»Es sind Paradetruppen, Eminenz«, wandte Vanion ein. »Es handelt sich hier aber nicht um eine Parade oder einen zeremoniellen Wachwechsel.« Die vier – Vanion, Dolmant, Sperber und Sephrenia – saßen in Ritter Nashans Studiergemach.
»Ich habe sie auf ihrem Kasernenhof exerzieren gesehen, Vanion«, entgegnete Dolmant geduldig. »Ich kann mich noch gut genug an meine eigene Ausbildung erinnern, um Berufssoldaten zu erkennen, wenn ich sie sehe.«
»Wie viele sind es, Eminenz?«, fragte Sperber.
»Dreihundert«, antwortete der Patriarch. »Als Leibgarde des Erzprälaten ist ihre einzige Aufgabe der Schutz der Basilika.« Dolmant lehnte sich in seinem Sessel zurück und presste die Fingerspitzen aneinander. »Ich glaube nicht, dass wir eine andere Wahl haben, Vanion«, sagte er. Sein schmales, asketisches Gesicht schien im Kerzenschein zu leuchten. »Emban hat recht. Die ganze Mühe, die wir uns mit den Stimmen gemacht haben, ist jetzt umsonst. Meine Brüder in der Hierokratie hängen sehr an ihren Häusern.« Er verzog das Gesicht. »Es ist eine der wenigen Eitelkeiten, die den höheren geistlichen Würdenträgern bleiben. Wir tragen alle einfache Soutanen, infolgedessen können wir uns nicht herausputzen; wir heiraten nicht, also können wir nicht mit unseren Gemahlinnen prahlen; wir haben uns dem Frieden geweiht, deshalb können wir unseren Mut nicht auf dem Schlachtfeld beweisen. Wir haben nur unsere Paläste. Als wir uns hinter die Mauer der Altstadt zurückzogen und die Paläste meiner Brüder Martels Plünderern überließen, haben wir zwanzig Stimmen verloren. Wir brauchen unbedingt den Beweis einer geheimen Absprache zwischen Annias und Martel. Wenn uns das gelingt, können wir den Spieß umdrehen. Dann wird man Annias für die brennenden Paläste verantwortlich machen und nicht mehr uns.« Er blickte Sephrenia an. »Ich möchte Euch um etwas bitten, kleine Mutter«, sagte er.
»Selbstverständlich, Dolmant.« Sie lächelte ihn voller Zuneigung an.
»Ich kann Euch nicht einmal offiziell bitten«, bedauerte er mit einem betrübten Lächeln, »weil es um Dinge geht, an die ich eigentlich gar nicht mehr glauben darf.«
»Dann bittet mich doch als ehemaliger Pandioner, lieber Dolmant«, riet sie ihm. »Auf diese Weise können wir beide den Umstand ignorieren, dass Ihr in schlechte Gesellschaft geraten seid.«
»Danke«, sagte er trocken. »Seht Ihr eine Möglichkeit, das Aquädukt zum Einsturz zu bringen, ohne Euch selbst in den Keller zu begeben?«
»Das kann ich übernehmen, Eminenz«, erbot sich Sperber. »Ich werde mich dazu des Bhelliom bedienen.«
»Das könnt Ihr nicht«, erinnerte Sephrenia ihn. »Ihr habt nicht mehr beide Ringe.« Sie blickte wieder Dolmant an. »Ich kann es«, versicherte sie ihm. »Wenn Sperber im Keller ist, vermag ich den Zauber durch ihn zu lenken.«
»Das ist noch besser«, begeisterte sich Dolmant. »Vanion, was haltet Ihr davon: Ihr und ich sprechen mit Oberst Delada, dem Kommandanten der Leibgarde des Erzprälaten. Wir schicken seine Gardisten unter dem Befehl eines zuverlässigen Mannes in den Keller.«
»Kurik?«, schlug Sperber vor.
»Genau der Richtige!«, lobte Dolmant. »Warum habt Ihr ihn eigentlich nie zum Ritter geschlagen, Vanion?«
»Wegen seiner Klassenvorurteile, Dolmant.« Vanion lachte. »Nach Kuriks Meinung sind Ritter Männer ohne Verstand und wirkliche Tugenden. Zuweilen glaube ich fast, dass er recht hat.«
»Also gut«, fuhr Dolmant fort. »Wir schicken Kurik und die Gardisten in den Keller, um auf Martel zu warten – natürlich so, dass er sie nicht entdeckt. Was wird das erste sichere Zeichen sein, dass Martels Großangriff auf unsere Mauer beginnt?«
»Felsbrocken, die vom Himmel fallen, nehme ich an. Das ist das Zeichen, dass seine Palintona in Schleuderstellung sind.«
»Und das dürfte der wahrscheinlichste Zeitpunkt sein, dass er sich auf den Weg durch das Aquädukt macht, nicht wahr?«
Vanion nickte. »Das Risiko, entdeckt zu werden, wäre zu groß, wenn sie schon früher in den Keller schlichen.«
»Das passt alles wunderbar zusammen.« Dolmant schien in diesem Punkt mit sich zufrieden zu sein. »Sperber und Oberst Delada werden auf der Mauer auf die ersten Felsgeschosse warten. Sobald diese herunterkrachen, begeben die beiden sich in den Keller, um das Gespräch zwischen Martel und Annias zu belauschen. Falls die Erzprälatengarde den Eingang zum Aquädukt nicht halten kann, wird Sephrenia den Tunnel zum Einsturz bringen. Nun, was meint Ihr, Vanion?«
»Das ist ein ausgezeichneter Plan, Eminenz«, sagte Vanion, ohne eine Miene zu verziehen, denn genau wie er sah auch Sperber, dass der Plan sehr lückenhaft war. Die Jahre schienen Dolmants klaren, strategischen Verstand ein wenig getrübt zu haben. »Ich sehe nur einen Haken«, fügte Vanion hinzu.
