15

Martels Frage hing im modrigen Halbdunkel.

»Bleibt hier«, flüsterte Sperber Delada finster zu. Er griff nach seinem Schwert.

»Kommt nicht infrage«, entgegnete der Oberst grimmig. Auch er zog sein Schwert.

Es war wirklich weder der richtige Augenblick noch der richtige Ort für Streitgespräche. »Also gut. Aber seid vorsichtig. Ich nehme Martel, Ihr Annias.«

Sie traten beide aus ihrem Versteck und schritten auf den Tisch mit der flackernden Kerze zu. »Wenn das nicht mein teurer Bruder Sperber ist!«, sagte Martel. »Welch eine Freude, dich wiederzusehen, alter Junge.«

»Dann schau nur schnell, Martel, denn du wirst bald für sehr lange Zeit gar nichts mehr sehen.«

»Ich würde dir ja gern den Gefallen tun, Sperber, aber ich fürchte, wir werden es wieder einmal verschieben müssen. Dringende Geschäfte, das verstehst du doch.« Martel packte Annias bei der Schulter und stieß ihn zur Tür. »Lauft!«, zischte er. Die beiden rannten hinaus, während Sperber und Delada mit der Klinge in der Faust herbeistürmten.

»Bleibt stehen!«, rief Sperber seinem Begleiter zu.

»Sie entkommen, Sperber!«, protestierte Delada.

»Das sind sie bereits«, entgegnete Sperber mit grimmiger Enttäuschung. »Martel hat hundert Mann da draußen. Wir brauchen Euch lebend, Oberst.« Sperber pfiff schrill, während er bereits rasch näher kommende Schritte zahlloser Männer hörte. »Wir müssen die Tür verteidigen, bis Kurik und die Gardisten hier sind.«

Sie stellten sich links und rechts neben der morschen Tür auf. Im letzten Moment trat Sperber ein paar Schritte von dem Bogeneingang in der massiven Steinwand zurück, sodass er gut zu sehen war. Hier hatte sein Schwert volle Bewegungsfreiheit, während die Soldaten wegen der Enge des Eingangs mit ihren Schwertern nicht weit ausholen konnten.

Martels Soldaten erkannten sehr schnell, dass es keine gute Idee gewesen war, sich auf Sperber stürzen zu wollen, wenn er wütend war. Und Sperber war sehr wütend. Die Toten häuften sich vor der Tür, als er seinen Zorn an der hereinquellenden Meute ausließ.

Dann war Kurik mit Deladas Gardisten da, und Martels Männer fielen zurück und verteidigten den Gang, der zur Aquäduktöffnung führte, durch die Martel und Annias bereits verschwunden waren.

»Alles in Ordnung mit Euch?«, erkundigte Kurik sich kurz und blickte durch den Bogeneingang.

»Ja«, versicherte ihm Sperber. Rasch griff er nach Deladas Arm, als der Oberst an ihm vorbei wollte.

»Nein, Oberst. Erinnert Ihr Euch an meine Worte, dass Ihr für eine Weile der wichtigste Mann in Chyrellos sein würdet?«

»Ja«, brummte Delada verdrossen.

»Eure besondere Bedeutung begann vor ein paar Minuten, und ich werde nicht zulassen, dass Ihr Euch in Lebensgefahr begebt, nur weil Euch die Kampflust erfasst hat. Ich bringe Euch jetzt zu Eurer Unterkunft und stelle eine Wache vor Eure Tür.«

Delada stieß sein Schwert in die Scheide zurück. »Ihr habt natürlich recht«, gestand er ein. »Es ist nur, dass …«

»Ich weiß, Delada. Es geht mir nicht anders.«

Nachdem er für die Sicherheit des Obersts gesorgt hatte, kehrte Sperber in den Keller zurück. Die Gardisten unter Kuriks Befehl waren dabei, alle Söldner aufzustöbern, die sich verstecken wollten. Kurik kam durch das fackelerhellte Halbdunkel zurück. »Ich fürchte, Martel und Annias ist die Flucht gelungen, Sperber«, meldete er.

