Es war kalt im Zimmer. Die Hitze der Wüste verflüchtigte sich bei Sonnenuntergang, und gegen Morgen breitete sich trockene Kälte aus. Sperber stand am Fenster, als die samtige Nacht vom Himmel floh und die Schatten auf den Straßen sich in Gebäudewinkel und Eingänge zurückzogen, um einem blassen Grau zu weichen.
Da trat die erste Gestalt mit einem Tonkrug aus einer dämmrigen Gasse. Sie hatte die Kapuze ihres schwarzen Gewandes in die Stirn gezogen, und ein schwarzer Schleier bedeckte die untere Hälfte ihres Gesichts. Sie schritt mit einer solchen Anmut durch das bleiche Licht, dass Sperbers Herz sich verkrampfte. Dann folgten weitere. Eine nach der anderen traten sie aus Eingängen und Gassen und schlossen sich dem stummen Zug an, und jede folgte mit ihrem Tonkrug auf der Schulter einem uralten Ritual, das zur Gewohnheit geworden war. Wie immer auch die Männer ihren Tag begannen, die Frauen fingen ihn damit an, dass sie sich zum Brunnen begaben.
Lillias rührte sich. »Makhra«, sagte sie mit schlaftrunkener Stimme, »komm wieder ins Bett.«
Selbst über dem unaufhörlichen Muhen der halbwilden Kühe konnte er die Glocken in der Ferne hören. Die Religion dieses Königreichs missbilligte Glocken, deshalb wusste Sperber, dass das Läuten von einer Stätte erklang, an dem Angehörige seines eigenen Glaubens zusammenkamen. Es gab keinen anderen Ort, zu dem er sich sonst hätte begeben können, darum schleppte er sich auf dieses Läuten zu.
Der Griff seines Schwertes war klebrig von Blut, und die Waffe erschien ihm nun unsagbar schwer. Er hätte sich gern von dieser Last befreit. Es wäre so einfach, sie den Fingern entgleiten und in der nach Dung riechenden Dunkelheit zurückzulassen.
Doch ein wahrer Ritter überließ sein Schwert nur dem Tod, und so krampfte Sperber grimmig die Hand um den Schwertgriff und taumelte weiter auf die Glocken zu. Ihm war kalt, und das Blut, das aus seinen Wunden floss, fühlte sich warm an, fast angenehm. So stolperte er durch die kalte Nacht, in der nur das Blut ihn wärmte, das aus seiner Seite strömte.
»Sperber!«, erklang Kuriks Stimme, und die Hand, die seine Schulter schüttelte, war unerbittlich. »Sperber, wach auf! Du hast wieder einen Albtraum!«
Sperber schlug die Augen auf. Er war schweißgebadet. »Der gleiche?«, fragte Kurik.
Sperber nickte.
»Vielleicht bist du davon befreit, wenn du Martel endlich getötet hast.«
Sperber setzte sich im Bett auf.
Kurik hatte das Gesicht zu einem breiten Grinsen verzogen. »Ich dachte, diesmal wäre es ein anderer Traum. Schließlich ist heute dein Hochzeitstag. Bräutigame haben in der Nacht vor der Trauung fast immer schlimme Träume. Das ist schon so was wie Tradition.«
»Hast du denn in der Nacht, bevor du Aslade geheiratet hast, auch schlecht geträumt?«
»Oh ja!« Kurik lachte. »Irgendwas verfolgte mich, und ich musste unbedingt an die Küste, um mich auf ein Schiff zu retten. Das Problem war nur, dass das Meer immer weiter zurückwich. – Möchtest du gleich frühstücken oder erst, wenn du gebadet hast und ich dich rasiert habe?«
»Ich kann mich selbst rasieren.«
»Das wäre gerade heute keine gute Idee. Streck die Hand aus.«
Sperber hielt ihm die Rechte vors Gesicht. Sie zitterte.
»Nein, heute solltest du dich wirklich nicht selber rasieren. Betrachten wir es als Hochzeitsgeschenk für die Königin. Ich werde dich in eurer Hochzeitsnacht schon nicht mit zerschnittenem Gesicht in euer Bett steigen lassen.«
»Wie spät ist es?«
»Etwa eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang. Steh auf, Sperber. Du hast einen ausgefüllten Tag vor dir. Ach, übrigens, Ehlana hat dir ein Geschenk geschickt, gestern Nacht, nachdem du bereits eingeschlafen warst.«
»Du hättest mich wecken sollen.«
»Warum? Im Bett könntest du es sowieso nicht tragen.«
»Was ist es denn?«
»Deine Krone.«
»Meine was? «
»Krone. Eine Art Hut. Als Schutz vor Wind und Wetter allerdings nicht sehr geeignet.«
»Wo hat sie diese Krone her?«
»Sie hat sie für dich anfertigen lassen, gleich nachdem du von Cimmura abgereist warst. Und sie hat sie mit hierher genommen – so, wie ein Angler stets eine Schnur und einen Haken irgendwo in einer Tasche hat. Ich nehme an, deine Braut wollte für den Fall eines Falles nicht unvorbereitet sein. Sie möchte, dass ich deine Krone bei der heutigen Zeremonie auf einem Samtkissen trage. Sobald ihr getraut seid, wird sie dir die Krone aufs Haupt drücken.«
»Idiotisch!«, schnaubte Sperber und schwang die Beine aus dem Bett.
