus dem Schloss?«, rief Sperber aufgebracht.
»Wer sollte sie aufhalten? Wie ich schon sagte, Sperber, sie hat nichts zu befürchten. Platime hat ihr die stärkste Frau, die ich in meinem Leben gesehen habe, als Leibwächterin zugeteilt. Sie ist fast so groß wie Ulath und trägt mehr Waffen als eine ganze Abteilung Soldaten.«
»Das kann nur Mirtai sein, die Riesin«, warf Talen ein. »Besser könnte niemand Königin Ehlana beschützen, Sperber. Mirtai ist eine Armee für sich.«
»Eine Frau?«, sagte Kalten ungläubig.
»Ich würde Euch nicht empfehlen, sie in ihrer Gegenwart so zu nennen, Kalten«, warnte Talen ihn ernst. »Sie betrachtet sich als Krieger, und niemand, der auch nur ein Fünkchen Verstand hat, würde ihr widersprechen. Sie trägt meistens Männerkleidung, wahrscheinlich, weil sie nicht von Burschen belästigt werden möchte, die was für Frauen ihrer Statur übrig haben. Sie hat Messer am Körper, wo man wahrhaftig nicht damit rechnet. Sogar in ihre Schuhsohlen hat sie sich ein Paar einarbeiten lassen. Von diesen beiden Messern ragt nicht viel über ihre Zehen hinaus, aber es genügt. Ihr würdet es ganz bestimmt nicht mögen, wenn sie Euch in gewisse Weichteile tritt.«
»Wie ist Platime denn zu so einer Frau gekommen?«, fragte ihn Kalten.
»Er hat sie gekauft.« Talen zuckte die Achseln. »Sie war damals fünfzehn und mit dem Wachsen noch lange nicht fertig. Sie sprach kein Wort Elenisch. Platime wollte sie in einem Freudenhaus arbeiten lassen, aber nachdem sie etwa ein Dutzend Möchtegernfreier verkrüppelt oder umgebracht hatte, überlegte er es sich anders.«
»Jeder spricht Elenisch«, behauptete Kalten.
»Nicht im Tamulischen Reich. Mirtai ist Tamulerin. Darum auch der fremdartige Name. Ich habe Angst vor ihr, und das will schon etwas heißen.«
»Nicht nur die Riesin beschützt Ehlana, Sperber«, fuhr Kurik fort. »Das Volk ist der Königin jetzt schon auf beinahe fanatische Weise ergeben, und jeder achtet höchstpersönlich auf die Gesinnung seiner Nachbarn. Platime hat inzwischen so gut wie jeden festgenommen, der auch nur im Geringsten verdächtig ist.«
Doch Sperber machte sich immer noch Sorgen. »Annias hat eine Menge Helfershelfer in Cimmura«, gab er zu bedenken.
»Hatte« , berichtigte Kurik. »Es gab ziemlich drastischen Anschauungsunterricht. Und falls es wirklich noch jemand in Cimmura geben sollte, der die Königin nicht liebt, muss er sehr, sehr vorsichtig sein, dass es niemand merkt. Aber kann ich jetzt was zu essen haben? Ich bin ausgehungert.«
Die Trauerfeierlichkeiten für Erzprälat Cluvonus waren ein gewaltiges Spektakel. Tagelang läuteten die Glocken. Die Luft in der Basilika war schneidend dick von Räucherwerk, und pausenlos waren Gebete und Hymnen zu hören, gemessen im archaischen Elenisch vorgetragen, eine Sprache, die nur wenige Anwesende verstehen konnten.
Die Geistlichen, die für gewöhnlich nüchternes Schwarz trugen, kleideten sich bei feierlichen Anlässen wie diesem in farbenprächtigen Ornat: die Patriarchen in Rot, die Primasse in den Landesfarben ihres jeweiligen Heimatreiches. Jeder der neunzehn Mönchs- und Nonnenorden hatte seine eigene Farbe, und jede Farbe hatte ihre eigene, besondere Bedeutung. So war das Kirchenschiff der Basilika eine wahre Orgie in Farben, die eher an einen cammorischen Jahrmarkt denken ließ denn an eine Trauerfeierlichkeit.
