»Sperber!« Kurik rüttelte ihn wach. »In etwa einer Stunde graut der Morgen. Du wolltest, dass ich dich aufwecke.«
»Schläfst du denn nie?« Sperber setzte sich gähnend auf, dann schwang er die Beine aus dem Bett.
»Ich habe gut geschlafen.« Kurik musterte seinen Freund kritisch. »Du isst nicht genug!«, tadelte er. »Man kann jeden Knochen sehen. Zieh dich an. Ich wecke schnell die anderen, dann komme ich zurück und helfe dir in die Rüstung.«
Sperber erhob sich und schlüpfte in seine gesteppte, mit Rostflecken übersäte Unterkleidung.
»Sehr elegant«, spöttelte Stragen an der Tür. »Gibt es irgendeine obskure Klausel im Ritterkodex, die das Waschen dieser Kleidungsstücke verbietet?«
»Sie brauchen eine Woche zum Trocknen!«
»Sind sie denn wirklich notwendig?«
»Habt Ihr je eine Rüstung angehabt, Stragen?«
»Gott bewahre!«
»Versucht es einmal. Die Polsterung hält den Panzer davon ab, an den unmöglichsten Stellen zu reiben.«
»Was wir nicht alles für die Mode ertragen!«
»Wollt Ihr an der zemochischen Grenze wirklich umkehren?«
»Befehl der Königin, alter Junge. Außerdem hätte ich nicht den Mut, mich mit einem Gott anzulegen. Um ehrlich zu sein, ich finde, Ihr seid verrückt – versteht es bitte nicht als Beleidigung.«
»Werdet Ihr von Cimmura nach Emsat zurückkehren?«
»Wenn Eure Gemahlin es mir erlaubt. Ich sollte wirklich zurückkehren – zumindest, um die Bücher zu prüfen. Tel ist ziemlich zuverlässig, aber er ist nun mal ein Dieb.«
»Und dann?«
»Wer weiß?« Stragen zuckte mit den Schultern. »Ich habe keinerlei Verpflichtungen, das gibt mir eine nicht alltägliche Freiheit. Ich muss nichts tun, was ich nicht tun will. Oh, jetzt hätte ich es fast vergessen. Ich bin nicht hierhergekommen, um mit Euch über die Vor- und Nachteile von persönlicher Freiheit zu diskutieren.« Er langte unter sein Wams. »Ein Brief für Euch, Ritter Sperber.« Er verbeugte sich übertrieben. »Von Eurer Gemahlin, wenn ich mich nicht irre.«
»Wie viele davon habt Ihr denn noch?«, fragte Sperber und griff nach dem gefalteten Blatt. Stragen hatte ihm bereits je einen von Ehlanas kurzen, leidenschaftlichen Briefen an ihren Gemahl in Kadach und in Moterra ausgehändigt.
»Das ist ein Staatsgeheimnis, mein Freund.«
»Habt Ihr eine Art Zeitplan? Oder übergebt Ihr sie mir, wenn Euch danach ist?«
»Ein wenig von beidem, alter Junge. Es gibt natürlich einen Zeitplan, aber ich soll in dieser Sache mein Gefühl entscheiden lassen. Wenn ich sehe, dass Ihr niedergeschlagen oder übel gelaunt seid, soll ich Euch ein wenig Sonnenschein bringen. Ich lasse Euch jetzt allein, damit Ihr in Ruhe lesen könnt.« Er verließ Sperbers Zimmer und schritt den Gang entlang zur Treppe.
Sperber brach das Siegel und öffnete Ehlanas Brief.
Liebster,
wenn alles gut gegangen ist, müsstest Du jetzt in Paler sein. Das ist schrecklich schwierig, weißt Du. Ich versuche in die Zukunft zu blicken, doch meine Augen sind nicht scharf genug. Ich spreche viele Wochen aus der Vergangenheit zu Dir und habe nicht die geringste Ahnung, was Du inzwischen erlebt hast. Ich wage es nicht, Dir von meiner Angst oder meiner Verzweiflung über diese unnatürliche Trennung zu schreiben, denn wenn ich Dir mein Herz ausschütte, würde ich Deine Entschlossenheit lähmen, und das würde Dich in Gefahr bringen. Ich liebe Dich, mein Sperber, und bin hin- und hergerissen zwischen meinem Wunsch, ich könnte ein Mann sein, um in der Gefahr an Deiner Seite zu stehen und im Angesicht des Todes mein Leben für Dich zu geben, und meiner Freude darüber, dass ich eine Frau bin und in Deinen Armen liegen kann.