»Möglich, aber du wirst schon noch dahinterkommen, dass Frauen die Welt mit anderen Augen sehen als wir. Das macht das Leben interessant, Prinzgemahl! Also, wie sieht’s aus? Frühstück oder Bad?«
Sie kamen an diesem Morgen im Ordenshaus zusammen, da in der Basilika ein ziemliches Durcheinander herrschte. Dolmant nahm tiefgreifende personelle Änderungen vor, und die Geistlichkeit rannte herum wie Ameisen, in deren Haufen man herumgestochert hat. Der hünenhafte Patriarch Bergsten, immer noch in Kettenhemd und dem Helm mit Ogerhörnern angetan, grinste, als er Ritter Nashans Studiergemach betrat und seine Streitaxt in die Ecke stellte.
»Wo ist Emban?«, fragte ihn König Wargun. »Und Ortzel?«
»Sie sind damit beschäftigt, Leute zu entlassen. Sarathi räumt gründlich auf. Emban hat eine Liste von politisch Unzuverlässigen aufgestellt. Die Zahl der Mönche in einigen Klöstern schwillt rapide an.«
»Makova?«, fragte Tynian.
»War einer der ersten dieser Mönche.«
»Wer ist der Erste Sekretär?«, fragte König Dregos.
»Wer wohl? Emban natürlich. Und Ortzel ist der neue Rector der theologischen Hochschule. Wahrscheinlich ist er wirklich am besten dafür geeignet.«
»Und Ihr?«, fragte Wargun.
»Sarathi hat mir ein ganz bestimmtes Amt übertragen«, antwortete Bergsten. »Wir haben nur noch keinen Namen dafür gewählt.« Er blickte die Hochmeister der Ritterorden seltsam streng an. »Seit viel zu langer Zeit herrschen Meinungsverschiedenheiten unter den einzelnen Ritterorden«, sagte er. »Sarathi hat mich beauftragt, damit Schluss zu machen.« Er zog die buschigen Brauen drohend zusammen. »Ich hoffe, wir verstehen uns, meine Herren.«
Die Ordensoberen blickten einander beunruhigt an.
»Und wie sieht es bei Euch aus?«, fuhr Bergsten fort. »Habt Ihr bereits irgendwelche Entscheidungen getroffen?«
»Wir diskutieren noch, Eminenz«, antwortete Vanion. Aus irgendeinem Grund war sein Gesicht heute fahlgrau; er bot nicht gerade das Bild blühender Gesundheit. Sperber vergaß manchmal, dass Vanion bedeutend älter war, als er aussah. »Sperber hält an seinem selbstmörderischen Plan fest, und uns sind bisher keine überzeugenden Alternativen eingefallen. Die übrigen Ordensritter werden morgen aufbrechen, um verschiedene Festungen und Burgen in Lamorkand zu besetzen, und die Armee wird folgen, sobald die nötigen Vorbereitungen getroffen sind.«
Bergsten nickte. »Wie sieht Euer Plan aus, Sperber?«
»Ich will Azash vernichten, Martel, Otha und Annias töten und dann nach Haus zurückkehren, Eminenz.«
»Wenn’s mehr nicht ist«, sagte Bergsten trocken. »Einzelheiten, Mann! Was sind Eure nächsten Schritte? Ich muss Sarathi Bericht erstatten.«
»Jawohl, Eminenz. Es ist uns allen klar, dass wir keine Chance haben, Martel und seine Gruppe einzuholen, bevor sie Zemoch erreicht haben. Er hat bereits einen Vorsprung von drei Tagen, wenn wir den heutigen Tag mitrechnen. Martel nimmt keine Rücksicht auf seine Reittiere, und er hat guten Grund, uns auf Distanz zu halten.«
»Habt Ihr vor, ihm zu folgen, oder wollt Ihr direkt zur zemochischen Grenze reiten?«
Sperber lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Das ist noch die Frage, Eminenz«, antwortete er bedacht. »Ich möchte natürlich Martel erwischen, aber mein Hauptziel ist, die Stadt Zemoch zu erreichen, bevor es in Mittellamorkand zum Krieg kommt. Ich habe mich noch einmal mit Krager unterhalten. Er sagte, dass Martel beabsichtigt, nach Norden zu reiten und dann irgendwo in Pelosien die Grenze nach Zemoch zu überqueren. Ich möchte mehr oder weniger dasselbe tun, also folge ich ihm – doch nicht den ganzen Weg. Jedenfalls werde ich nicht meine Zeit damit vergeuden, durch ganz Nordpelosien hinter Martel herzujagen. Ich habe Martels Spiel mitgespielt, seit ich aus Rendor zurückgekehrt bin. Damit ist jetzt Schluss.«
»Und wie wollt Ihr den Massen von Zemochern in Ostpelosien aus dem Weg gehen?«
»Dieses Problem kann ich lösen, Eminenz«, warf Kring ein. »Es gibt einen Pass, der ins Landesinnere führt. Offenbar kennen die Zemocher ihn nicht. Meine Reiter und ich benutzen ihn schon seit Jahren – jedes Mal, wenn Ohren entlang der Grenze rar werden.« Er hielt abrupt inne und blickte bestürzt auf König Soros. Der Monarch von Pelosien war jedoch eifrig mit Beten beschäftigt und schien des Domis unbeabsichtigtes Geständnis gar nicht gehört zu haben.
»Das wäre auch schon so ziemlich alles, Eminenz«, schloss Sperber. »Niemand weiß mit Gewissheit, was in Zemoch vorgeht. Wir werden improvisieren müssen, wenn wir dort ankommen.«
»Wie viele werdet Ihr sein?«, fragte Bergsten.
»Die übliche Gruppe. Fünf Ritter, Kurik, Berit und Sephrenia.«
»Was ist mit mir?«, wandte Talen ein.
