12

Das Plündern in der Neustadt ging bis tief in die Nacht hinein weiter. Feuer von mehreren Brandherden breitete sich schnell aus, und bald war die Stadt in dicken Qualm gehüllt. Von der Mauer aus konnten Sperber und seine Freunde Söldner mit vor Gier und Mordlust funkelnden Augen durch die Straßen laufen sehen. Sie trugen behelfsmäßige Beutel und Säcke bei sich. Die Menschenmassen, die sich um Einlass flehend vor den Toren zur Altstadt gedrängt hatten, begannen sich aufzulösen, als Martels Söldner erschienen.

Schreckliche Bluttaten geschahen – einige vor aller Augen – und andere Gräuel. Ein stoppelbärtiger Cammorier zerrte eine junge Frau an den Haaren aus einem Haus und verschwand mit ihr in einer engen Gasse. Ihre Schreie verrieten den Beobachtern unmissverständlich, was mit ihr geschah.

Ein blutjunger Kirchensoldat, der neben Sperber an den Zinnen stand, fing zu weinen an. Als der Cammorier mit leicht verlegenem Gesicht aus der Gasse zurückkam, hob der Rotrock seinen Bogen, zielte und schoss, alles in einer Bewegung. Der Cammorier krümmte sich und krallte die Finger um den gefiederten Pfeilschaft, von dem nur noch das Ende aus dem Bauch ragte.

»Gut gemacht«, lobte Sperber den Kirchensoldaten.

»Das hätte meine Schwester sein können, Herr Ritter«, sagte der Junge und wischte sich die Tränen ab.

Plötzlich kam die Frau weinend und arg mitgenommen aus der Gasse getaumelt und sah ihren Schänder zuckend im Schutt der Straße liegen. Sie schwankte zu ihm und trat ihm mehrmals heftig ins Gesicht. Als sie erkannte, dass er sich nicht wehren konnte, riss sie den Dolch aus seinem Gürtel. Es bleibt besser unbeschrieben, was sie als Nächstes tat. Seine Schreie gellten jedenfalls noch geraume Zeit durch die Straße. Als er endlich verstummte, warf sie das blutige Messer von sich, öffnete den Sack, den er geschleppt hatte, und blickte hinein. Dann wischte sie sich die Augen mit ihrem Ärmel, band den Sack zu und zerrte ihn zu ihrem Haus zurück.

Der Soldat, der auf den Cammorier geschossen hatte, würgte heftig und übergab sich.

»Niemand ist unter diesen Umständen sonderlich zivilisiert, Nachbar.« Sperber legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Geht, trinkt einen Schluck Wasser und wascht Euch das Gesicht! Versucht, nicht mehr daran zu denken!«

»Danke, Herr Ritter.« Der junge Rotrock schluckte schwer.

»Vielleicht sind die Kirchensoldaten gar nicht so übel, zumindest nicht alle«, murmelte Sperber vor sich hin und revidierte eine langjährige Meinung.

Bei Sonnenuntergang fand wieder ein Treffen in Ritter Nashans rotem Studiergemach im pandionischen Ordenshaus statt, das Tynian und Ulath – nicht mehr nur scherzhaft – inzwischen »das Hauptquartier« nannten. Anwesend waren die Hochmeister, die drei Patriarchen, sowie Sperber mit seinen Freunden, nicht jedoch Kurik, Berit und Talen.

Ritter Nashan blieb schüchtern an der Tür stehen. Nashan war ein fähiger Verwalter, aber er fühlte sich in Anwesenheit von so vielen Hochgestellten ein wenig unbehaglich. »Falls Ihr nichts mehr benötigt«, sagte er, »darf ich mich zurückziehen.«

»Bleibt, Nashan.« Hochmeister Vanion lächelte. »Wir wollen Euch doch nicht aus Eurem eigenen Gemach vertreiben. Außerdem kennt Ihr Euch in der Stadt aus, und es könnte sein, dass wir Eurer Kenntnisse bedürfen.«

»Danke, Hochmeister Vanion«, sagte der füllige Pandioner und setzte sich in einen Sessel.