Von da ab schwelgte Sperbers junge Königin in ausführlichen Reminiszenzen an ihre Hochzeitsnacht, die viel zu persönlich und privat waren, um sie hier wiederzugeben.
»Wie war der Brief der Königin?«, fragte Stragen, als sie ihre Pferde auf dem Hof sattelten, während der erwachende Morgen den bewölkten östlichen Horizont grau färbte.
»Dichterisch«, antwortete Sperber lakonisch.
»Das ist eine ungewöhnliche Beschreibung.«
»Manchmal verlieren wir den Blick für die wirkliche Person unter den Staatsgewändern, Stragen. Ehlana ist eine Königin, das stimmt, aber sie ist auch ein achtzehnjähriges Mädchen, das offenbar zu viele falsche Bücher gelesen hat.«
»Eine so nüchterne Beschreibung hätte ich von einem so frischgebackenen Ehemann nicht erwartet.«
»Mich beschäftigt jetzt eine ganze Menge.« Sperber zog den Sattelgurt fester an. Faran schnaubte, füllte den Bauch mit Luft und stieg seinem Herrn mit voller Absicht auf den Fuß. Im Gegenzug stieß der Pandioner seinem Streitross das Knie in den Bauch. »Haltet heute die Augen gut offen, Stragen«, riet er. »Ein paar merkwürdige Dinge könnten geschehen.«
»Zum Beispiel?«
»Ich bin mir nicht sicher. Wenn alles gut geht, werden wir heute viel schneller vorwärts kommen als sonst. Bleibt bei dem Domi und seinen Peloi. Sie sind ein leicht erregbares Völkchen, und ungewöhnliche Geschehnisse bringen sie manchmal aus der Fassung. Versichert ihnen immer wieder, dass alles unter Kontrolle ist.«
»Und? Stimmt das?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, alter Junge. Ich bemühe mich jedoch sehr, optimistisch zu sein.«
Es dauerte lange, bis es hell wurde, da die Wolkendecke aus dem Osten sich während der Nacht verdichtet hatte. Auf der Kuppe des gemächlich vom Nordende des bleigrauen Randerasees ansteigenden Hügels gesellten sich Kring und seine Peloi zu ihnen. »Es ist schön, wieder in Pelosien zu sein, Freund Sperber«, sagte Kring mit einem gutmütigen Grinsen. »Selbst hier in diesem überlaufenen und aufgegrabenen Teil des Landes.«
»Wie viele Tage werden wir noch bis zur zemochischen Grenze brauchen, Domi?«, fragte Tynian.
»Fünf oder sechs, Freund Tynian«, antwortete der Domi.
»Wir werden gleich aufbrechen«, versicherte Sperber seinen Freunden. »Sephrenia und ich müssen zuvor nur noch etwas tun.« Er winkte seiner Lehrerin zu, und sie entfernten sich ein Stück von dem Trupp, der auf dem Hügel im Sattel wartete. »Nun?«, fragte er sie.
»Muss das unbedingt sein, Lieber?«, fragte sie beinahe flehend.
»Ja, es ist notwendig. Mir fällt keine andere Möglichkeit ein, Euch und die anderen vor heimtückischen Überfällen zu schützen, wenn wir die zemochische Grenze erreichen.« Er langte unter seinen Wappenrock, holte den Beutel hervor und zog seine Rüsthandschuhe aus. Wieder fühlte der Bhelliom sich sehr kalt in seinen Händen an, als wäre er aus Eis. »Blaurose!«, befahl er. »Bring mir Ghnombs Stimme!«
Der Edelstein erwärmte sich widerwillig. Dann erschien das fahle Gelbgrün in seiner Tiefe, und wieder hatte Sperber den ekligen Geschmack halb verwesten Fleisches im Mund. »Ghnomb!«, begann er, »ich bin Sperber-von-Elenien. Ich habe die Ringe. Ich jage jetzt. Ghnomb wird mir bei der Jagd helfen, wie ich es ihm befehle. Ghnomb wird es jetzt tun!«
Er wartete angespannt, aber nichts geschah. Er seufzte. »Ghnomb!«, rief er. »Verschwinde sofort!« Er steckte die Saphirrose in ihren Beutel zurück, verknotete die Zugschnur und schob den Beutel unter seinen Wappenrock zurück. »Na ja«, sagte er bedauernd, »das war’s wohl. Ihr habt gesagt, er würde mich wissen lassen, wenn er nicht helfen kann. Das hat er wohl soeben getan. Keine erfreuliche Erkenntnis beim Stand der Dinge.«
»Gebt nicht gleich auf, Sperber«, tröstete Sephrenia ihn.