»Du kehrst nach Cimmura zurück, junger Mann«, erklärte Sephrenia. »Ehlana kann dich im Auge behalten. Du wirst im Schloss bleiben, bis wir zurück sind.«
»Das ist ungerecht!«
»Das Leben ist voller Ungerechtigkeit, Talen. Sperber und dein Vater haben Pläne mit dir. Sie haben nicht die Absicht, das Risiko einzugehen, dass du getötet wirst, ehe sie die Gelegenheit hatten, diese Pläne in die Tat umzusetzen.«
»Kann ich bei der Kirche um Asyl ersuchen, Eminenz?«, fragte Talen Bergsten rasch.
»Ich fürchte nein«, antwortete der Patriarch.
»Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie sehr ich von unserer Heiligen Mutter enttäuscht bin, Eminenz«, schmollte Talen. »Und deshalb werde ich mein Vorhaben aufgeben, in den Dienst der Kirche zu treten!«
»Gott sei Dank«, murmelte Bergsten.
»Amen«, setzte Abriel hinzu.
»Würdet Ihr mich bitte entschuldigen?«, fragte Talen verstimmt.
»Nein.« Das war Berit, der mit verschränkten Armen bei der Tür saß. Er streckte ein Bein aus, um Talen den Weg zu versperren.
Talen lehnte sich zurück und machte ein beleidigtes Gesicht.
Im weiteren Verlauf der Besprechung ging es um die Verteilung der Truppen in den verschiedenen Festungen und Burgen in Mittellamorkand – eine Aufgabe, mit der Sperber und seine Freunde nichts zu tun hatten. So schweifte des Bräutigams Aufmerksamkeit ab. Er saß nur da und starrte blicklos zu Boden.
»Freund Sperber, hättet Ihr einen Augenblick Zeit für mich?«, fragte Kring, als sie Nashans Studiergemach schließlich verließen.
Sperber nickte und führte den narbigen Stammeshäuptling der Peloi in eine kleine Kapelle in der Nähe. Beide beugten flüchtig das Knie vor dem Altar und setzten sich dann auf eine der polierten Kirchenbänke in den vorderen Reihen. »Was gibt es, Kring?«, fragte Sperber.
»Ich bin ein einfacher Mann, Freund Sperber«, begann Kring, »deshalb komme ich gleich zur Sache. Ich bin sehr von dieser großen schönen Frau eingenommen, die die Königin von Elenien beschützt.«
»Ich dachte mir so etwas Ähnliches.«
»Meint Ihr, ich hätte eine Chance bei ihr?« Krings Augen leuchteten.
»Das weiß ich nicht, mein Freund«, antwortete Sperber. »Ich kenne Mirtai kaum.«
»Ist das ihr Name? Mirtai – das klingt hübsch, nicht wahr? Alles an ihr ist vollkommen. Ist sie verheiratet?«
»Ich glaube nicht.«
»Gut. Es ist immer ziemlich unangenehm, einer Frau den Hof zu machen, wenn man zuerst ihren Mann töten muss. Das ist kein guter Anfang.«
»Ihr solltet wissen, dass Mirtai keine Elenierin ist, Kring, sondern eine Tamulerin. Ihre Kultur – und Religion – sind nicht wie unsere. Habt Ihr ehrenhafte Absichten?«
»Natürlich! Diese Frau würde ich niemals beleidigen!«
»Gott sei Dank. Sonst würde sie Euch wahrscheinlich töten.«
»Töten?« Kring blinzelte erstaunt.
»Sie ist eine Kriegerin, Kring. Sie ist nicht wie die Frauen, denen Ihr bisher begegnet seid.«
»Frauen können keine Krieger sein!«
»Elenische Frauen nicht. Aber wie ich schon sagte, Mirtai ist eine Atan-Tamulerin. Ein äußerst kriegerisches Volk. Wie ich gehört habe, hat Mirtai bereits zehn Männer getötet.«
»Zehn?« Kring schluckte schwer. »Das wird Probleme machen, Sperber.« Er straffte die Schultern. »Aber vielleicht kann ich ihr beibringen, sich fraulicher zu benehmen, wenn wir erst verheiratet sind.«
»Darauf würde ich nicht setzen, mein Freund. Wenn von euch jemand dem anderen etwas beibringen wird, dann eher sie Euch . Ich kann Euch nur raten, die Finger von Mirtai zu lassen. Ich mag Euch, und ich hätte es gar nicht gern, wenn Ihr getötet würdet.«
»Ich muss darüber nachdenken, Sperber«, meinte Kring. »Trotzdem möchte ich Euch bitten, mein Olma zu sein.«
»Ich kenne dieses Wort nicht.«
»Es bedeutet Fürbitter. Er spricht mit der Erwählten – und ihrem Vater sowie ihren Brüdern. Ihr müsstet damit anfangen, ihr zu versichern, wie sehr ich ihr zugetan bin. Dann erzählt Ihr, was für ein guter Mann ich bin – das Übliche eben, Ihr versteht schon –, was für ein großer Häuptling ich bin, wie viele Pferde ich habe, wie viele Ohren ich erobert habe und was für ein mächtiger Krieger ich bin.«
»Letzteres dürfte sie beeindrucken.«
»Es ist die reine Wahrheit. Ich bin der Beste! Während wir nach Zemoch reiten, werde ich genug Zeit haben, eingehend darüber nachzudenken. Sagt es ihr jedoch bitte, bevor wir aufbrechen – damit auch sie Zeit hat, es sich zu überlegen. Oh, das hätte ich beinahe vergessen. Ihr könnt ihr auch sagen, dass ich ein Poet bin. Das beeindruckt Frauen normalerweise.«
»Ich werde mein Bestes tun, Domi«, versprach Sperber.