»Ich glaube, wir haben Eurem Freund Martel ein Schnippchen geschlagen, Vanion«, meinte Hochmeister Abriel.

»Habt Ihr in den letzten Stunden über die Mauer gesehen, Abriel?«, entgegnete Vanion trocken.

»Eben deshalb. Wie Ritter Sperber gestern vermutete, konnte dieser Martel nicht glauben, dass wir die Neustadt kampflos aufgeben würden, darum zog er es gar nicht in Erwägung, als er seine Pläne machte. Er unternahm nichts, seine Kundschafter am Betreten der Stadt zu hindern, und diese Kundschafter waren die Vorhut des Gros der Plünderer. Kaum hatten seine Kundschafter festgestellt, dass die Stadt nicht verteidigt wurde, stürmten sie in die Häuser, und fast die gesamte Armee folgte ihnen. Martel hat die Kontrolle über seine Streitkräfte völlig verloren und wird sie auch nicht zurückgewinnen, ehe die Neustadt vollständig geplündert ist. Und nicht nur das. Sobald die Soldaten so viel Beute haben, wie sie nur schleppen können, werden sie desertieren.«

»Ich kann Diebstahl nicht billigen«, sagte Patriarch Ortzel streng, »doch unter diesen Umständen …« Ein schwaches, fast verschmitztes Lächeln huschte über seine schmalen Lippen.

»Hin und wieder ist eine gewisse Umverteilung weltlicher Güter nötig, Ortzel«, entgegnete Emban salbungsvoll. »Leute mit zu viel Geld haben zu viel Zeit, sich Sünden einfallen zu lassen und zu begehen. Vielleicht ist dies Gottes Weg, die Stinkreichen in einen Zustand heilsamer Armut zu versetzen.«

»Ich frage mich nur, ob Ihr an dieser Ansicht festhalten würdet, wenn es um Euer Haus ginge.«

»Oh, das könnte meine Meinung schon ändern«, gab Emban zu.

»Gottes Wege sind unerforschlich«, warf Bevier fromm ein. »Wir hatten keine andere Wahl, als die Neustadt aufzugeben.«

»Ich glaube allerdings nicht, dass wir mit so vielen Fahnenflüchtigen aus Martels Reihen rechnen dürfen, dass wir Anlass zum Jubeln hätten«, gab Vanion zu bedenken. »Aber durch die Plünderung gewinnen wir jedenfalls etwas Zeit.« Er blickte die anderen Hochmeister fragend an. »Eine Woche? Was meint Ihr?«

»Bestenfalls«, erwiderte Komier. »Es sind sehr viele Männer. Es wird nicht lange dauern, bis die Stadt leer geräumt ist.«

»Und dann wird es zu Mord und Totschlag kommen«, sagte Kalten düster. »Wie Ihr gesagt habt, Hochmeister Komier, es sind sehr viele Männer da draußen, und ich bin ziemlich sicher, dass nicht alle in die Stadt kommen konnten. Und jene, die noch vor den Toren warten, sind bestimmt nicht weniger habgierig als jene, die als Erste hereinstürmten. Es wird eine Zeit lang chaotisch zugehen, glaube ich, und Martel wird ziemlich lange brauchen, bis er alles wieder fest im Griff hat.«

»Ihr habt wahrscheinlich recht«, brummte Komier. »Wie auch immer, es verschafft uns ein wenig Zeit. Die Altstadt hat vier Tore, und drei sind in keinem besseren Zustand als die der Neustadt. Ein Tor ist leichter zu verteidigen als vier, davon sollten wir ausgehen.«

»Wollt Ihr die Tore durch Zauberei verschwinden lassen, Komier?«, fragte Emban. »Ich weiß, dass die Ordensritter in so manchen ungewöhnlichen Dingen ausgebildet werden, aber wir befinden uns hier in der Heiligen Stadt. Würde Gott so etwas an seiner eigenen Türschwelle billigen?«

»An Magie habe ich überhaupt nicht gedacht«, gestand Komier. »Ich hatte mir vielmehr überlegt, wie schwer es sein wird, ein Tor einzurammen, wenn sich dahinter der Schutt von zwei oder drei eingerissenen Häusern türmt.«

»Es ist so gut wie unmöglich«, bestätigte Abriel.