»Er war auf uns vorbereitet, Kurik«, sagte Sperber verdrossen. »Irgendwie wusste er, dass wir entweder hier unten sein würden oder dass wir ihn mit Sephrenias Hilfe belauschen würden. Er hat eine Menge Gutes über mich gesagt.«

»Ach?«

»Vor allem aber, dass die Armee, die sich aus dem Westen nähert, die Warguns ist.«

»Wird auch Zeit, dass er kommt.« Plötzlich grinste Kurik.

»Martel verkündete sogar, was er vorhat. Er will , dass wir ihn verfolgen.«

»Es wird mir ein Bedürfnis sein, ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Haben wir wenigstens bekommen, was wir wollten?«

Sperber nickte. »Sobald Delada mit seinem Bericht fertig ist, wird niemand mehr für Annias stimmen.«

»Das ist wenigstens etwas.«

»Übergib irgendeinem Hauptmann den Befehl über diese Gardisten und begleite mich zu Vanion.«

Die Hochmeister der vier Orden standen auf dem Wehrgang der Mauer nahe dem Tor und blickten verwundert auf die Söldner, die sich zurückzuziehen begannen. »Sie haben plötzlich grundlos den Angriff aufgegeben«, sagte Vanion, als Sperber und Kurik zu ihnen stießen.

»Sie haben durchaus einen Grund«, erklärte ihm Sperber. »Das da drüben jenseits des Flusses ist Warguns Armee.«

»Gott sei Dank!«, rief Vanion. »Ein Kurier muss also doch durchgekommen sein. Wie verlief es im Keller?«

»Oberst Delada hat ein sehr interessantes Gespräch mitgehört. Martel und Annias sind leider entkommen. Sie wollen nach Zemoch fliehen und sich unter Othas Schutz begeben. Martel wird seine Rendorer losschicken, um die Brücken zu zerstören, damit seine Söldner Zeit bekommen, Stellung zu beziehen. Er glaubt nicht, dass sie viel gegen Wargun ausrichten können. Eigentlich hofft er nur, so viel Zeit zu gewinnen, dass er sich in Sicherheit bringen kann.«

»Wir sollten gleich mit Dolmant reden«, meinte Hochmeister Darellon. »Die Lage hat sich ein wenig geändert. Ruft doch Eure Freunde zusammen, Ritter Sperber, dann treffen wir uns alle im Ordenshaus.«

»Gib ihnen bitte Bescheid, Kurik«, wandte Sperber sich an seinen Knappen. »Und sorg für die Verbreitung der guten Neuigkeit, dass König Wargun eingetroffen ist.«

Kurik nickte.

Die Patriarchen waren unendlich erleichtert, als sie von König Warguns Anrücken erfuhren und davon, dass Annias sich selbst belastet hatte. »Der Oberst kann sogar bezeugen, dass Annias und Martel ein Abkommen mit Otha haben«, berichtete Sperber. »Das einzig Bedauerliche an der ganzen Sache ist, dass Annias und Martel entkommen konnten.«

»Wie lange kann es dauern, bis Otha von dieser Wendung hört?«, fragte Patriarch Emban.

»Ich fürchte, wir müssen annehmen, dass Otha umgehend erfährt, was sich hier tut, Eminenz«, antwortete Hochmeister Abriel.

Emban verzog das Gesicht. »Wieder Zauberei, nehme ich an.«

»Wargun wird wohl geraume Zeit brauchen, um sich für einen Marsch gegen die Zemocher zu formieren?«, fragte Dolmant.

»Eine Woche bis zehn Tage, Eminenz«, erwiderte Vanion. »Eine Vorhut beider Armeen kann natürlich eher ausrücken, aber weder die Hauptmacht der einen noch der anderen wird in der Lage sein, vor Ablauf einer Woche aufzubrechen.«

»Wie weit kann eine Armee am Tag marschieren?«, erkundigte sich Emban.

»Zehn Meilen bestenfalls, Eminenz«, antwortete Vanion.