Mirtais Reaktion jedoch war nicht sehr vielversprechend, als Sperber am Spätnachmittag das Thema zur Sprache brachte. »Dieser kleine Kahlkopf mit den O-Beinen?«, fragte sie ungläubig. »Der mit den vielen Narben im Gesicht?« Sie ließ sich in einen Sessel plumpsen und krümmte sich vor Lachen.
»Na ja«, murmelte Sperber philosophisch, als er ging. »Versucht habe ich es.«
Seine eigene bevorstehende Hochzeit würde ziemlich unkonventionell werden. Es gab in Chyrellos keine elenischen Edeldamen, die Ehlanas Brautjungfern hätten sein können. Die einzigen Frauen, die ihr wirklich nahestanden, waren Sephrenia und Mirtai. Ehlana bestand auf ihrer Anwesenheit, was bei bestimmten Kirchenmännern auf Unwillen stieß. Selbst der weltliche Dolmant reagierte heftig. »Ihr könnt während einer religiösen Zeremonie nicht zwei Heidinnen im Kirchenschiff der Basilika bei Euch haben, Ehlana!«
»Es ist meine Trauung, Dolmant. Ich kann tun, was ich will. Und ich will Sephrenia und Mirtai als meine Brautjungfern!«
»Ich verbiete es.«
»Gut.« Ihre Augen wurden hart. »Keine Brautjungfern, keine Hochzeit – und wenn es keine Vermählung gibt, bleibt mein Ring, wo er ist!«
»Das ist eine unmögliche junge Frau, Sperber!«, rief der Erzprälat wütend, als er aus dem Gemach stürmte, in dem Ehlana ihre Vorbereitungen traf.
»Wir ziehen den Ausdruck ›energisch‹ vor«, sagte Sperber mild. Er trug schwarzen Samt mit Silberverbrämung. Ehlana hatte nicht zugelassen, dass er in Rüstung heiratete. »Ich will in unserem Schlafgemach keinen Waffenschmied, der dir erst beim Ausziehen helfen muss, Liebster«, hatte sie argumentiert.
An Edelmännern mangelte es in den Armeen von Westeosien hingegen nicht, und in der Basilika gab es Legionen von Geistlichen. Daher war das riesige, kerzenerhellte Kirchenschiff so gedrängt voll wie bei der Trauerfeier für Erzprälat Cluvonus. Der Chor sang frohe Hymnen, während die Hochzeitsgäste eintrafen, und Weihrauch erfüllte die Luft.
Sperber wartete mit den Trauzeugen nervös in der Sakristei. Natürlich waren alle seine Freunde da: Kalten, Tynian, Bevier, Ulath und der Domi, sowie Kurik, Berit und die Hochmeister der vier Orden. Bei Ehlana waren außer Sephrenia und Mirtai schicklicherweise die Könige von Westeosien sowie – merkwürdigerweise – Platime, Stragen und Talen. Die Königin hatte keinen Grund für diese Auswahl genannt. Es war durchaus möglich, dass es überhaupt keinen gab.
Die Tür wurde geöffnet, und Emban schob das schwitzende Gesicht in Sperbers Gemach. Er grinste breit. »Seid Ihr bereit?«
»Fangen wir endlich an«, brummte Sperber.
»Unser Bräutigam wird ungeduldig, wie ich sehe«, stellte Emban fest. »Ah, wieder jung sein! Der Chor wird die traditionelle Hochzeitshymne singen«, wandte er sich an alle Anwesenden. »Bestimmt kennen einige von Euch dieses herrliche Lied. Beim letzten Akkord öffne ich die Tür, dann können die Trauzeugen unser Opferlamm zum Altar führen. Bitte, lasst ihn nicht davonlaufen. Das stört die Zeremonie ungemein.« Er grinste schalkhaft und schloss die Tür.
»Das ist ein boshafter kleiner Mann«, knirschte Sperber.
»Oh, ich weiß nicht«, entgegnete Kalten. »Ich mag ihn.«
Die Hochzeitshymne war das älteste sakrale Musikstück des elenischen Glaubens. Es war ein Jubelgesang. Die Bräute hörten gewöhnlich aufmerksam zu, während die Bräutigame kaum darauf achteten.
Als die letzten Töne verklangen, öffnete Patriarch Emban schwungvoll die Tür, und Sperbers Freunde, die bereits um ihn Aufstellung genommen hatten, geleiteten ihn ins Kirchenschiff. Es wäre gewiss unpassend, auf die Ähnlichkeiten einer solchen Prozession mit der von Wächtern hinzuweisen, die einen Verurteilten zur Richtstätte führten.
Sie begaben sich direkt zum Altar, wo Erzprälat Dolmant, ganz in goldbesticktes Weiß gekleidet, sie erwartete. »Ah, mein Sohn«, sagte er mit leichtem Lächeln zu Sperber, »wie schön, dass Ihr gekommen seid.«
Sperber unterließ es lieber, darauf zu antworten.