Emban grinste breit. »Befindet Makovas Haus sich nicht ganz dicht am Osttor?«

»Nun, da Ihr es erwähnt, Eminenz, soviel ich weiß, ja.«

»Ein größeres Haus?«, fragte Abriel.

»Müsste es wohl sein«, brummte Emban, »wenn man bedenkt, was er dafür bezahlt hat.«

»Was die elenischen Steuerzahler dafür bezahlt haben, Eminenz«, berichtigte Sperber.

»Ah, ja. Das hatte ich fast vergessen. Meint Ihr, die elenischen Steuerzahler wären bereit, dieses so teure Haus der Verteidigung der Kirche zu opfern?«

»Es wäre ihnen ein Bedürfnis, Eminenz.«

»Wir werden uns das Haus des Patriarchen von Coombe sehr genau ansehen, wenn wir die Häuser auswählen, die wir abbrechen müssen«, versprach Komier.

»Die einzige ungeklärte Frage ist nun, wo bleibt König Wargun?«, sagte Dolmant. »Martels Unüberlegtheit hat uns ein wenig Zeit verschafft, aber das allein hält ihn uns nicht auf Dauer vom Leibe. Könnten sich Eure Kuriere verirrt haben, Ortzel?«

»Es sind allesamt tüchtige Männer, und eine Armee von der Größe, wie Wargun sie führt, sollte nicht schwer zu finden sein. Außerdem müssten ihn doch auch die Kuriere, die Ihr und Emban schon zuvor weggeschickt habt, längst erreicht haben, nicht wahr?«

»Ganz zu schweigen von jenen, die der Graf von Lenda aus Cimmura sandte«, fügte Sperber hinzu.

»Der Verbleib des Königs von Thalesien ist in der Tat ein Rätsel«, sagte Emban, »und erweist sich als zusehends bedenklicher.«

Die Tür öffnete sich, und Berit trat ein. »Entschuldigt, meine Herren«, bat er, »aber ich sollte Euch Bescheid geben, wenn sich in der Neustadt etwas Ungewöhnliches tut.«

»Was habt Ihr beobachtet, Berit?«, fragte Vanion.

»Ich war oben in dem Häuschen auf der Basilikakuppel …«

»Türmchen«, verbesserte Vanion ihn unwillkürlich.

»Türmchen«, wiederholte Berit. »Man kann von dort oben die ganze Stadt überblicken. Die Bürger fliehen aus Chyrellos. Sie strömen aus allen Toren.«

»Martel will sie nicht im Weg haben«, warf Kalten ein.

»Und er will die Frauen aus der Stadt haben«, fügte Sperber düster hinzu.

»Das verstehe ich nicht, Sperber«, gestand Bevier.

»Ich erkläre es Euch später«, versprach Sperber ihm mit einem raschen Blick auf Sephrenia.

Es klopfte an der Tür, und ein pandionischer Ritter trat ein. Er hielt Talen am Arm gepackt, und der Straßenjunge aus Cimmura starrte verärgert auf einen ziemlich prallen Sack, den der Ritter in der Hand hielt. »Ihr wolltet diesen jungen Burschen sehen, Ritter Sperber?«

»Ja. Vielen Dank, Kamerad.« Dann wandte Sperber sich streng an Talen. »Wo warst du?«

Talen wich seinem Blick aus. »Äh – da und dort«, antwortete er.

»Du weißt, dass du mir so nicht kommen kannst, Talen«, rügte Sperber müde. »Ich werde die Wahrheit herausfinden.«

»Na gut.« Talen seufzte. »In den Straßen der Altstadt gibt es Diebe, und außerhalb der Mauern tut sich so allerhand Interessantes. Es ist mir geglückt, mich hinauszustehlen. Ich habe die Information dann verkauft.«

»Wie geht das Geschäft?«, fragte Patriarch Emban mit glänzenden Augen.