»Das ist absurd, Vanion. Sogar ich schaffe zehn Meilen in vier Stunden, ohne mich anzustrengen.«

Vanion lächelte. »Wenn Ihr allein dahinwandert, Eminenz. Jemand, der spazieren geht, braucht nicht darauf zu achten, ob die Nachhut auch mitkommt, und wenn er sich abends schlafen legen will, genügt es, dass er ein geschütztes Plätzchen unter einem Busch findet und sich in einen Umhang wickelt. Ein Lager für eine Armee aufzuschlagen, benötigt weit mehr Zeit.«

Emban hob sich ächzend aus seinem Sessel und watschelte zu der Karte von Eosien, die an einer Wand von Ritter Nashans Studiergemach hing. Er maß die Entfernung ab und tippte mit einem Finger auf einen Punkt der Karte. »Sie werden ungefähr hier aufeinanderstoßen, auf dieser Ebene nördlich vom Lamorksee. Ortzel, wie ist das Terrain da oben?«

»Ziemlich flach«, erklärte der lamorkische Patriarch. »Hauptsächlich Ackerland mit vereinzelten kleineren Wäldern dazwischen.«

»Emban«, sagte Dolmant ruhig, »warum überlassen wir es nicht König Wargun selbst, die Strategie auszuarbeiten? Wir haben hier unsere eigenen Angelegenheiten zu regeln, wie Ihr wisst.«

Emban lachte ein wenig verlegen. »Ich fürchte, ich bin der geborene Wichtigtuer. Am liebsten möchte ich meine Nase überall reinstecken.« Er verschränkte die Hände nachdenklich im Nacken. »Wir werden hier in Chyrellos alles unter Kontrolle haben, sobald Wargun eintrifft. Ich glaube, ich bin nicht zu optimistisch, wenn ich davon ausgehe, dass Oberst Deladas Aussage die Kandidatur des Primas von Cimmura ein für alle Mal beenden wird. Wie wär’s, wenn wir die Wahl jetzt gleich hinter uns bringen – bevor die Hierokratie Gelegenheit hat, sich zu fassen. Patriarchen sind politische Raubtiere, und wenn sie erst Zeit hatten, über die neue Situation nachzudenken, werden sie bestimmt alle möglichen Chancen wittern. Neue Kandidaten würden uns jetzt gerade noch fehlen. Nutzen wir die Gunst der Stunde. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir ziemlich viele Patriarchen gegen uns aufbrachten, als wir beschlossen, die Neustadt aufzugeben. Wir müssen die Hierokratie überrumpeln, solange sie noch überwältigt vor Dankbarkeit ist. Wir müssen den leeren Thron in der Basilika besetzen, bevor sie Zeit haben, über ihre verlorenen Häuser und dergleichen zu grübeln. Momentan haben wir die Oberhand. Also nutzen wir die Zeit, ehe unsere Unterstützung zu bröckeln beginnt.«

»Ist das alles, woran Ihr je denkt, Emban?«, fragte Dolmant.

»Jemand muss es doch, mein Freund.«

»Wir sollten Wargun jedoch erst in der Stadt haben«, meinte Vanion. »Können wir ihm auf irgendeine Weise helfen?«

»Wir können aus der Altstadt ausrücken, sobald Martels Generale uns den Rücken zuwenden, um sich Warguns Armee zu stellen«, schlug Komier vor. »Dann greifen wir sie von hinten an und setzen ihnen so zu, dass sie sich gezwungen sehen, uns in die Altstadt zurückzujagen. Dadurch werden sie viele Einheiten von der Hauptmacht abziehen müssen, um uns wieder einzuschließen. Das verringert die Kräfte ein wenig, gegen die Wargun zu kämpfen hat.«

»Was ich wirklich tun möchte, wäre, die Brücken über den Arruk zu verteidigen, wenn uns eine Möglichkeit einfiele, wie es sich bewerkstelligen ließe«, sagte Abriel. »Denn Behelfsbrücken zu errichten, wird Wargun Zeit und Männer kosten.«

»Da sehe ich keine Möglichkeit«, sagte Darellon. »Wir haben nicht genügend Männer, die Rendorer vom Ufer fernzuhalten.«

»Wir haben jedoch genügend, um in der Stadt allerlei zu tun«, warf Komier ein. »Wie wär’s, wenn wir zur Mauer zurückkehren und uns ein Bild von der neuen Lage machen? Ich brauche etwas zu tun, um den Geschmack der Belagerung aus dem Mund zu kriegen.«