Obskure Rituale und abergläubische Überlieferungen aus uralter Zeit wurden religiös zelebriert, obwohl niemand auch nur eine Ahnung von ihrer ursprünglichen Bedeutung hatte. Eine beachtliche Zahl Priester und Mönche, deren einzige Pflichten im Leben die Durchführung dieser Rituale und antiquierter Zeremonien war, zeigten sich zum einzigen Mal in ihrem Leben flüchtig in der Öffentlichkeit. Ein greiser Mönch, dessen einzige Aufgabe im Leben darin bestand, mit einem schwarzen Samtkissen und einem eingebeulten und sehr glanzlosen Salzfässchen dreimal um die Bahre des Erzprälaten zu schreiten, war so aufgeregt, dass sein Herz flatterte und zu schlagen aufhörte, sodass auf der Stelle ein Ersatz für ihn ernannt werden musste. Sein Nachfolger, ein pickliger junger Novize mit unbedeutenden Verdiensten und von zweifelhafter Frömmigkeit, weinte vor Dankbarkeit, als ihm bewusst wurde, dass er nur ungefähr einmal während jeder Generation verpflichtet war, wirklich etwas zu tun.
Die Trauerfeierlichkeit dehnte sich schier endlos dahin, und immer wieder wurden Gebete und Hymnen eingeflochten. Die Trauergäste mussten, wie es das Zeremoniell verlangte, abwechselnd stehen, knien, sitzen. Es war alles sehr feierlich, aber nur weniges erschien wirklich sinnvoll.
Primas Annias saß nahe der Samtkordel, welche die Patriarchen an der Nordseite des riesigen Kirchenschiffes von den anderen Trauergästen trennte. Er war umgeben von seinen Helfershelfern und Speichelleckern. Da Sperber nicht dicht genug an ihn herankommen konnte, setzte er sich stattdessen ihm gegenüber an die Südseite, wo er, umgeben von seinen Freunden, dem graugesichtigen Kirchenmann direkt in die Augen zu sehen vermochte.
Die Patriarchen, die gegen Annias waren, hatten inzwischen allesamt planmäßig Schutz im pandionischen Ordenshaus gefunden. Und die Festnahme und Inhaftierung von sechs der Patriarchen, die für Annias – oder zumindest für sein Geld – waren, hatten sich ebenfalls ohne Schwierigkeiten durchführen lassen. Annias, dem Zorn und Enttäuschung unverkennbar ins Gesicht geschrieben standen, beschäftigte sich damit, Anweisungen an den Patriarchen vom Coombe zu kritzeln, die von jugendlichen Pagen zugestellt wurden. Jedes Mal, wenn Annias Makova einen Zettel schickte, sandte Sperber Dolmant einen. Sperber hatte es dabei leichter. Annias musste die Nachricht schreiben. Sperber hingegen schickte nur leere Zettel. Es war eine List, mit der Dolmant sich überraschenderweise einverstanden erklärt hatte.
Kalten setzte sich neben Tynian, kritzelte ebenfalls eine Nachricht und gab sie von Hand zu Hand weiter an Sperber.
Fiel Klügg. Noch fynf fon den fersteggten Patriarken siend for einner halben Schtuhnde ahns Hynterdor fom Ohdenshaus gekommen. Sy hahben gehert dahs wir unsere Freinde beschytsen unn hahben die Gelehgenheyt beym Schopf gebackt. Gutt, niech?
Sperber wand sich innerlich. Kaltens Rechtschreibung war vermutlich noch beklagenswerter, als Vanion befürchtet hatte. Er zeigte den Zettel Talen. »Wie sieht es dadurch jetzt aus?«, flüsterte er.
Talen kniff die Augen zusammen. »Die Zahl der Stimmen ändert sich nur um eine. Wir haben sechs von Annias’ Sympathisanten eingesperrt und fünf weitere von unseren zurückbekommen. Jetzt haben wir zweiundfünfzig, er hat neunundfünfzig, dann sind da noch die neun neutralen. Insgesamt also hundertzwanzig Stimmen. Um zu gewinnen, braucht man immer noch zweiundsiebzig, aber nicht einmal die neun würden ihm jetzt noch helfen. Mit ihnen hätte er achtundsechzig, also vier zu wenig.«
»Gib mir den Zettel«, bat Sperber. Er kritzelte die Zahlen unter Kaltens Nachricht und fügte zwei Sätze darunter: Ich schlage vor, dass wir alle Verhandlungen mit den Neutralen einstweilen aufschieben. Wir brauchen sie jetzt nicht. Er reichte Talen den Zettel. »Bring ihn Dolmant«, wies er ihn an. »Und es ist absolut nichts dagegen einzuwenden, wenn du unterwegs grinst.«
»Ein boshaftes Grinsen, Sperber? Vielleicht ein hämisches?«
»Tu dein Bestes.« Sperber nahm ein Stück Papier, schrieb die Neuigkeit darauf und ließ sie unter seinen gepanzerten Freunden weiterreichen.
Der Primas Annias sah sich plötzlich einer Gruppe Ordensritter gegenüber, die ihn von der anderen Seite des Kirchenschiffes der Basilika angrinsten. Sein Gesicht verdunkelte sich, und er begann nervös an einem Fingernagel zu kauen.