»Gar nicht so schlecht«, antwortete Talen. »Die meisten Diebe hier in der Altstadt haben nicht allzu viel zu bieten. Man macht keinen großen Profit, wenn man auf den Dingen sitzenbleibt, die man gestohlen hat. Aber mit mir lassen sich gut Geschäfte machen. Ich verlange lediglich einen Prozentsatz von dem, was sie den Soldaten draußen stehlen können.«

»Öffne den Sack, Talen«, befahl Sperber.

»Ihr schockiert mich, Sperber«, entrüstete Talen sich. »Es sind heilige Männer in dieser Stube. Haltet Ihr es wirklich für schicklich, ihnen – nun, Ihr wisst schon was – zu zeigen?«

»Öffne den Sack, Talen!«

Der Junge seufzte abgrundtief, hob den Sack auf Ritter Nashans Schreibtisch und tat wie geheißen. Hauptsächlich Zierrat kam zum Vorschein – Metallkelche, Figurinen, dicke Schmuckketten, verschiedene Speisegerätschaften und ein kunstvoll graviertes Tablett von der Größe eines Esstellers. Alle diese Gegenstände schienen aus purem Gold zu sein.

»Das hast du alles im Austausch für Informationen bekommen?«, fragte Tynian ihn ungläubig.

»Informationen sind das Wertvollste auf der Welt, Ritter Tynian«, entgegnete Talen fast von oben herab. »Ich tue nichts Unsittliches oder Verbotenes. Mein Gewissen ist rein. Und nicht nur das, ich trage zur Verteidigung der Stadt bei.«

»Dieser Logik kann ich nicht so ganz folgen«, sagte Ritter Nashan.

»Die Soldaten da draußen geben das Diebesgut nicht freiwillig her, Herr Ritter«, feixte Talen. »Die Diebe kennen ihre Einstellung, deshalb bitten sie gar nicht erst lange. Martel hat seit Sonnenuntergang ziemlich viele seiner Soldaten verloren.«

»Das ist verwerflich, junger Mann!«, tadelte Ortzel.

»Meine Hände sind rein, Eminenz«, versicherte ihm Talen mit Unschuldsmiene. »Ich selbst habe nicht einen Soldaten in den Rücken gestochen. Und ich bin doch nicht verantwortlich für das, was die Gauner da draußen machen, nicht wahr?«

»Gebt es auf, Ortzel«, riet Emban ihm schmunzelnd. »Keiner von uns ist weltlich genug, als dass er es mit diesem Jungen aufnehmen könnte.«

Er machte eine Pause. »Dolmant«, sagte er schließlich, »es ist doch eine alte Praktik der Kirche, einen Zehent einzuziehen, nicht wahr?«

»Natürlich«, versicherte ihm der Patriarch von Demos.

»Gut. Unter den gegebenen Umständen würde ich sagen, dass der Junge ein Viertel seines Gewinns der Kirche abzutreten hat, meint Ihr nicht auch?«

»Ja, das halte ich für angemessen.«

»Ein Viertel? «, rief Talen entrüstet. »Das ist Straßenraub!«

»Wir befinden uns hier nicht auf der Straße, mein Sohn.« Emban lächelte. »Sollen wir nach jedem deiner Ausflüge abrechnen? Oder sollen wir warten, bis du deinen gesamten Gewinn eingesäckelt hast, sodass wir dann alles auf einmal kassieren können?«

»Nachdem du mit Patriarch Emban abgerechnet hast, Talen«, sagte Vanion, »möchte ich, dass du meine brennende Neugier stillst und mir von diesem Geheimweg aus der Altstadt erzählst, den du gefunden hast.«

»Das ist im Grunde kein Geheimnis, Hochmeister Vanion«, entgegnete Talen. »Man muss nur die Namen einer Abteilung geschäftstüchtiger Kirchensoldaten wissen, die auf einem der Mauertürme Nachtwache haben. Sie haben ein schönes langes Seil, in das Knoten geknüpft sind, was es leicht macht, daran hinunter- und hinaufzuklettern. Sie sind bereit, das Seil zu verleihen, und ich bin bereit, ihre Namen und den Turm, in welchem sie Wache halten, an die richtigen Leute zu vermitteln. So macht jeder einen hübschen Profit.«

»Einschließlich der Kirche«, erinnerte ihn Patriarch Emban.