»Ach?«
»Sobald die Mauer unter dem Bombardement fällt, werden wahrscheinlich Horden von Söldnern in die Altstadt einfallen.«
»Das wäre natürlich sehr ungünstig«, gestand Dolmant stirnrunzelnd ein. »Sprechen wir trotzdem mit Oberst Delada. Ich bin überzeugt, dass sich eine Möglichkeit finden wird.«
Vanion seufzte und folgte dem Patriarchen von Demos aus dem Gemach.
»War Dolmant immer so?«, fragte Sperber Sephrenia. »Ich glaube, er übertreibt mit seinem Optimismus.«
»Das liegt an Eurer elenischen Theologie, Lieber.« Sie lächelte. »Dolmant ist beruflich verpflichtet, an göttliche Fügung zu glauben. Styriker sehen darin die schlimmste Art von Fatalismus. Was beunruhigt Euch, Lieber?«
»Eine gute logische Theorie hat sich für mich zerschlagen, Sephrenia. Nach allem, was wir von Perraine wissen, kann ich den Schatten nicht mehr mit Azash in Verbindung bringen.«
»Warum seid Ihr so auf greifbare Beweise versessen, Sperber?«
»Entschuldigt, aber ich verstehe nicht.«
»Nur weil Ihr eine Verbindung nicht logisch begründen könnt, gebt Ihr bereits die ganze Theorie auf. Eure Folgerungen waren von Anfang an sehr dünn. Im Grunde genommen habt Ihr nur versucht, die Dinge so zurechtzubiegen, dass Eure Logik Euch dasselbe sagte wie Euer Gefühl – eine Art Rechtfertigung für eine innere Überzeugung. Ihr hattet das Gefühl – Ihr habt geglaubt –, dass der Schatten von Azash kam. Das genügt mir. Ich fühle mich sowieso wohler dabei, wenn ich mich auf Eure Gefühle verlasse statt auf Eure Logik.«
»Übertreibt Ihr nicht ein wenig?«
Sie lächelte. »Ich glaube, es ist an der Zeit, die Logik zu vergessen und sich auf die inneren Überzeugungen zu stützen, Sperber. Ritter Perraines Geständnis löscht jegliche Verbindung zwischen diesem Schatten, den Ihr immer wieder aus den Augenwinkeln seht, und den Anschlägen auf Euch, nicht wahr?«
»Ich fürchte, so ist es«, gab er zu. »Schlimmer noch, ich habe in letzter Zeit auch den Schatten nicht mehr gesehen.«
»Nur weil Ihr ihn nicht gesehen habt, bedeutet es nicht, dass er nicht mehr da ist. Beschreibt mir genau, was Ihr bei seinem Anblick empfunden habt.«
»Eine Eiseskälte«, antwortete er. »Und das überwältigende Gefühl, dass es mich hasste, was immer es war. Ich bin schon früher gehasst worden, Sephrenia, aber nicht so. Es war unmenschlich.«
»Gut. Es ist etwas Übernatürliches. Davon können wir ausgehen. Was noch?«
»Ich hatte Angst«, gestand er.
»Ihr? Ich dachte, Ihr wüsstet überhaupt nicht, was dieses Wort bedeutet.«
»Und ob ich das weiß!«
Sie dachte nach, wobei sie die Stirn runzelte. »Eure ursprüngliche Theorie stand aber auch auf sehr wackligen Beinen, Sperber. Wäre es denn wirklich logisch, dass Azash Euch von irgendeinem Halunken ermorden lässt, wenn er dann erst seiner habhaft werden muss, um sich den Bhelliom von ihm geben zu lassen?«
»Es wäre wirklich ein wenig umständlich«, musste Sperber zugeben.
»Angenommen, Martel allein hat Perraine unter Druck gesetzt – ohne Annias einzuweihen. Wir müssen dabei natürlich von der Voraussetzung ausgehen, dass es Annias ist, der mit Otha verhandelt, nicht Martel.«
»Ich könnte mir auch gar nicht vorstellen, dass Martel so weit gehen würde, persönliche Verhandlungen mit Otha zu führen.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher, Sperber. Aber nehmen wir einmal an, dass es Martels Idee war, Euch zu töten, nicht die Othas – und auch nicht irgendein verwickelter Plan, den Azash ausbrütete. Das würde das Loch in Eurer Logik stopfen. Der Schatten kann demnach mit Azash zusammenhängen, ohne irgendetwas mit den Anschlägen auf Euch zu tun zu haben.«
»Was treibt er dann?«
»Wahrscheinlich beobachten. Azash möchte wissen, wo Ihr seid, und vor allem, wo der Bhelliom ist. Das würde auch erklären, weshalb Ihr den Schatten fast immer seht, wenn Ihr den Stein aus dem Beutel zieht.«
»Ich habe schon Kopfweh von dieser Grübelei, kleine Mutter. Aber wenn alles nach Dolmants Plan verläuft, werden Martel und Annias uns bald für ein paar Fragen zur Verfügung stehen. Vielleicht erfahren wir genug, dass dieses Grübeln ein Ende hat.«
Oberst Delada, der Kommandant der Leibgarde des Erzprälaten, war ein untersetzter, kräftig gebauter Mann mit kurz geschnittenem rötlichem Haar und furchigem Gesicht. Trotz seines weitgehend zeremoniellen Amtes gab er sich wie ein Krieger. Er trug den brünierten Harnisch, den gehämmerten Rundschild und das traditionelle Kurzschwert seiner Gardeeinheit. Sein knielanges Cape war rot und sein visierloser Helm mit einem Pferdehaarbusch gekrönt. »Sind sie wirklich so groß, Ritter Sperber?«, fragte er, während er neben dem Pandioner vom Flachdach eines an die Mauer angrenzenden Altstadthauses über die rauchenden Ruinen der Neustadt blickte.