Als es zu dämmern begann, setzte Nebel ein, denn der Sommer näherte sich seinem Ende, und die beiden Flüsse, die sich vor Chyrellos vereinten, streckten dünne Nebelfühler aus ihrem dunklen Wasser in die kühle Nacht. Die feinen Schleier schlossen sich zunächst zu einem wallenden Dunst zusammen, der das orangefarbene Fackellicht dämpfte, verdichteten sich dann zu grauem Nebel, der weiter entfernte Häuser verdeckte und schließlich schier die Hand vor den Augen verbarg – ein Nebel, wie er in Städten, die an Flüssen lagen, nicht unüblich war.

Unter den Soldaten herrschte Begeisterung über den Einsatz. Natürlich gab es taktische Gründe für den Plan, aber Taktik ist für Generale, die Mannschaftsränge interessierten sich mehr für Vergeltung. Sie hatten das Bombardement durch die Belagerungsmaschinen über sich ergehen lassen müssen; sie hatten rasende Fanatiker abgewehrt, die auf den Sturmleitern heraufgeklettert kamen; sie hatten den Belagerungstürmen gegenübergestanden. Bis jetzt waren sie gezwungen gewesen, alles zu erdulden, was die Belagerer gegen sie warfen. Aber nun bekamen sie ihre Chance, einige Rechnungen zu begleichen und den Feind nicht ungerupft davonkommen zu lassen. So marschierten sie in grimmiger Erwartung aus der Altstadt.

Viele von Martels Söldnern hatten sich ihm begeistert angeschlossen, als die Aussicht auf Brandschatzen, Schänden und fast gefahrlose Angriffe auf schlecht verteidigte Mauern bestand. Ihre Begeisterung ließ jedoch bei der Vorstellung stark nach, gegen haushoch überlegene Streitkräfte auf freiem Feld kämpfen zu müssen. Da wurden sie plötzlich zu ganz friedliebenden Menschen und schlichen durch die nebligen Straßen auf der Suche nach Winkeln, wo ihre neuen, friedvollen Gefühle nicht verletzt würden. Der Ausfall aus der Altstadt kam als große Überraschung und noch größere Enttäuschung für diese Männer, die nun geradezu darauf erpicht waren, ein Leben frei von jeglichem Kampf zu führen.

Der Nebel half natürlich sehr. Die Verteidiger der Altstadt brauchten sich nur auf die Männer zu stürzen, die weder die Rüstung der Ordensritter, noch die roten Röcke der Kirchensoldaten trugen. Die Fackeln, welche diese neugeborenen Pazifisten trugen, machten sie zu leichten Zielscheiben für Kuriks inzwischen geübte Armbrustschützen.

Da Pferdehufe auf Straßenpflaster zu laut waren, bewegten sich die Ordensritter zu Fuß durch die Neustadt. Nach einer Weile gesellte Sperber sich zu Vanion. »Wir machen hier nichts anderes, als Deserteure aufzusammeln«, erklärte er seinem Hochmeister.

»Nicht nur, Sperber«, widersprach Vanion. »Die Kirchensoldaten mussten eine Belagerung durchstehen, und so etwas schlägt sich aufs Gemüt. Geben wir unseren etwas zweifelhaften Verbündeten die Chance auf ein bisschen Vergeltung, bevor wir sie wieder unter den Befehl der Patriarchen stellen.«

Sperber nickte bestätigend, dann schritten er, Kalten und Kurik los, um die Führung zu übernehmen.

Eine schattenhafte Gestalt mit einer Axt erschien auf einer von Fackeln beleuchteten Kreuzung. Die Umrisse verrieten, dass sie weder Rüstung noch den Rock eines Kirchensoldaten trug. Kurik hob seine Armbrust und zielte. Im letzten Moment riss er die Waffe hoch, und der Bolzen sirrte himmelwärts.

»Was ist los?«, zischte Kalten.