»Ich hatte gehofft, Ihr würdet das vergessen, Eminenz.«

»Hoffnung ist eine Kardinaltugend, mein Sohn«, erklärte Emban ihm salbungsvoll, »selbst wenn sie fehl am Platz ist.«

Kurik kam mit einer lamorkischen Armbrust herein.

»Wir haben Glück, meine Herren«, sagte er. »Ich habe in der Basilika zufällig einen Blick in die Waffenkammer der Leibgarde des Erzprälaten geworfen. Es gibt dort Regale um Regale voller Armbrüste und Fässer voll Bolzen.«

»Eine ungemein brauchbare Waffe«, lobte Ortzel – aber er war ja auch Lamorker.

»Sie sind nicht so durchschlagskräftig wie Langbogen, Eminenz«, erklärte Kurik, »doch sie haben eine große Reichweite. Ich glaube, damit lassen sich Sturmangriffe auf die Altstadt abwehren, bevor der Feind die Mauer erreicht.«

»Könnt Ihr mit dieser Waffe umgehen, Kurik?«, fragte Vanion.

»Ja, Hochmeister Vanion.«

»Dann fangt gleich an, Kirchensoldaten zu Armbrustschützen auszubilden.«

»Jawohl.«

»So einiges wendet sich zum Guten, meine Freunde«, stellte Vanion fest. »Eine verteidigungsfähige Stellung, ausgeglichene Bewaffnung und die Zeit arbeiten für uns.«

»Ich würde mich trotzdem wohler fühlen, wenn Wargun hier wäre.«

»Da ist noch etwas, mit dem wir uns beschäftigen müssen, meine Herren«, sagte Emban ernst. »Nehmen wir an, alles geht gut und die Hierokratie tagt wieder, nachdem Martel vertrieben ist. Damit, dass wir die Neustadt preisgegeben haben, wird sich eine größere Zahl Patriarchen gegen uns stellen. Wenn man zulässt, dass das Haus eines Mannes gebrandschatzt wird, ist er ganz sicher nicht gut auf einen zu sprechen und wird es sich überlegen, ob er ihm noch einmal seine Stimme gibt. Wir müssen die Verbindung zwischen Annias und Martel beweisen können. Gelingt uns das nicht, ist alle Mühe vergeblich. Ich kann so überzeugend reden wie jeder andere auch, aber Wunder kann ich keine wirken. Ich brauche etwas, auf dem ich aufbauen kann.«

Es ging auf Mitternacht zu, als Sperber die Treppe zur Mauer unweit vom Südtor hinaufstieg. Es war das Tor, das sich am leichtesten verteidigen ließ, und man hatte beschlossen, es nicht zu verbarrikadieren. Die Neustadt brannte jetzt an allen Ecken und Enden. Ein Plünderer, der ein Haus betritt und feststellen muss, dass es bereits ausgeräumt ist, gerät leicht in Wut, die er für gewöhnlich abzureagieren versucht, indem er das Haus in Brand steckt. Ein solches Verhalten ist vorhersehbar und gewissermaßen auch ganz natürlich. Die Plünderer, deren Gesichter immer länger wurden, je weniger unversehrte Häuser sie fanden, in denen es noch Kostbarkeiten gab, rannten waffen- und fackelschwingend von Haus zu Haus. Der praktisch veranlagte Kurik hatte sich mit den Kirchensoldaten, die er im Armbrustschießen ausbildete, auf den Mauerwehrgang begeben, und die Plünderer boten seinen Männern bewegliche Zielscheiben, auf die sie schießen konnten. Allzu viele Treffer erzielten sie nicht, aber sie schienen von Schuss zu Schuss besser zu werden.

Da erschien aus einer schmalen Straße am Rand der Trümmerzone, nur knapp außerhalb der Schussweite, eine größere Zahl gut bewaffneter Reiter. Der Mann an ihrer Spitze saß auf einem Rappen mit glänzendem Fell und trug eine prachtvolle deiranische Rüstung. Er nahm seinen Helm ab. Es war Martel. Und dicht hinter ihm ritten der viehische Adus und der wieselige Krager.