»Ich weiß es auch nicht, Oberst Delada«, antwortete Sperber. »Ich habe auch noch nie eines gesehen, im Gegensatz zu Bevier, der mir versicherte, dass sie mindestens so groß wie ein mittleres Haus sind.«
»Und sie können damit wahrhaftig Steine von der Größe eines Ochsen schleudern?«
»So hat man mir berichtet.«
»Wo soll das nur hinführen?«
»Sie nennen es Fortschritt, mein Freund«, sagte Sperber sarkastisch.
»Die Welt wäre ein besserer Ort, würde man alle Wissenschaftler und Techniker aufhängen, Ritter Sperber.«
»Und die Advokaten dazu.«
»Oh ja, die Advokaten auf jeden Fall. Jeder will sämtliche Advokaten hängen.« Delada kniff die Augen zusammen. »Weshalb tut Ihr in meiner Gegenwart eigentlich alle so geheimnisvoll, Sperber?«
»Wir müssen Eure strikte Neutralität schützen, Delada. Ihr werdet etwas sehen – und, wie wir hoffen, auch hören –, was sehr wichtig ist. Später wird man Euch rufen, Zeugnis darüber abzulegen. Dann werden einige Personen mit allen Mitteln versuchen, Eure Aussage in Zweifel zu ziehen.«
»Das sollen sie besser lassen!«, sagte der Oberst hitzig.
Sperber lächelte. »Wenn Ihr zuvor keine Ahnung habt, was Ihr sehen und hören werdet, kann niemand Eure Unparteilichkeit infrage stellen.«
»Ich bin nicht dumm, Sperber, und ich habe Augen. Es hat mit der Wahl zu tun, nicht wahr?«
»Zurzeit hat so gut wie alles in Chyrellos mit der Wahl zu tun, Delada – außer vielleicht die Belagerung da draußen.«
»Und ich würde nicht allzu hoch darauf setzen, dass die Belagerung nicht auch damit zusammenhängt.«
»Das ist eines der Dinge, über die wir besser nicht reden sollten, Oberst.«
»Aha!«, trumpfte Delada auf. »Genau, wie ich dachte!«
Sperber spähte über die Mauer. Das Entscheidende war, die geheime Absprache zwischen Martel und Annias zweifelsfrei zu beweisen. Doch Sperber hatte seine Bedenken. Falls aus dem Gespräch zwischen dem Primas von Cimmura und dem ehemaligen Pandioner Martels Identität nicht hervorging, würde Delada der Hierokratie lediglich von einer höchst verdächtigen Unterhaltung zwischen Annias und einem Fremden berichten können, dessen Name nicht gefallen war. Emban, Dolmant und Ortzel waren jedoch unerbittlich gewesen. Delada durfte auf keinen Fall etwas mitgeteilt werden, was sich auf seine Zeugenaussage auswirken könnte. Besonders Patriarch Emban hatte Sperber enttäuscht. Der fette Kirchenmann war in jeder anderen Beziehung verschlagen und hinterlistig. Warum hatte gerade bei diesem kritischen Punkt sein sittliches Empfinden versagt?
»Es geht los, Sperber!«, rief Kalten von der fackelbeleuchteten Mauer. »Die Rendorer kommen, unsere Hindernisse aus dem Weg zu räumen.«
Das Dach war etwas höher als die Mauer, so konnte Sperber gut über die Befestigungsanlage blicken. Die Rendorer stürmten herbei, heulend wie immer. Ohne auf die erkennbaren Giftflecken an den Stacheln der Igel zu achten, rollten sie die Hindernisse aus dem Weg. Von religiöser Ekstase erfüllt gingen manche sogar so weit, sich unnötigerweise auf die vergifteten Spitzen zu werfen. Bald waren breite Gassen geräumt, und die mächtigen Belagerungstürme rollten durch die immer noch rauchende Neustadt auf die Altstadtmauer zu.
Sperber konnte sehen, dass die Belagerungstürme aus dicken Brettern errichtet waren. Feste Rinderfelle bedeckten sie, die so oft in Wasser getaucht worden waren, dass noch immer wahre Bäche hinabrannen. Es würde keinem Pfeil oder Armbrustbolzen gelingen, durch die Planken zu dringen, und weder siedendes Pech noch Naphtha könnten die triefenden Felle in Brand setzen. Martel begegnete wirkungsvoll jeder ihrer Verteidigungsmaßnahmen.