»Es ist Berit!«, quetschte Kurik zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich kenne die Art, wie er beim Gehen die Schultern bewegt.«

»Ritter Sperber?«, rief der Novize in die Dunkelheit. »Seid Ihr da unten?«

»Ja.«

»Gott sei Dank! Ich glaube, ich habe Euch bereits in jeder ausgebrannten Gasse der Neustadt gesucht.«

Kurik schlug mit der Faust gegen eine Wand.

»Du kannst ihn später zur Rede stellen«, sagte Sperber. »Jetzt habt Ihr mich gefunden, Berit. Was kann so wichtig sein, dass Ihr Euer Leben aufs Spiel setzt, um mir davon zu berichten?«

Berit kam auf sie zu. »Die Rendorer sammeln sich offenbar nahe dem Westtor, Ritter Sperber. Es sind Tausende.«

»Was machen sie?«

»Ich glaube, sie beten. Zumindest ist es eine Art Zeremonie. Ein hagerer, bärtiger Kerl steht auf einem Schutthaufen und schwingt feurige Reden.«

»Konntet Ihr irgendetwas von dem verstehen, was er sagte?«

»Nicht viel, Ritter Sperber, aber ein Wort rief er ziemlich oft, und die anderen wiederholten es jedes Mal lautstark.«

»Was war das für ein Wort?«, fragte Kurik.

»Widderhorn, wenn ich mich nicht täusche, Kurik.«

Sperber nickte. »Hat ganz den Anschein, als hätte Martel Ulesim mitgenommen, um die Rendorer bei der Stange zu halten.«

Berit blickte ihn fragend an. »Wer ist Ulesim, Ritter Sperber?«

»Der gegenwärtige Religionsführer der Rendorer. Und es gibt ein Widderhorn, das als eine Art Amtssymbol angesehen wird.« Er überlegte. »Die Rendorer sitzen lediglich herum und hören sich Predigten an?«, fragte er den Ritteranwärter.

»Wenn Ihr das ganze Geschrei Predigt nennen wollt, ja.«

»Kehren wir um und sprechen mit Vanion«, schlug Sperber vor. »Das könnte alles recht nützlich für uns sein.«

Die Hochmeister waren nicht weit hinter ihnen. »Ich glaube, wir haben Glück, meine Herren«, erklärte Sperber. »Berit ist auf den Straßen herumgewandert und hat gesehen, dass die Rendorer sich in der Nähe des Westtors versammelt haben, wo sie von ihrem Führer zu neuer Raserei aufgepeitscht werden.«

»Ihr habt tatsächlich einen Novizen allein in der Neustadt herumspazieren lassen, Ritter Sperber?«, fragte Abriel missbilligend.

»Kurik wird ihn später noch zur Rede stellen, Hochmeister.«

»Wie heißt dieser Führer doch gleich?«, fragte Vanion.

»Ulesim. Ich habe ihn in Rendor kennengelernt. Er ist ein ausgesprochener Idiot.«

»Was würden die Rendorer tun, wenn ihm etwas zustieße?«

»Sie würden kopflos herumirren. Martel wollte, dass sie die Brücken zerstören. Offensichtlich haben sie damit noch nicht angefangen. Rendorer brauchen eine Menge Ansporn und genaue Anweisungen, bevor sie irgendwas tun. Jedenfalls halten sie ihren Religionsführer für einen Halbgott. Ohne seinen ausdrücklichen Befehl werden sie gar nichts unternehmen.«

»Das könnte unsere Brücken retten, Abriel«, sagte Vanion. »Wenn diesem Ulesim etwas passierte, würden die Rendorer vielleicht vergessen, was sie tun sollten. Rufen wir doch unsere Truppen und statten ihnen einen Besuch ab.«

»Keine gute Idee«, sagte Kurik knapp. »Verzeiht, Hochmeister Vanion. Aber wenn wir in voller Stärke gegen die Rendorer marschieren, kämpfen sie bis zum letzten Atemzug, um ihren heiligen Mann zu verteidigen. Wir würden dadurch nur den unnötigen Tod einer Menge Männer herbeiführen.«

»Seht Ihr eine andere Möglichkeit?«

Kurik tätschelte seine Armbrust. »Oh ja«, sagte er zuversichtlich. »Berit hat gemeldet, dass Ulesim seinen Leuten eine Rede hält. Und jemand, der zu einer großen Menschenmenge spricht, steht gewöhnlich auf irgendetwas, um sie zu überragen. Wenn ich auf wenigstens zweihundert Schritte an ihn herankomme …« Kurik ließ den Rest seines Satzes in der Luft hängen.