Dann, nach angemessener Pause, während alle Hochzeitsgäste sich still erhoben und sich die Hälse verrenkten, um zur hinteren Seite des Kirchenschiffs zu schauen, erklang der Hochzeitsmarsch, und die Gruppe der Braut trat zu beiden Seiten des Vestibüls heraus. Zuerst, jede von einer Seite, kamen Sephrenia und Mirtai. Der Größenunterschied der zwei Frauen fiel den Zuschauern zunächst gar nicht auf. Was sie jedoch bemerkten und was sie sichtlich schockierte, war die unverkennbare Tatsache, dass beide Heidinnen waren. Sephrenias weißes Gewand war auf beinahe aufreizende Weise styrisch. Ein Blumenkranz zierte ihre Stirn, und ihr Gesicht strahlte Ruhe aus. Mirtais Gewand war von einem in Elenien unbekannten Schnitt. Es war von tiefem Königsblau und schien weder Naht noch Saum zu haben. An beiden Schultern wurde es von einer edelsteinbesetzten Spange gehalten. Eine lange Goldkette, die das Gewand unter dem Busen raffte, überkreuzte sich am Rücken, wand sich um die Taille und verlief über die Hüften nach vorn zu einem aufwendigen, tief liegenden Knoten, sodass die in quastenähnlichen Strängen auslaufenden Enden fast den Boden berührten. Ihre bronzenen Arme waren bis zur Schulter unbedeckt, makellos glatt, doch sehr muskulös. Sie trug goldene Sandalen, und ihr jetzt offenes glänzend schwarzes Haar floss glatt den Rücken bis über die Oberschenkel hinab. Ein schlichter Silberreif zierte ihre Stirn, und statt Armreifen lagen breite Bänder aus brüniertem Stahl mit gehämmertem Gold um ihre Handgelenke. Aus Rücksicht auf elenische Gefühle trug sie keine sichtbaren Waffen.
Der Domi Kring seufzte schmachtend, als sie ins Kirchenschiff trat und neben Sephrenia feierlichen Schrittes durch den Mittelgang zum Altar marschierte.
Wieder setzte traditionsgemäß eine Pause ein; dann trat die Braut, deren Linke leicht auf dem Arm des alten Königs Obler ruhte, aus dem Vestibül und blieb stehen, damit alle sie bewundern konnten – nicht so sehr als Frau denn als Kunstwerk. Ihr Gewand war aus weißem Satin, doch das war bei fast allen Bräuten so. Dieses Gewand jedoch war mit Goldlamé gefüttert, und die langen Ärmel waren umgeschlagen, sodass man dies auch sehen konnte. Um die Taille trug Ehlana einen breiten Gürtel aus Goldgeflecht mit kostbaren Edelsteinen. Ein märchenhaftes goldenes Cape fiel am Rücken bis zur Taille und der glänzenden Satinschleppe. Eine Krone saß auf ihrem aschblonden Haar – nicht die traditionelle Krone Eleniens, sondern wie der Gürtel ein kunstvolles Goldgeflecht, in dem Perlen und kleine, verschiedenfarbige Juwelen funkelten. Die Krone hielt den Schleier, der vorn bis zum Mieder reichte und hinten über die Schultern fiel und so fein wie zarter Dunst war. In der Hand hielt sie eine weiße Blume, und ihr bleiches junges Gesicht strahlte.
»Wie ist sie in so kurzer Zeit an ein solches Gewand gekommen?«, flüsterte Berit Kurik zu.
»Sephrenia hat es herbeigezaubert, nehme ich an.«
Dolmant bedachte die beiden mit einem strafenden Blick, und sie hörten zu flüstern auf.
Nach der Königin von Elenien erschienen die Monarchen Wargun, Dregos und Soros, sowie der Kronprinz von Lamorkand in Vertretung seines Vaters, gefolgt vom cammorischen Botschafter. Rendor war hier nicht vertreten, und niemand hatte daran gedacht, Otha von Zemoch einzuladen.
Der Hochzeitszug schritt feierlich durch den Mittelgang zum Altar und dem wartenden Bräutigam. Platime und Stragen bildeten den Abschluss. Talen schritt zwischen ihnen und trug das weiße Samtkissen, auf dem das Paar Rubinringe lag. Es sollte vielleicht erwähnt werden, dass sowohl Stragen wie Platime ein waches Auge auf den jugendlichen Dieb hatten.
Sperber blickte seiner Braut entgegen, als sie mit strahlendem Gesicht näher kam. Und in diesen Augenblicken wurde ihm etwas bewusst, was er sich bisher nie eingestanden hatte. Die Erziehung Ehlanas war eine Aufgabe gewesen, die er nur widerwillig übernommen hatte, als sie ihm vor vielen Jahren anvertraut worden war. Es war nicht nur eine lästige Aufgabe gewesen, sondern auch eine Demütigung, an der Ehlana jedoch keine Schuld traf, denn auch sie war, wie Sperber, ein Opfer der Laune ihres Vaters geworden. Das erste Jahr war außerordentlich aufreibend gewesen. Das Mädchen, das ihm jetzt so glücklich entgegenkam, war damals unendlich verschüchtert gewesen und hatte anfangs nur zu Rollo geredet, einem kleinen, arg mitgenommenen Plüschtier, das zu jener Zeit ihr ständiger und wahrscheinlich einziger Gefährte gewesen war. Mit der Zeit hatte sie sich jedoch an Sperbers narbiges Gesicht und seine Bestimmtheit gewöhnt, und von jenem Tag an, als ein arroganter Höfling sich ihr gegenüber unverschämt benahm, worauf Sperber ihn heftig zurechtwies, war aus Ehlanas unsicherem Zutrauen zu Sperber Freundschaft geworden. Es war zweifellos das erste Mal gewesen, dass jemand Blut für sie vergossen hatte – die Nase des Höflings hatte sehr stark geblutet –, und damit hatte sich für die kleine blasse Prinzessin eine völlig neue Welt aufgetan. Sie vertraute nunmehr ihrem Ritter alles an – auch Dinge, die ihm lieber verborgen geblieben wären. Sie hatte keinerlei Geheimnisse vor ihm, und er hatte sie kennengelernt wie sonst keinen Menschen auf der Welt – was Sperber ungeeignet für jede andere Frau gemacht hatte. Denn die kindliche Prinzessin hatte ihr ganzes Sein so sehr mit seinem verflochten, dass es keine Möglichkeit geben konnte, dieses Band jemals zu durchtrennen. Dies war letztendlich auch der Grund, weshalb sie sich jetzt hier befanden. Hätte er nur den eigenen Schmerz ertragen müssen, hätte Sperber vielleicht nein zu sagen vermocht. Doch ihren Schmerz konnte er nicht ertragen, und so …
Die Hymne endete. König Obler übergab seine Anverwandte ihrem Ritter, und Braut und Bräutigam wandten sich Erzprälat Dolmant zu.