»Erwartet Ihr tatsächlich, dass es zum Kampf in der Basilika kommt, Ritter Sperber?«, fragte Delada.
»Wir können nur hoffen, dass es uns erspart bleibt, Oberst«, erwiderte Sperber. »Trotzdem ist es besser, darauf vorbereitet zu sein. Ich bin Euch wirklich dankbar, dass Ihr Eure Gardisten im Keller postiert habt – besonders, da ich Euch leider nicht sagen darf, weshalb wir die Männer dort brauchen. Ohne Eure Gardisten hätten wir Soldaten von der Mauer abziehen müssen.«
»Ich hoffe, Ihr wisst, was Ihr tut, Sperber«, sagte der Oberst düster. »Die ganze Abteilung unter den Befehl Eures Knappen zu stellen, hat meinen Unterführer ein wenig verärgert.«
»Es war eine taktische Entscheidung, Oberst. In dem hallenden Keller würden Eure Männer gebrüllte Befehle gar nicht verstehen. Kurik und ich sind schon lange beisammen und haben Möglichkeiten gefunden, mit derartigen Situationen fertig zu werden.«
Delada betrachtete die Belagerungstürme, die schwerfällig über die geräumte Fläche vor der Mauer rollten. »Beeindruckende Ungetüme«, stellte er fest. »Wie viele Männer bringt man in einem dieser Türme unter?«
»Das kommt ganz darauf an, wie sehr man seine Männer schätzt.« Sperber hielt seinen Schild nun vor sich, um die Pfeile abzuwehren, die bereits auf das Dach fielen. »Mehrere Hundert mindestens.«
»Ich bin mit Belagerungstaktiken nicht vertraut«, gestand Delada. »Was geschieht jetzt?«
»Sie rollen die Türme an die Mauer und versuchen zu stürmen. Die Verteidiger ihrerseits versuchen, die Türme umzukippen. Es wird eine Menge Blut fließen.«
»Wann kommen die Palintona ins Spiel?«
»Wahrscheinlich, sobald mehrere Türme fest an der Mauer stehen.«
»Werden sie denn nicht auch ihre eigenen Männer treffen?«
»Die Angreifer in den Belagerungstürmen sind nicht sehr wichtig. Viele sind Rendorer – wie jene, die beim Wegräumen der Hindernisse ihr Leben ließen. Der Befehlshaber dieser Armee ist nicht gerade ein Menschenfreund.«
»Kennt Ihr ihn?«
»Oh ja, sehr gut!«
»Und Ihr wollt ihn töten, nicht wahr?«, fragte Delada.
»Das habe ich schon einige Male in Erwägung gezogen«, gab Sperber zu.
Ein Turm war inzwischen bereits ziemlich nahe an der Mauer, und die Verteidiger, die sich unter dem Hagel von Pfeilen und Armbrustbolzen duckten, warfen Enterhaken an langen Seilen über das Dach des Turms. Dann zogen sie an den Seilen. Der Turm wackelte, schwankte hin und her und kippte schließlich mit ohrenbetäubendem Krachen um. Die Männer im Innern schrien, manche vor Schmerzen, andere vor Schrecken. Sie wussten, was bevorstand. Durch den Sturz waren die Bretter gebrochen, und der Turm lag offen wie ein aufgeschlagenes Ei. Siedendes Pech und Naphtha ergossen sich auf den zerschmetterten Turm und die Männer, die aus ihm hervorkrabbelten, und geworfene Fackeln zündeten die heiße Flüssigkeit an.
Delada schluckte, als die Verzweiflungsschreie der brennenden Menschen vom Fuß der Mauer aufstiegen. »Geschieht das sehr oft?«, fragte er rau.
»Wir hoffen es«, antwortete Sperber düster. »Jeder, den wir außerhalb der Mauer töten, ist einer weniger, der hereingelangt.« Er wirkte einen raschen Zauber und sprach zu Sephrenia, die im Ordenshaus wartete. »Hier ist der Angriff in vollem Gang, kleine Mutter«, meldete er. »Ist schon etwas von Martel zu sehen?«
»Noch nicht, Lieber.« Ihre Stimme schien beinahe in sein Ohr zu flüstern. »Seid vorsichtig, Sperber!«
»Zu wem sprecht Ihr, Ritter Sperber?«, fragte Delada verwundert.
»Ihr seid ziemlich fromm, Oberst, nicht wahr?«
»Ich bin ein Sohn der Kirche, Sperber.«
»Dann wärt Ihr vielleicht bestürzt über meine Antwort. Die Kriegerorden haben die Erlaubnis, gewisse Gebote der elenischen Kirche zu übertreten. Lassen wir es doch dabei bewenden.«
Trotz aller Bemühungen der Verteidiger erreichten mehrere Türme die Mauer, und die Zugbrücken schwangen von den Türmen auf die Zinnen hinab. Ein Turm berührte die Mauer direkt neben dem Tor, doch Sperbers Freunde waren darauf vorbereitet. Mit Tynian an der Spitze stürmten sie über die Zugbrücke in den Turm. Sperber hielt den Atem an, als seine Freunde im Turm verschwanden. Der Lärm, der von dort kam, kündete von der Heftigkeit des Kampfes. Das Klirren und Krachen von Waffen war zu hören, dazu Schreie und Stöhnen. Dann kamen Tynian und Kalten heraus, rannten über die dicken Planken der Zugbrücke und hoben einen großen Kessel mit blubberndem Pech und Naphtha in ihre gepolsterten, stahlgeschützten Arme. Damit wankten sie zurück über die Zugbrücke und verschwanden wieder im Turm. Die Schreie wurden gellender, als sie den Kesselinhalt über die Feinde auf der Leiter im Turm schütteten.