»Sperber«, entschied Vanion, »nehmt Eure Freunde mit und gebt Kurik Deckung. Schleicht durch die Stadt und bringt ihn und seine Armbrust nahe genug an Ulesim heran, dass er ihn treffen kann. Wenn diese rendorischen Fanatiker alle durchdrehen und die Brücken nicht zerstören, kann Wargun den Fluss überqueren, ehe die anderen Söldner für ihn bereit sind. Söldner sind die vernünftigsten Soldaten der Welt. Sie lassen jede Begeisterung für hoffnungslose Schlachten vermissen.«

»Ihr glaubt, sie werden aufgeben?«, fragte Darellon.

»Es kann nicht falsch sein, es herauszufinden«, antwortete Vanion. »Eine friedliche Lösung kann vielen Männern auf beiden Seiten das Leben erhalten, und ich bin mir sicher, dass wir jeden Mann – selbst die Rendorer – brauchen werden, wenn wir Otha gegenüberstehen.«

Abriel lachte plötzlich. »Ich frage mich, was Gott sich dabei denkt, wenn seine Kirche von eshandistischen Häretikern verteidigt wird.«

»Gott ist nachsichtig.« Komier grinste. »Vielleicht vergibt er ihnen sogar – ein wenig.«

Die vier Ritter, begleitet von Berit und Kurik, schlichen durch Chyrellos’ Straßen zum Westtor. Ein leichter Wind war aufgekommen, und der Nebel löste sich rasch auf. Sie erreichten einen großen, vom Feuer regelrecht gerodeten Platz nahe dem Westtor, wo sie Tausende schwerbewaffnete Rendorer dicht gedrängt um einen Schutthaufen vorfanden. Auf dem Schutt stand eine wohlbekannte Gestalt.

»Ja, das ist er«, flüsterte Sperber seinen Kameraden zu, als sie sich in die Ruinen eines ausgebrannten Hauses zurückzogen. »Dort steht er in all seiner Glorie – Ulesim, der Lieblingsjünger des Heiligen Arasham.«

»Der was?«, fragte Kalten.

»So nannte er sich unten in Rendor. Es ist ein Titel, den er sich selbst gegeben hat. Ich nehme an, er wollte Arasham die Mühe abnehmen, jemanden zu erwählen.«

Ulesim befand sich in einem Zustand, der an Hysterie grenzte, und seine feurige Rede ergab nicht viel Sinn. Er hatte einen knochigen Arm in die Luft gestreckt. Mit der anderen Hand hielt er etwas fest umklammert. Nach ungefähr jedem fünfzehnten Wort schüttelte er heftig das Ding in seiner Hand und brüllte: »Widderhorn!« Daraufhin brüllten seine Anhänger »Widderhorn!« zurück.

»Was meinst du, Kurik?«, flüsterte Sperber, während sie alle über eine halb eingefallene Mauer lugten.

»Dass er wahnsinnig ist.«

»Natürlich ist er wahnsinnig, aber ist er auch in Schussweite?«

Kurik blinzelte über die Köpfe der Menge hinweg zu dem herumfuchtelnden, schwafelnden Fanatiker. »Es ist ziemlich weit«, antwortete er zögernd.

»Versuch es trotzdem«, forderte Kalten ihn auf. »Falls dein Bolzen nicht weit genug fliegt – oder etwa gar zu weit –, wird ihn bestimmt ein gläubiger Rendorer für dich auffangen.«

Kurik stützte die Armbrust auf den Mauerrest und zielte sorgfältig.

»Gott hat es mir offenbart!«, kreischte Ulesim. »Wir müssen die Brücken zerstören, die das Werk des Bösen sind! Die Mächte der Finsternis jenseits des Flusses werden euch angreifen, aber Widderhorn wird euch schützen! Die Macht des Heiligen Eshand hat sich mit der des Heiligen Arasham vereint, um den Talisman mit unirdischer Kraft zu füllen! Widderhorn wird euch den Sieg geben!«

Kurik drückte langsam den Abzug seiner Armbrust. Der dicke Bogen gab ein tiefes Twäng von sich, als er den Bolzen zu seinem Ziel schoss.