»Es hat sich nichts getan, kleine Mutter.«
»Seid da nicht so sicher.«
»Kehren wir zu den anderen zurück. Es sieht so aus, als bliebe uns nur noch der harte Weg.«
Der Trupp ritt im Trab die andere Hügelseite hinunter, während die bleiche Scheibe der Sonne sich hinter den Wolken am Horizont zeigte. Das Ackerland östlich von Paler war zum Teil schon abgeerntet, und die Leibeigenen, die noch die letzten Feldfrüchte einbrachten, arbeiteten bereits. Aus dieser Entfernung waren sie kaum mehr als reglose Spielfiguren in beiger oder blauer Kleidung.
»Leibeigenschaft weckt keine große Arbeitsbegeisterung«, bemerkte Kurik kritisch. »Diese Leute da draußen bewegen sich scheinbar überhaupt nicht.«
»Wäre ich ein Leibeigener, würde ich mich bestimmt auch nicht sehr anstrengen«, sagte Kalten.
Im Kanter durchquerten sie ein weites Tal und ritten eine niedrige Hügelkette hinauf. Die Wolken im Osten hatten sich etwas aufgehellt, und die Sonne über dem Horizont war weniger verschleiert. Kring sandte seine Kundschafter aus, und sie setzten ihren Weg fort.
Irgendetwas stimmte nicht, doch Sperber konnte nicht ergründen, was es war. Die Luft war seltsam unbewegt, und der Hufschlag wirkte laut und unnatürlich fest auf dem aufgeweichten Weg. Sperber schaute sich um und las die Besorgnis in den Mienen seiner Freunde.
Sie hatten das nächste Tal etwa zur Hälfte durchquert, als Kurik mit einer plötzlichen Verwünschung sein Pferd zügelte. »Also wirklich!«, brummte er.
»Was hast du?«, fragte Sperber.
»Wie lange, würdest du sagen, sind wir unterwegs?«
»Ungefähr eine Stunde. Wieso?«
»Schau dir die Sonne an, Sperber!«
Sperber blickte zum östlichen Horizont, wo die Sonne dicht über einer sanft gerundeten Hügelkette stand. »Sie ist, wo sie immer ist, Kurik.«
»Das ist es ja eben, Sperber. Sie bewegt sich nicht . Sie steht kein bisschen höher, seit wir losritten.«
Alle starrten gen Osten.
»Das sieht bestimmt nur so aus, Kurik. Wir sind die ganze Zeit hügelan, hügelab geritten. Da sieht man die Sonne mal höher und mal tiefer. Es hängt vom Gelände ab.«
»Das habe ich zuerst auch gedacht, Ritter Tynian, aber ich schwöre Euch, dass die Sonne sich nicht bewegt hat, seit wir von dem Hügel östlich von Paler losgeritten sind.«
»Aber Kurik«, spöttelte Kalten. »Die Sonne muss sich bewegen.«
»Offensichtlich nicht heute Morgen. Was mag das nur sein?«
»Ritter Sperber!« Berits Stimme war schrill, fast hysterisch. »Schaut!«
Sperber drehte den Kopf in die Richtung, in die der Rittergeselle mit bebender Hand deutete.
Da war ein Vogel, ein ganz normaler Vogel, eine Lerche, wie Sperber zu erkennen glaubte. Es war nichts ungewöhnlich an dem Tier – wenn man außer Acht ließ, dass sie völlig reglos in der Luft hing, sodass man glauben mochte, sie würde von unsichtbaren Händen festgehalten.
Alle schauten sich bestürzt um. Sephrenia fing zu lachen an.
»Ich kann wirklich nichts Lustiges daran finden«, brummte Kurik.
»Alles in Ordnung, meine Herren«, versicherte sie ihnen.
»In Ordnung?« Tynian blickte sie ungläubig an. »Was ist denn mit der Sonne und diesem dummen Vogel passiert?«
»Sperber hat die Sonne angehalten – und die Lerche ebenfalls.«
»Die Sonne angehalten!« , rief Bevier. »Das ist unmöglich!«
»Offenbar nicht. Sperber hat vergangene Nacht mit einem Trollgott gesprochen. Er sagte ihm, wir wären auf der Jagd und unser Wild hätte einen großen Vorsprung. Dann hat er den Trollgott Ghnomb gebeten, uns beim Jagen zu helfen, und das scheint Ghnomb jetzt zu tun.«
»Das verstehe ich nicht«, wandte Kalten ein. »Was hat die Sonne mit der Jagd zu tun?«
»So kompliziert ist das gar nicht, Kalten«, sagte sie ruhig. »Ghnomb hat die Zeit angehalten, das ist alles.«
»Das ist alles? Wie hält man die Zeit an?«
»Das weiß ich nicht.« Sie runzelte die Stirn. »Es ist wohl auch nicht ganz richtig. In Wirklichkeit bewegen wir uns außerhalb der Zeit – innerhalb eines Augenblicks, sozusagen zwischen einer Sekunde und der nächsten.«
»Was hält den Vogel in der Luft, erhabene Sephrenia?«, fragte Berit.