Die Ritter kehrten aus dem Turm zurück. Als Kalten die Mauer erreichte, griff er nach einer Fackel und warf sie zum Turm, der wie eine riesige Fackel aufloderte. Schwarzer Rauch quoll aus der klaffenden Öffnung, die ursprünglich von der Zugbrücke bedeckt gewesen war; dann schlug eine orangefarbene Flamme aus dem Dach. Das qualvolle Geschrei im Turm schwoll an und erstarb ziemlich schnell.
Der Gegenangriff der Ritter entlang der Mauer reichte aus, die erste Welle der Angreifer abzuwehren, doch die Verteidigung der Zinnen hatte viele Opfer gefordert. Im dichten Hagel von Pfeilen und Armbrustbolzen hatten auf der Brustwehr viele Kirchensoldaten und auch Ordensritter ihr Leben gelassen.
»Sie werden wiederkommen, nicht wahr?«, fragte Delada düster.
»Natürlich«, antwortete Sperber knapp. »Jetzt werden erst einmal Katapulte die Mauern bombardieren und weitere Belagerungstürme anrollen.«
»Wie lange können wir durchhalten?«
»Vier, vielleicht fünf solcher Angriffe. Dann werden die Palintona beginnen, die Mauer in Stücke zu schießen. Danach wird die Altstadt zum Schlachtfeld.«
»Wir können gar nicht siegen, oder?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Dann ist Chyrellos verloren?«
»Es war in dem Augenblick verloren, als diese beiden Armeen anrückten, Delada. Die Strategie war wohlüberlegt. Man könnte fast sagen, brillant.«
Berit kam durch die Luke auf das Dach geklettert. Die Augen des Ritteranwärters waren geweitet. Er schüttelte stetig den Kopf. »Ritter Sperber!«, rief er überlaut.
»Ja, Berit?«
»Was habt Ihr gesagt?«
Sperber blickte ihn scharf an. »Was ist los, Berit?«
»Tut mir leid, Ritter Sperber, ich kann Euch nicht hören. Sie haben die Glocken der Basilika geläutet, als der Angriff begann. Und die Glocken hängen in dem Türmchen über der Kuppel. So einen Lärm habt Ihr noch nie gehört!« Berit presste die Hände gegen seine Schläfen.
Sperber fasste ihn bei den Schultern und blickte ihm direkt ins Gesicht. »Was ist los?«, brüllte er und betonte die Worte mit übertriebener Mundbewegung.
»Oh, entschuldigt, Ritter Sperber. Ich bin noch immer ganz durcheinander von den Glocken. Tausende von Fackeln nähern sich von der anderen Seite des Arruk. Ich dachte, ich müsste Euch davon gleich berichten.«
»Verstärkung?«, fragte Delada hoffnungsvoll.
»Ganz sicher«, antwortete Sperber. »Aber für welche Seite?«
Hinter ihnen ertönte ein donnerndes Krachen, und ein ziemlich großes Haus stürzte ein, als ein Felsblock das Dach durchschlug.
»Oh Gott!«, entfuhr es Delada. »Dieser Stein war ungeheuerlich! Einem solchen Bombardement kann die Mauer nicht standhalten.«
»Stimmt«, bestätigte Sperber. »Es wird Zeit, dass wir uns in den Keller begeben, Oberst.«
»Der Gegner schleudert diese Riesensteine früher, als Ihr gedacht habt, Sperber«, bemerkte der Oberst. »Das ist doch ein gutes Zeichen, meint Ihr nicht?«
»Ich fürchte, das verstehe ich nicht ganz.«
»Könnte das nicht bedeuten, dass die Armee aus dem Westen Verstärkung für uns ist?«
»Die Truppen vor der Mauer sind Söldner, Oberst. Es könnte sein, dass sie es eilig haben, in die Altstadt zu gelangen, um die Beute nicht mit ihren Freunden auf der anderen Flussseite teilen zu müssen.«
Das unterste Kellergeschoss der Basilika war ein langes, niedriges Tonnengewölbe aus gewaltigen, sorgfältig geglätteten Steinen; es wurde von wuchtigen Pfeilern getragen: Das Gewicht des gesamten Bauwerks ruhte ausschließlich auf diesen Bogen. Es war dämmrig und sehr klamm im Kellergeschoss, das sich unmittelbar unter der Krypta erstreckte, wo die Gebeine vor langer Zeit entschlafener Kirchenmänner in dunkler Stille allmählich zu Staub zerfielen.
»Kurik!«, zischte Sperber, als er und Delada an dem Gittertor vorbeikamen, das den Keller, in dem Sperbers Knappe und Deladas Gardisten warteten, vom übrigen Geschoss abtrennte.
Kurik kam auf leisen Sohlen zum Gitter.
»Das Bombardement mit den Palintona hat begonnen«, teilte Sperber ihm mit, »und eine große Armee nähert sich von Westen.«
»Du kommst ja mit großartigen Neuigkeiten«, brummte Kurik. »Es ist wirklich nicht sehr schön hier, Sperber. Ketten und Hand- und Fußschellen hängen an den Wänden, und weiter hinten ist eine Kammer, die Bellinas Herz hätte höher schlagen lassen.«
Sperber blickte Delada an.