»Ihr seid unbesiegbar!«, schrillte Ulesim. »Ihr seid …«

Was immer sie sonst noch waren, sollten sie nie erfahren. Die Fiederung eines Armbrustbolzens ragte plötzlich über den Augenbrauen aus Ulesims Stirn. Er erstarrte mit weit aufgerissenen Augen und plötzlich klaffendem Mund. Dann sackte er auf dem Schutthaufen zusammen.

»Großartiger Schuss!«, beglückwünschte Tynian Kurik.

»Eigentlich habe ich ja versucht, ihm in den Bauch zu schießen«, gestand Kurik.

Der Deiraner lachte. »So ist es wesentlich wirkungsvoller.« Ein entsetztes Stöhnen breitete sich unter den Rendorern aus.

Dann flog das Wort »Armbrust« durch die Menge. Einige Bedauerliche hatten eine solche Waffe auf die eine oder andere Weise von Lamorkern bekommen. Sie wurden auf der Stelle von ihren aufgebrachten Kameraden in Stücke gerissen. Viele der schwarz gekleideten Männer aus dem Süden rannten heulend durch die Straßen und zerrissen ihre Gewänder. Andere sanken auf den Boden und weinten verzweifelt. Wieder andere standen still und starrten wie gelähmt auf die Stelle, von der aus Ulesim eben noch zu ihnen geredet hatte.

Wie Sperber bemerkte, kam es auch umgehend zu politischen Streitgesprächen. Es gab so manche in der Menge, die der Meinung waren, dass sie ein Recht auf das soeben frei gewordene Amt hatten, und sie unternahmen sofort Schritte, ihre Erhebung zu propagieren. Anhänger des einen oder anderen Kandidaten ergriffen Partei, und alsbald war die gewaltige Menschenmenge in tumultartigem Aufruhr.

»Bei politischen Diskussionen unter Rendorern geht es ziemlich hitzig zu, nicht wahr?«, bemerkte Tynian mild.

»Das ist mir auch aufgefallen«, stimmte Sperber zu. »Kommt, melden wir den Hochmeistern Ulesims Unfall.«

Da die Rendorer sich in ihrer Streitbarkeit jetzt ganz und gar nicht für Brücken, Widderhörner oder die bevorstehende Schlacht interessierten, sahen die Offiziere von Martels Armee ein, dass sie nicht die geringste Chance gegen die Flut von Soldaten auf der anderen Flussseite hatten. Da Söldner die realistischsten aller Soldaten sind, ritt alsbald ein beachtlicher Trupp Offiziere unter einer weißen Fahne über die Brücke.

Kurz vor Morgengrauen kehrten sie zurück. Die Söldnerkommandanten besprachen sich kurze Zeit, dann formierten sie ihre Truppen und marschierten, die hitzigen Rendorer vor sich herschiebend, aus Chyrellos und ergaben sich.

Sperber und die anderen versammelten sich auf der Mauer der Neustadt, direkt neben dem offenen Westtor, als die Könige von Westeosien feierlich über die Brücke ritten, um die Heilige Stadt zu betreten. König Wargun trabte, flankiert von Patriarch Bergsten in Kettenrüstung, König Dregos von Arzium, König Soros von Pelosien und dem greisen König Obler, an der Spitze der Kolonne. Unmittelbar hinter ihnen folgte eine prächtige offene Kalesche. Vier Personen saßen darin. Sie hatten die Kapuzen ins Gesicht gezogen, doch die Statur einer dieser Personen sandte einen Schauder durch Sperber. Sie hatten doch gewiss nicht … Und da, offenbar auf einen Befehl der schlanksten Gestalt, schoben die vier ihre Kapuzen zurück. Der Fette war Platime, Stragen der zweite. Die dritte war eine Frau, die Sperber nicht kannte, und die vierte, schlank und blond und wunderschön, war Ehlana, die Königin von Elenien.