Dolmant sprach vom Stand der Ehe – ziemlich lange. Dann erklärte er dem Brautpaar, es würde »Gottes Wille« entsprechen, wenn sie, nachdem die Trauung vollzogen war, ihren natürlichen Neigungen folgten – ja, nicht nur »Gottes Wille«, sondern »Gottes Wunsch«. Er forderte sie auf, einander treu zu sein, und erinnerte sie, dass ihre Kinder im elenischen Glauben erzogen werden mussten. Endlich kam er zu den »Willst-dus«. Nachdem beide laut ihr Jawort gegeben hatten, durften sie einander die Ringe anstecken, die nicht einmal Talen hatte stehlen können.
In diesem Augenblick vernahm Sperber sanfte, vertraute Töne, die von der Kuppel herab zu klingen schienen. Es war das weiche Trillern einer Syrinx, voll Freude und tiefer Liebe. Sperber blickte rasch zu Sephrenia. Ihr glückliches Lächeln sagte ihm alles. Flüchtig stellte er sich die völlig unsinnige Frage, welches Protokoll wohl erforderlich gewesen war, als Aphrael den elenischen Gott um Erlaubnis ersucht hatte, an der Trauung teilzunehmen und, wie es aussah, ihren Segen dem seinen hinzuzufügen.
»Was ist das für eine Musik?«, wisperte Ehlana, ohne die Lippen zu bewegen.
»Ich erkläre es dir später«, murmelte Sperber.
Den anderen im kerzenbeleuchteten Kirchenschiff schienen Aphraels Flötenklänge nicht aufzufallen. Dolmants Augen jedoch weiteten sich, und er wurde blass. Doch er gewann seine Fassung rasch wieder und erklärte Sperber und Ehlana schließlich zu Mann und Frau. Dann erflehte er in einem ansprechenden kleinen Schlussgebet Gottes Segen auf sie herab und gab Sperber endlich die Erlaubnis, seine Braut zu küssen.
Behutsam hob Sperber Ehlanas Schleier, und seine Lippen fanden sanft die ihren. Niemand küsst in aller Öffentlichkeit sehr gut, doch dem jungen Paar gelang es, ohne dabei verlegen zu wirken.
Der Trauung folgte sogleich Sperbers Krönung zum Prinzgemahl. Er kniete nieder, damit ihm die junge Frau, die soeben, unter anderem, versprochen hatte, ihm zu gehorchen – nun jedoch die Autorität seiner Königin ausübte –, die Krone aufsetzen konnte, die Kurik auf einem purpurnen Samtkissen in die Kirche getragen hatte. Dann hielt Ehlana eine hübsche Rede. Sie sagte so allerlei über Sperber, hauptsächlich Schmeichelhaftes, und schloss damit, dass sie ihm die Krone fest auf den Kopf drückte. Und dann, weil er kniete und sein zu ihr emporgerichtetes Gesicht dazu verlockte, küsste sie ihn wieder. Er stellte fest, dass sie mit jedem Mal besser wurde. »Jetzt bist du mein , Sperber«, murmelte sie, während ihre Lippen noch die seinen berührten. Dann, obwohl er alles andere als altersschwach war, half sie ihm auf die Füße. Mirtai und Kalten kamen mit hermelinverbrämten Capes herbei und legten sie um die Schultern des Königspaares. Dann drehten die beiden sich um, um die Jubelrufe der Menschenmenge im Kirchenschiff entgegenzunehmen.
Der Zeremonie folgte ein Hochzeitsmahl. Sperber erinnerte sich nicht, was aufgetragen worden war und ob er irgendetwas gegessen hatte. Er erinnerte sich lediglich, dass er das Gefühl gehabt hatte, es würde nie zu Ende gehen. Doch dann, endlich, wurden er und seine Braut zur Tür eines prächtigen Gemachs geleitet, in einem oberen Stockwerk des Ostflügels eines der Häuser des Kirchenkomplexes. Sie traten ein, und er verschloss die Tür hinter ihnen.
Natürlich standen Möbel in diesem Gemach – Sessel, Tische, Diwane –, doch das Einzige, was Sperber wirklich sah, war das Bett, ein hohes Himmelbett auf einem breiten Podest.
»Endlich!« Ehlana seufzte erleichtert. »Ich hatte schon befürchtet, das alles würde nie ein Ende nehmen.«
»Ich auch«, gestand Sperber.