Der Oberst hüstelte. »Die Folterkammer wird nicht mehr benutzt«, versicherte er ihm. »Es gab eine Zeit, da der Kirche jedes Mittel recht war, Ketzerei auszumerzen. Es wurden hier hochnotpeinliche Befragungen durchgeführt, um Geständnisse zu erzwingen. Das war nicht gerade eines der rühmenswerten Kapitel im Buch der Kirchengeschichte.«
Sperber nickte. »Einige Geschichten darüber drangen an die Öffentlichkeit. Warte hier mit den Gardisten, Kurik. Der Oberst und ich müssen an Ort und Stelle sein, ehe unsere Besucher eintreffen. Wenn ich zum Angriff pfeife, dann zögere nicht, weil ich dich dann wirklich brauche.«
»Habe ich dich je im Stich gelassen, Sperber?«
»Nein, natürlich nicht. Tut mir leid, es war eine überflüssige Bemerkung.« Er führte den Oberst tiefer in das Kellerlabyrinth. »Wir werden uns in einen verhältnismäßig großen Kellerraum begeben, Oberst«, erklärte er. »In der Wand gibt es eine Menge Nischen und Winkel. Der junge Bursche, der sich hier umsah, hat mir alles gezeigt. Er sagt, dass sich die beiden Männer, an denen wir interessiert sind, höchstwahrscheinlich dort treffen werden. Ihr werdet zumindest einen davon kennen. Ich hoffe, dass bei ihrem Gespräch auch der Name des anderen fällt. Bitte achtet genau darauf, was sie reden. Sobald das Gespräch zu Ende ist, möchte ich, dass ihr Euch direkt zu Eurer Unterkunft begebt und die Tür verschließt. Öffnet sie für niemanden, außer für mich, Hochmeister Vanion oder Patriarch Emban. Vielleicht fühlt Ihr Euch besser, wenn ich Euch versichere, dass Ihr für eine Weile die wichtigste Person in Chyrellos sein werdet, für deren Schutz wir ganze Armeen einsetzen.«
»Das ist alles sehr geheimnisvoll, Sperber.«
»Das ist leider vorerst unumgänglich, mein Freund. Ich hoffe, dass Ihr es versteht, sobald Ihr das Gespräch der beiden hört. Hier ist die Tür.« Sperber schob die morsche Tür auf, und die beiden Männer betraten ein großes, dunkles, von Spinnweben durchzogenes Gewölbe. Ein schlichter Tisch und zwei Stühle standen nahe der Tür. Auf dem Tisch befand sich ein dicker Kerzenstumpf auf einem Unterteller mit Sprüngen. Sperber ging voraus zur hinteren Wand und trat in einen tiefen Alkoven. »Nehmt Euren Helm ab«, flüsterte er, »und wickelt Euren Umhang um den Brustharnisch, damit uns kein spiegelnder Lichtschein verraten kann.«
Delada nickte.
»Ich werde jetzt die Kerze ausblasen«, warnte Sperber, »und wir müssen vollkommen still sein. Sollten wir uns dringend etwas mitzuteilen haben, müssen wir es uns so leise wie möglich ins Ohr flüstern.« Er blies die Kerze aus. Dann warteten sie. Irgendwo weit entfernt tropfte Wasser in der Dunkelheit.
Es mochten fünf Minuten vergangen sein – oder eine Stunde oder gar ein Jahrhundert –, als vom hintersten Kellerende ein gedämpftes Klicken zu hören war.
»Soldaten«, hauchte Sperber Delada zu. »Hoffen wir, dass ihr Führer sie nicht alle hereinbringt.«
»Ja, hoffentlich«, wisperte Delada.
Gleich darauf kam ein Vermummter durch die Tür, der mit einer Hand eine brennende Kerze vor Zugluft schützte. Mit ihr zündete er den Kerzenstumpf auf dem Tisch an, dann blies er seine Kerze aus und schlug die Kapuze aus dem Gesicht zurück.
»Ich hätte es mir denken können«, wisperte Delada Sperber zu. »Es ist der Primas von Cimmura!«
»Allerdings, mein Freund. Allerdings.«
Die Soldaten kamen näher. Sie gaben sich Mühe, das Rasseln ihrer Ausrüstung zu vermeiden. »Das ist weit genug«, erklärte eine nur zu gut bekannte Stimme. »Zieht euch ein Stück zurück. Ich rufe, wenn ich euch brauche.«
Nach einer kurzen Pause trat Martel ein. Er hatte seinen Helm unter den Arm geklemmt, und sein weißes Haar schimmerte im Licht der Kerze.
»Nun, Annias«, sagte er gedehnt. »Es war ein guter Versuch, aber das Spiel ist zu Ende.«
»Was redet Ihr da, Martel?«, schnaubte Annias. »Alles verläuft nach Plan!«
»Bis vor einer Stunde.«
»Ihr sprecht in Rätseln, Martel. Sagt schon, was geschehen ist!«
»Eine Armee marschiert aus dem Westen heran, Annias.«
»Die zweite Welle cammorischer Söldner, von der Ihr gesprochen habt?«
»Ich fürchte, diese Söldner wurden inzwischen aufgerieben, Annias.« Martel schnallte seinen Waffengurt ab. »Ich sage es Euch nicht gern, alter Junge, aber es ist Warguns Armee, und sie ist überall, so weit das Auge reicht.«
Sperbers Herz hüpfte vor Freude.