Schließlich neigte die Trauerfeier sich doch noch ihrem Ende entgegen. Die Menge im Kirchenschiff erhob sich, um Cluvonus’ Leichnam zu seiner letzten Ruhestatt in der Krypta unter der Basilika zu folgen.
Sperber blieb mit Talen kurz stehen, um auf Kalten zu warten. »Wo hast du eigentlich Rechtschreiben gelernt?«, fragte er seinen alten Freund.
»Mit Rechtschreiben sollte kein wahrer Ritter sich beschäftigen, Sperber«, entgegnete Kalten von oben herab. Er schaute sich eingehend um, um sich zu vergewissern, dass niemand sie hören konnte, dann flüsterte er: »Wo bleibt bloß Wargun?«
»Keine Ahnung«, wisperte Sperber zurück. »Vielleicht mussten sie ihn erst ausnüchtern. Warguns Orientierungssinn ist nicht sehr gut, wenn er getrunken hat.«
»Wir sollten uns rasch einen Ersatzplan einfallen lassen, Sperber. Die Hierokratie wird die Sitzung fortführen, sobald Cluvonus im Sarkophag liegt.«
»Wir haben genügend Stimmen, um Annias’ Sieg zu vereiteln.«
»Er wird nur zwei Abstimmungen brauchen, um das zu erkennen, mein Freund. Spätestens dann wird er etwas unternehmen – und wir sind hier arg in der Minderheit.« Kalten blickte zu den schweren Holzbalken an der Treppe zur Krypta. »Vielleicht sollte ich Feuer an die Basilika legen«, meinte er.
»Bist du wahnsinnig?«
»Es würde die Dinge verzögern, Sperber, und wir brauchen dringend eine Verzögerung.«
»Ich glaube nicht, dass wir so weit gehen müssen. Behalten wir diese fünf Patriarchen einstweilen als Trümpfe im Ärmel. Talen, wie sieht es ohne ihre Stimmen für uns aus?«
»Dann sind es insgesamt hundertfünfzehn Wähler, und neunundsechzig Stimmen sind für den Sieg erforderlich.«
»Eine Stimme würde Annias dann immer noch fehlen – selbst wenn er die Neutralen kaufen kann. Wenn er sich dem Erfolg so nahe sieht, wird er wahrscheinlich jegliche Konfrontation unterlassen. Kalten, geh mit Perraine zum Ordenshaus und hol die fünf Patriarchen. Steck sie in Rüstungen, sodass man sie nicht erkennen kann. Dann stell einen Trupp von fünf Rittern zusammen und bring sie hierher, aber setz sie einstweilen in irgendeinem Gemach in der Nähe ab. Dolmant kann dann entscheiden, wann er sie braucht.«
»Gut.« Kalten grinste boshaft. »Wir haben Annias geschlagen, nicht wahr, Sperber?«
»Sieht so aus. Aber warten wir mit unserem Freudenfest, bis wirklich ein anderer auf dem Thron sitzt. Und jetzt mach schon!«
Als die rot gewandeten Hierokraten die Sitzung wieder aufnahmen, wurden zunächst Reden gehalten, hauptsächlich Elogen von Patriarchen, die zu unbedeutend für die Teilnahme an der Trauerzeremonie im Kirchenschiff gewesen waren. Die des Patriarchen Ortzel von Kadach in Lamorkand, Baron Alstroms Bruder, war besonders lange und ermüdend. Die Sitzung wurde schon früh beendet und am nächsten Morgen wieder aufgenommen. Die Patriarchen, die gegen Annias waren, hatten sich am vergangenen Abend zusammengesetzt und Ortzel zu ihrem Bannerträger gemacht. Sperber hatte zwar, was Ortzel betraf, nach wie vor ernste Bedenken, doch er behielt sie für sich.
Dolmant hielt die fünf Patriarchen, die doch noch den Mut zur Rückkehr gefunden hatten, in Reserve. In nicht gerade zusammenpassende Rüstungsteile gekleidet, saßen sie mit einem Trupp Ordensritter in einem Aufenthaltsraum unweit des Audienzsaals.
Nachdem die Hierokraten zur Tagesordnung übergegangen waren, erhob Patriarch Makova sich und nominierte den Primas Annias von Cimmura als Kandidaten für das Amt des Erzprälaten. Seine Nominierungsrede dauerte fast eine Stunde, doch der Applaus war nicht gerade stürmisch. Danach erhob Dolmant sich und nominierte Ortzel. Dolmants Rede war feuriger und erntete begeisterteren Beifall.
»Wird jetzt gewählt?«, wisperte Talen Sperber zu.