Kurik eilte zu Sperber und dessen blondem Freund. »Ich kann die Soldaten auf sie schießen lassen, wenn du möchtest«, sagte der Knappe zu Sperber. »Vielleicht hat einer Glück und trifft.«

Sperber kratzte sich am Kinn. »Lieber nicht, Kurik«, sagte er schließlich.

»Du lässt dir da eine verdammt gute Gelegenheit entgehen, Sperber«, wandte Kalten ein. »Falls Martel einen verirrten Armbrustbolzen ins Auge kriegt, wird die ganze Armee da draußen auseinanderfallen.«

»Trotzdem«, erwiderte Sperber. »Sehen wir erst mal, ob wir ihn nicht ein wenig reizen können. Wenn er sich ärgert, platzt er manchmal mit etwas heraus. Vielleicht kriegen wir ihn jetzt dazu.«

Sperber konzentrierte sich auf den weißhaarigen Mann und wob den komplexen styrischen Zauber. »Da ist dir so ziemlich alles danebengegangen, nicht wahr, Martel?«, sagte er im Plauderton.

»Bist du das, Sperber?« Martels Stimme antwortete im gleichen Tonfall. Auch er bediente sich des Zaubers, den sie beide als Ritteranwärter gelernt hatten. »Wie schön, deine Stimme wieder zu hören, alter Junge. Nur deine Bemerkung verstehe ich nicht so recht. Von meiner Warte aus betrachtet, scheint doch alles recht gut zu gehen.«

»Dann versuch doch mal, wie viele deiner Soldaten du jetzt zu einem Sturm auf die Mauern bewegen kannst.«

»Es war wirklich sehr schlau, die äußere Stadt aufzugeben, Sperber. Damit hatte ich nicht gerechnet.«

»Gut! Ich kann mir vorstellen, welche Seelenqualen du jedes Mal leidest, wenn du an die schöne Beute denkst, die dir entgeht.«

»Wie kommst du darauf, dass sie mir entgeht? Ich hielt ein paar Ansprachen. Der Großteil meiner Armee gehorcht mir nach wie vor – sie ist da draußen, auf den Wiesen jenseits der Flüsse. Ich habe die Männer darauf aufmerksam gemacht, dass es viel einfacher ist, wenn wir den Unternehmungslustigen die schwere Arbeit der Plünderei überlassen. Wenn sie zurückkommen, nehmen wir ihnen die Beute ab und teilen sie auf. Jeder bekommt gleich viel.«

»Du auch?«

»Meine Güte! Natürlich nicht, Sperber.« Martel lachte. »Ich bin der General. Ich nehme mir zuvor meinen Anteil.«

»Den Löwenanteil?«

»Ich bin ja schließlich der Löwe. Wir alle werden sehr, sehr reich, wenn wir erst im Schatzgewölbe unter der Basilika sind.«

»Geht das nicht ein wenig zu weit, Martel, selbst für dich

»Geschäft ist Geschäft, Sperber. Du und Vanion, ihr habt mir die Ehre geraubt, da bleibt mir zum Trost nur noch das Geld – und Befriedigung, natürlich. Ich glaube, ich werde deinen Kopf ausstopfen lassen, wenn hier alles vorüber ist, mein Freund.«

»Mein Kopf ist hier, Martel. Komm nur und hol ihn dir. Deine Soldaten werden noch eine ganze Weile brauchen, bis sie die Stadt ausgeräumt haben, und du kannst dir nicht leisten, viel Zeit zu vergeuden, wenn du vermeiden willst, dich mit König Wargun und der Hälfte aller kampffähigen Männer von Eosien anzulegen.«

»Ah, ja. Wargun, der stets besoffene König von Thalesien. Ihn hätte ich fast vergessen. Was mag ihm wohl zugestoßen sein? Es ist doch gar nicht seine Art, so zu trödeln.«

Sperber brach den Zauber. »Lass deine Soldaten auf ihn schießen, Kurik«, sagte er düster.

»Was ist los, Sperber?«, fragte Kurik.

»Martel ist es irgendwie gelungen, Wargun von Chyrellos fernzuhalten. Wir müssen es den Hochmeistern sagen. Ich fürchte, wir sind hier ganz auf uns allein gestellt.«