»Wargun?«, rief Annias. »Ihr habt gesagt, Ihr hättet dafür gesorgt, dass er Chyrellos fernbleibt!«
»Das hatte ich auch gedacht, alter Junge, aber irgendwie ist wohl doch jemand zu ihm vorgedrungen.«
»Und seine Armee ist größer als Eure?«
Martel ließ sich auf den Stuhl plumpsen. »Gott, bin ich müde«, gestand er. »Ich habe seit zwei Tagen nicht mehr geschlafen. Was habt Ihr gesagt?«
»Hat Wargun mehr Männer als Ihr?«
»Du lieber Himmel, ja! Er könnte uns in wenigen Stunden aufreiben. Wir sollten wirklich nicht auf ihn warten. Alles, worum ich mir Sorgen machen muss, ist lediglich, wie lange Sperber braucht, mich zu töten. Trotz seines Aussehens ist er im Grund genommen ein sanfter Mensch. Ich bin sicher, er wäre recht schnell mit mir fertig. Perraine hat mich wirklich enttäuscht. Ich dachte, er könnte meinen früheren Bruder endgültig aus dem Weg räumen. Na ja, dann wird eben Ydra für seine Unfähigkeit bezahlen. Wie ich also sagte, Sperber dürfte nicht einmal eine Minute brauchen, mich zu töten. Er ist ein viel besserer Schwertkämpfer als ich. Ihr dagegen müsst Euch weit größere Sorgen machen. Lycheas hat mir erzählt, dass Ehlana Euren Kopf auf einem Tablett serviert haben möchte. Ich habe sie mal flüchtig in Cimmura gesehen, kurz nach dem Tod ihres Vaters, bevor Ihr sie vergiftet habt. Sperber ist sanftmütig, aber Ehlana ist härter als Stein, und sie hasst Euch, Annias. Es könnte leicht sein, dass ihr einfällt, Euch mit eigener Hand den Kopf abzuschlagen. Da sie jedoch ein zierliches Mädchen ist, braucht sie vielleicht einen halben Tag, bis sie Euren dicken Hals durchgesäbelt hat.«
»Aber wir sind dem Ziel so nahe «, rief Annias wütend und enttäuscht zugleich. »Der Erzprälatenthron ist mir so gut wie sicher. Ich brauche nur danach zu greifen!«
»Lasst ihn lieber ganz schnell wieder los. Er ist viel zu schwer, ihn mitzuschleppen, wenn Ihr um Euer Leben rennen müsst. Arissa und Lycheas packen in meinem Zelt bereits ein paar Dinge, aber Ihr werdet zum Packen keine Zeit mehr haben, fürchte ich. Und eines möchte ich gleich klarstellen, Annias. Ich werde nicht auf Euch warten … nie! Wenn Ihr zu langsam seid, lasse ich Euch zurück!«
»Aber einige Sachen muss ich mitnehmen, Martel!«
»Daran zweifle ich nicht. Mir fallen selbst ein paar ein, ohne dass ich lange überlegen muss – Euer Kopf beispielsweise. Und Lycheas sagt, dass der blonde Affe, der bei Sperber ist, der sehr ungesunden Leidenschaft zu frönen begonnen hat, Leute aufzuhängen. Ich kenne Kalten gut genug, um zu wissen, wie unbeholfen er ist. Ganz bestimmt wird er Pfusch machen, und der Ehrengast bei einem stümperhaften Tanz am Henkersseil zu sein, ist nicht meine Vorstellung von einem vergnüglichen Nachmittag.«
»Wie viele Männer habt Ihr in den Keller mitgebracht?« Angst schwang in Annias’ Stimme.
»Etwa hundert.«
»Seid Ihr wahnsinnig? Wir befinden uns mitten in einem Stützpunkt der Ordensritter!«
»Eure Feigheit kommt ans Licht, Annias.« Martels Stimme troff vor Verachtung. »Dieses Aquädukt ist nicht sehr breit. Möchtet Ihr wirklich über tausend bis an die Zähne bewaffnete Söldner klettern, wenn der Augenblick kommt, die Beine in die Hand zu nehmen und zu rennen?«
»Rennen! Wohin könnten wir denn rennen? Wohin könnten wir uns überhaupt begeben?«
»Nach Zemoch natürlich. Otha wird uns beschützen.«
Oberst Delada sog den Atem fast zischend ein.
»Psst!«, mahnte Sperber.
Martel stand auf und begann hin und her zu stapfen. Im Kerzenlicht wirkte sein Gesicht gerötet.
»Vergesst nicht, Annias«, sagte er. »Ihr habt Ehlana Darestim gegeben, und Darestim ist absolut tödlich. Es gibt keine Heilung, und kein gewöhnlicher Zauber könnte die Wirkung aufgehoben haben. Das weiß ich, weil ich selbst von Sephrenia in Magie ausgebildet wurde.«
»Diese styrische Hexe!«, knirschte Annias.