»Sperber«, sagte sie, und nun war ihre Stimme nicht die selbstsichere einer Königin. »Liebst du mich wirklich? Ich weiß, dass ich dich dazu gedrängt habe – zuerst in Cimmura, und nun hier. Hast du mich geheiratet, weil du mich wirklich liebst, oder hast du nur nachgegeben, weil ich die Königin bin?« Ihre Stimme zitterte, und ihre Augen verrieten Verwundbarkeit.
»Du stellst dumme Fragen, Ehlana«, sagte er sanft. »Ich gebe zu, dass du mich zuerst erschreckt hast – wahrscheinlich, weil ich keine Ahnung hatte, dass du so empfindest. Ehlana, ich liebe dich. Ich habe nie eine andere geliebt und werde nie eine andere lieben. Mein Herz ist etwas mitgenommen, aber es gehört ganz dir.« Dann küsste er sie, und sie schmiegte sich an ihn.
Der Kuss schien nicht enden zu wollen. Schließlich spürte Sperber eine zierliche Hand zärtlich seinen Nacken hochstreichen und seine Krone abnehmen. Er blickte in ihre strahlenden grauen Augen. Dann nahm er sanft ihre Krone von ihrem Haar und ließ den Schleier auf den Boden schweben. Ernst öffnete jeder des anderen Umhang und ließ ihn nach unten gleiten.
Das Fenster stand offen, und der milde Nachtwind, der die Spitzenvorhänge am Fenster bauschte, trug die nächtlichen Geräusche Chyrellos’ mit sich. Sperber und Ehlana fühlten den Wind nicht, und das einzige Geräusch, das sie hörten, war das Pochen ihrer beider Herzen.
Die Kerzen waren niedergebrannt, dennoch war es nicht dunkel im Gemach. Der Vollmond stand am Himmel und füllte die Nacht mit bleichem Silberschein, der sich im feinen Gespinst des schwach flatternden Vorhangs zu verfangen schien, und das Leuchten dieser Vorhänge schenkte ein feineres, vollkommeneres Licht, als Kerzen es vermocht hätten.
Es war sehr spät – genauer gesagt, sehr früh. Sperber war kurz eingenickt, doch seine bleiche, mondbeschienene Gemahlin rüttelte ihn wach. »Nichts da«, rügte sie. »Wir haben nur diese eine Nacht, und du wirst sie nicht mit Schlafen vergeuden.«
»Tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Es war ein rastloser Tag.«
»Und eine rastlose Nacht«, fügte sie mit schelmischem Lächeln hinzu. »Hast du gewusst, dass du schnarchst wie ein Holzfäller?«
»Es liegt an meiner gebrochenen Nase, glaube ich.«
»Das könnte mit der Zeit zum Problem werden, Liebster. Ich habe einen sehr leichten Schlaf.« Ehlana kuschelte sich in seine Arme und seufzte zufrieden. »Oh, das ist schön«, sagte sie. »Wir hätten schon vor Jahren heiraten sollen.«
»Ich glaube, da hätte dein Vater etwas dagegen gehabt. Übrigens, was ist eigentlich aus Rollo geworden?«
»Nachdem Vater dich ins Exil geschickt hatte, begann seine Füllung herauszuquellen. Ich habe ihn gewaschen und bewahre ihn im obersten Fach meines Kleiderschranks auf. Ich werde ihn neu ausstopfen lassen, wenn wir unser erstes Baby haben. Der arme Rollo. Er hat ganz schön was mitgemacht, als du nicht mehr da warst. Er bekam meine ganzen Tränen ab. Mehrere Monate lang war er ein sehr aufgeweichtes kleines Plüschtier.«
»Hast du mich denn so sehr vermisst?«
»Dich vermisst? Ich dachte, ich würde sterben. Ich wollte wirklich sterben.«
Er drückte sie fester an sich.
»Also gut«, sagte sie, »unterhalten wir uns darüber.«
Er lachte. »Musst du unbedingt alles aussprechen, was dir gerade einfällt?«
»Wenn wir allein sind, schon. Ich habe keine Geheimnisse vor dir, mein Gemahl.« Da erinnerte sie sich. »Von wem kam die Musik, die wir während der Zeremonie gehört haben.«
»Von Aphrael. Ich muss Sephrenia noch fragen, aber ich bin mir jetzt schon ziemlich sicher, dass wir in mehr als einem Glauben getraut wurden.«
»Dann habe ich noch ein Band mehr, mit dem ich dich halten kann.«
»Das hast du gar nicht nötig. Schon seit du sechs warst, hattest du mich fest in der Hand.«
Sie schmiegte sich noch enger an ihn. »Weiß Gott, ich habe mein Möglichstes getan.« Plötzlich setzte sie sich auf. »Aber ich muss sagen, ein bisschen verärgert mich deine kleine styrische Göttin. Sie scheint immer in der Nähe zu sein. Wer weiß, ob sie nicht in diesem Augenblick unsichtbar in irgendeiner Ecke schwebt. Meinst du, das wäre möglich?«
»Es würde mich nicht wundern.« Er neckte sie mit voller Absicht.
»Sperber!«
Im bleichen Mondlicht konnte er es nicht erkennen, aber Sperber vermutete stark, dass Ehlana jetzt tief errötete.
»Mach dir deshalb keine Sorgen, Liebling.« Er lachte. »Aphrael ist außerordentlich höflich. Es würde ihr nie in den Sinn kommen, ungebeten hier einzudringen.«
»Aber sicher können wir nie sein, nicht wahr? Ich weiß nicht recht, ob ich sie mag. Ich habe das Gefühl, dass sie dir sehr zugetan ist, und die Vorstellung, eine göttliche Rivalin zu haben, gefällt mir gar nicht.«
»Sie ist ein Kind, Ehlana.«
»Na und? Ich war erst fünf, als ich dich das erste Mal sah, Sperber, aber du hattest den Raum kaum betreten, da beschloss ich, dich zu heiraten.« Sie glitt aus dem Bett, ging zu dem mondhellen Fenster und zog die Vorhänge auseinander. Im bleichen Silberlicht sah sie wie eine Alabasterstatue aus.