»Ich weiß nicht«, gestand Sperber. »Das hängt von Makova ab. Er hat gegenwärtig den Vorsitz.«
»Ich würde wirklich gern bei einer Wahl zusehen«, sagte Talen aufgeregt.
»Bist du dir denn deiner Berechnung nicht sicher?«, fragte Sperber leicht bestürzt.
»Natürlich bin ich mir sicher! Aber Zahlen sind eben nur Zahlen. Wenn sie Menschen betreffen, kann eine Menge passieren. Seht Euch beispielsweise das an.« Talen deutete auf einen Pagen, der mit einem zusammengefalteten Blatt Papier von den neun unentschlossenen Patriarchen zu Dolmant eilte. »Was führen die jetzt wohl im Schilde?«
»Sie möchten wahrscheinlich wissen, weshalb Dolmant ihnen plötzlich kein Geld mehr anbietet. Ihre Stimmen sind beim gegenwärtigen Stand wertlos, aber das wissen sie wahrscheinlich noch nicht.«
»Was, glaubt Ihr, werden sie jetzt tun?«
»Wer weiß?« Sperber zuckte mit den Schultern. »Und was spielt es schon für eine Rolle?«
Makova, der am Rednerpult stand, blätterte durch ein Bündel Papiere. Dann blickte er auf und räusperte sich. »Bevor wir zur Wahl schreiten, meine Brüder, möchte ich euch auf etwas aufmerksam machen, das ich soeben erst erfahren habe. Wie zumindest einige von euch wissen, sammeln sich zemochische Truppen an der Ostgrenze von Lamorkand, offensichtlich in kriegerischer Absicht. Ich glaube, wir können mit Sicherheit annehmen, dass Otha in den Westen eindringen wird – vermutlich schon in den nächsten Tagen. Es ist deshalb von größter Wichtigkeit, dass die Wahl so schnell wie möglich abgeschlossen wird. Leider wird unser neuer Erzprälat sich sofort nach seiner Bestätigung der unheilvollsten Krise gegenübersehen, der unsere Kirche und ihre getreuen Söhne seit fünfhundert Jahren ausgesetzt ist.«
»Was soll das?«, flüsterte Bevier Sperber zu. »Jeder in Chyrellos weiß, dass Otha sich längst in Ostlamorkand befindet.«
»Er will Zeit schinden«, antwortete Sperber stirnrunzelnd, »aber ich sehe keinen Grund dafür.«
»Was hat Annias nun wieder ausgeheckt?«, fragte Tynian und blickte finster durch den Audienzsaal zu dem Primas von Cimmura hinüber, der selbstzufrieden lächelte.
»Er wartet darauf, dass etwas geschieht«, antwortete Sperber.
»Was?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, aber ich denke, Makova wird reden, bis es so weit ist.«
Da stahl Berit sich in den Audienzsaal. Sein Gesicht war kreidebleich und verstört. Er stolperte fast auf dem Weg die Tribünentreppe hinauf und zwängte sich die Bankreihe entlang zu Sperber. »Ritter Sperber!«, platzte er hinaus.
»Sprecht leise, Berit!«, zischte Sperber. »Setzt Euch und reißt Euch zusammen.«
Berit sank auf einen Sitz und holte tief Atem.
»Gut«, lobte Sperber. »Und jetzt erzählt, was passiert ist, aber leise.«
»Zwei Armeen nähern sich Chyrellos, Ritter Sperber«, berichtete der Novize gepresst.
»Zwei?« Ulath setzte sich überrascht auf. Dann spreizte er die Hände. »Vielleicht hat Wargun seine Streitkräfte aus irgendeinem Grund geteilt.«
»Es ist nicht König Warguns Armee, Ritter Ulath«, sagte Berit. »Als wir sie kommen sahen, sind ein paar Ordensritter auf Spähtrupp gegangen, um festzustellen, wer sich der Stadt nähert. Die Armee, die vom Norden kommt, scheint aus Lamorkern zu bestehen.«
»Lamorker?«, fragte Tynian verwirrt. »Was machen die hier? Sie sollten doch an der Grenze Otha gegenüberstehen.«
»Ich glaube nicht, dass diese Lamorker sich für Otha interessieren«, entgegnete Berit. »Einige der Kundschafter, die ausritten, waren Pandioner. Sie erkannten die Führer der lamorkischen Armee als Adus und Krager.«
»Was?« , entfuhr es Kalten.
»Nicht so laut, Kalten!«, knirschte Sperber. »Und die andere Armee, Berit?«, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte.
»Hauptsächlich Rendorer, Ritter Sperber, aber es sind auch viele Cammorier darunter.«
»Und ihr Führer?«
»Martel, Herr Ritter.«