Martel packte ihn am Kragen und hob ihn von seinem Stuhl. »Hütet Eure Zunge, Annias. Beleidigt meine kleine Mutter nicht, oder Ihr würdet Euch wünschen, Sperber hätte Euch erwischt. Wie ich schon sagte, er ist im Grund genommen eine sanfte Seele. Im Gegensatz zu mir. Ich kann Euch so allerlei antun, was Sperber nicht einmal im Traum einfallen würde.«
»Ihr hegt doch gewiss nicht noch irgendwelche Gefühle für sie!«
»Das ist meine Sache, Annias. Hört lieber zu. Wenn nur Magie die Königin geheilt haben kann und gewöhnlicher Zauber nicht gewirkt hätte, was bleibt dann noch übrig?«
»Der Bhelliom?«, riet Annias und strich die Falten glatt, die Martels Faust am Oberteil seines Gewandes gedrückt hatte.
»Genau. Sperber hat ihn irgendwie in die Hände bekommen. Er benutzte ihn, Ehlana zu heilen. Höchstwahrscheinlich trägt er ihn bei sich. Ich werde die Rendorer losschicken, die Brücken über den Arruk zu zerstören. Das müsste Wargun eine Zeit lang aufhalten und Euch und mir Zeit geben, uns in Sicherheit zu bringen. Wir gehen am besten zuerst ein Stück nordwärts, um aus dem Kampfgebiet zu gelangen, und wenden uns dann nach Osten, Richtung Zemoch.« Er grinste freudlos. »Wargun wollte die Rendorer schon immer auslöschen. Wenn ich sie hinaus zu den Brücken schicke, bekommt er die Gelegenheit, und weiß Gott, ich werde ihnen nicht nachtrauern. Meinen übrigen Truppen werde ich befehlen, sich Wargun am Ostufer entgegenzustellen. Sie werden heldenhaften Widerstand leisten – mit viel Glück dauert die Schlacht gute zwei Stunden, ehe Wargun sie alle niedergemetzelt hat. Mehr Zeit bleiben Euch, mir und unseren Freunden nicht, um von hier wegzukommen. Wir können davon ausgehen, dass Sperber uns dicht auf den Fersen bleibt, und es besteht wohl kein Zweifel, dass er den Bhelliom dabeihaben wird.«
»Woher wollt Ihr das alles wissen, Martel? Ihr stellt doch nur Vermutungen an.«
»Mir scheint, Ihr seid all die Jahre in Sperbers Nähe gewesen und kennt ihn immer noch nicht. Ihr seid ein ausgesprochener Idiot, ist Euch das klar? Otha hat seine Truppen in Ostlamorkand zusammengezogen und wird bereits im Lauf der nächsten Tage in Westeosien einmarschieren. Er wird alles in Sichtweite abschlachten – Männer, Frauen, Kinder, Rinder, Hunde, wilde Tiere, sogar Fische. Das zu verhindern, ist die oberste Pflicht der Ordensritter. Das war einer der Gründe, die Kriegerorden ins Leben zu rufen. Sperber ist das Musterbeispiel eines pflichtbewussten, ehrenhaften und unbeugsamen Ordensritters. Ich würde meine Seele dafür geben, ein Mann wie Sperber zu sein. Er besitzt das Einzige, was Otha aufhalten kann. Glaubt Ihr da wirklich, dass irgendetwas auf der Welt ihn daran hindern könnte, den Bhelliom mitzunehmen? Benutzt Euren Verstand, Annias.«
»Was nützt es uns dann, davonzulaufen, wenn wir wissen, dass uns Sperber mit dem Bhelliom auf den Fersen ist? Er wird Otha vernichten und uns mit ihm.«
»Das ist unwahrscheinlich. Sperber ist zwar mächtig, aber er ist kein Gott wie Azash, und Azash ist seit Anbeginn der Zeit auf den Bhelliom versessen. Sperber wird uns verfolgen, und Azash wird ihn erwarten und vernichten, um den Bhelliom an sich zu bringen. Dann wird Otha einmarschieren. Und da wir ihm einen so ungeheuren Dienst erwiesen haben, wird er Euch auf den Erzprälatenthron setzen und mir jenes eosische Königreich geben, das ich mir aussuche – vielleicht sogar alle. Otha hat seinen Machthunger in den letzten tausend Jahren verloren. Ich werde sogar Lycheas als Regenten – oder gar als König – von Elenien einsetzen, wenn Ihr das möchtet, obwohl ich mir beim besten Willen keinen Grund dafür vorstellen kann. Euer Sohn ist ein wehleidiger Schwachkopf, und allein sein Anblick dreht mir den Magen um.«
Sperber fröstelte plötzlich. Er schaute sich um. Obwohl er ihn nicht sehen konnte, wusste er, dass der Schatten, der ihm seit Ghwerigs Tod folgte, irgendwo in diesem Kellerraum war. Konnte es sein, dass er schon auftauchte, wenn nur über den Bhelliom gesprochen wurde?
»Aber wie wollen wir wissen, dass Sperber uns folgen wird?«, fragte Annias. »Er weiß doch nichts von unserer Abmachung mit Otha und hat deshalb nicht die geringste Ahnung, wohin wir wollen.«
»Ihr seid wirklich naiv, Annias.« Martel lachte. »Sephrenia kann ein Gespräch aus fünf Meilen Entfernung belauschen und, wenn sie will, ebenso jeder, der bei ihr ist. Und nicht nur das. Es gibt Hunderte von Stellen in diesem Geschoss, die sich in Hörweite dieses Raumes befinden. Glaubt mir, Annias, auf die eine oder andere Weise belauscht Sperber uns in diesem Augenblick.«
Er machte eine Pause.
»Das stimmt doch, Sperber?«, fügte er hinzu.