»Solltest du nicht lieber einen Morgenrock anziehen?«, schlug er vor. »Du setzt dich öffentlicher Betrachtung aus, weißt du.«
»In Chyrellos schlafen alle schon seit Stunden. Außerdem befinden wir uns fünf Stockwerke über der Straße. Ich möchte den Mond anschauen. Er und ich sind uns sehr nahe, und ich möchte, dass er weiß, wie glücklich ich bin.«
»Heidin.« Sperber lächelte.
»Ja, vielleicht bin ich das«, gab sie zu. »Aber alle Frauen fühlen eine eigenartige Verbundenheit mit dem Mond. Er berührt uns auf eine Weise, die ein Mann nie verstehen könnte.«
Sperber kam nun ebenfalls aus dem Bett und stellte sich zu ihr ans Fenster. Der Mond stand sehr klar und sehr hell am Himmel; dennoch verhüllte sein silbernes Licht jede Farbe und verbarg so zum Teil die Zerstörung, die Martels Belagerung der Heiligen Stadt gebracht hatte. Nur den Rauchgeruch, der noch stark in der Nachtluft hing, vermochte er nicht zu verdrängen.
Ehlana zog Sperbers Arme um sich und seufzte. »Ob Mirtai vor meiner Tür schläft?«, fragte sie sich laut. »Das tut sie nämlich sonst, weißt du. War sie heute Abend nicht wunderschön?«
»Oh ja. Ich hatte noch keine Gelegenheit, dir davon zu erzählen, aber Kring ist hingerissen von ihr. Ich habe noch nie einen Mann gesehen, den die Liebe so überwältigt hat.«
»Zumindest ist er offen und ehrlich. Dir muss ich Liebesbeteuerungen aus der Nase ziehen, mein edler Prinzgemahl.« Sie kräuselte die Stirn. »Das ist ein sehr umständlicher Titel. Sobald ich wieder in Cimmura bin, werde ich mich mit Lenda unterhalten. Wenn ich mich nicht irre, gibt es irgendwo ein Herzogtum ohne Herzog. Und wenn nicht, beschaffe ich dir eines. Ich werde ohnehin einige von Annias’ Helfershelfern enteignen. Wie würde es dir gefallen, Herzog zu sein, Durchlaucht?«
»Vielen Dank, Majestät, aber ich verzichte gern auf zusätzliche Titel.«
»Aber ich möchte dir Titel geben!«
»Mir persönlich gefällt ›Gemahl‹ sehr gut.«
»Jeder Mann kann ein Gemahl sein.«
»Aber ich bin der einzige, der deiner ist.«
Sie lächelte. »Ich glaube, Sperber, mit ein bisschen Übung kannst du ein perfekter Edelmann werden.«
»Die meisten perfekten Edelleute, die ich kenne, sind Höflinge. Ihr Ruf ist nicht sonderlich gut.«
Sie fröstelte.
»Du frierst!«, sagte er besorgt. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst einen Morgenrock anziehen.«
»Wozu brauche ich einen Morgenrock, wenn ich diesen lieben wärmenden Gemahl bei mir habe?«
Er bückte sich, hob sie auf die Arme und trug sie ins Bett zurück.
»Das habe ich mir erträumt«, gestand sie, als er sich zu ihr legte und die Decken über sie beide zog. »Weißt du was, Sperber?« Sie kuschelte sich wieder an ihn. »Ich habe immer ein bisschen Angst vor dieser Nacht gehabt. Ich dachte, ich würde schrecklich nervös und gehemmt sein, aber ich bin es überhaupt nicht.« Sie küsste ihn lange.
»Was meinst du, wie spät ist es?«
»Noch etwa zwei Stunden bis Sonnenaufgang.«
»Gut, dann haben wir noch viel Zeit. Du wirst doch vorsichtig sein in Zemoch, nicht wahr?«
»Ich werde mein Bestes tun.«
»Aber bitte nichts Heroisches, um mich zu beeindrucken, Sperber. Ich bin schon beeindruckt.«
»Ich werde vorsichtig sein«, versprach er.
»Da wir gerade davon sprechen – möchtest du meinen Ring jetzt?«
»Gib ihn mir lieber in aller Öffentlichkeit. Damit Sarathi sieht, dass wir unseren Teil der Abmachung einhalten.«
»War ich wirklich so schrecklich zu ihm?«
»Du hast ihn ein bisschen bestürzt. Sarathi ist den Umgang mit Frauen deines Schlages nicht gewohnt. Ich glaube, du kostest ihn allerhand Nerven.«
»Koste ich dich auch Nerven, Sperber?«
»Nein. Schließlich habe ich dich erzogen. Da bin ich deine kleinen Eigenarten gewohnt.«
»Da hast du wirklich Glück, weißt du. Sehr wenige Männer haben die Gelegenheit, ihre Gemahlinnen zu erziehen. Auf dem Weg nach Zemoch kannst du …« Sie fing zu weinen an, und er nahm sie in die Arme und hielt sie, bis ihr Tränenstrom versiegt war. Dann küsste er sie zärtlich. Aus dem einen Kuss wurden mehrere, und der Rest der Nacht verging ohne weitere Tränen.