»Wahrscheinlich sein letzter Flügelschlag. Für die übrige Welt verläuft die Zeit völlig normal. Die anderen da draußen können uns nicht einmal sehen. Wenn die Götter etwas tun, worum wir sie bitten, tun sie es nicht immer so, wie wir es erwarten. Als Sperber Ghnomb sagte, dass er Martel einholen wolle, dachte er mehr an die Zeit als an Meilen. Infolgedessen bewegt Ghnomb uns durch die Zeit, nicht über die Entfernung. Er wird sie solange für uns anhalten, wie wir brauchen. Die Strecke zurückzulegen, ist unsere Sache.«
Stragen kam herangaloppiert. »Sperber!«, rief er. »Was um Himmels willen habt Ihr getan?«
Sperber erklärte es ihm kurz. »Kehrt zu den Peloi zurück und beruhigt sie. Sagt ihnen, dass es ein Zauber ist. Erklärt ihnen, dass die Welt erstarrt ist. Nichts wird sich bewegen, bis wir an unserem Ziel angelangt sind.«
»Ist das wahr?«
»Mehr oder weniger, ja.«
»Ihr könnt die Starre doch später wieder aufheben, nicht wahr?«
»Natürlich – jedenfalls hoffe ich es.«
»Äh … Sephrenia?«, fragte Talen zögernd. »Auf der ganzen Welt hat alles angehalten, außer uns, nicht wahr?«
»So erscheint es uns . Doch niemand bemerkt es.«
»Dann können andere uns gar nicht sehen, richtig?«
»Sie wissen gar nicht, dass wir da sind.«
Ein bedächtiges, fast ehrfürchtiges Lächeln zog über die Lippen des Jungen. »Gut«, sagte er. »Gut, gut, gut.«
Auch Stragens Augen glänzten jetzt. »Ja, wirklich gut, Euer Gnaden«, murmelte er.
»Vergesst es, alle beide!«, sagte Sephrenia scharf.
»Stragen«, fügte Sperber hinzu. »Sagt Kring, dass wir es nicht mehr eilig haben. Es ist am besten, wenn wir jetzt unsere Pferde schonen. Und niemand da draußen setzt sich ab oder unternimmt irgendwas, bevor wir an unserem Ziel angekommen sind.«
Es war ein gespenstischer Ritt durch diesen anhaltenden, trüben Sonnenaufgang. Es war weder kalt noch warm, weder feucht noch trocken. Die Welt um sie herum war still und unbewegt. Reglose Vögel hingen in der Luft. Leibeigene standen wie Statuen auf den Feldern, und einmal kamen sie an einer hohen weißen Birke vorbei, die von einem Windstoß erfasst worden war, kurz bevor der Trollgott Ghnomb die Zeit hatte erstarren lassen. Eine Wolke goldener Blätter schwebte in der reglosen Luft.
»Wie spät mag es wohl sein?«, fragte Kalten, nachdem sie viele Meilen geritten waren.
Ulath blinzelte zum Himmel. »Sonnenaufgang, würde ich sagen.«
»Spaßvogel!«, sagte Kalten sarkastisch. »Also ich weiß ja nicht, wie es Euch geht, aber ich habe Hunger.«
»Du bist schon hungrig zur Welt gekommen.« Sperber lachte.
Sie aßen Marschverpflegung und setzten ihren Weg fort. Eigentlich bestand kein Grund zur Eile, aber das Gefühl, dass die Zeit drängte, steckte in ihnen, seit sie Chyrellos verlassen hatten, und so kanterten sie alsbald wieder.
Etwa eine Stunde mochte vergangen sein, als Kring von der Nachhut herbeigeritten kam.
»Ich glaube, irgendetwas verfolgt uns, Freund Sperber.« Krings Stimme klang beinahe ehrfürchtig. Man spricht ja nicht oft zu jemandem, der die Sonne anhält.
Sperber blickte ihn scharf an. »Seid Ihr sicher?«, fragte er.
»Nein«, gab Kring zu. »Es ist mehr ein Gefühl. Im Süden ist eine sehr dunkle Wolke, tief am Boden. Sie ist ziemlich weit entfernt, darum lässt es sich nicht mit Sicherheit erkennen, aber offenbar hält sie mit uns Schritt.«
Sperber blickte nach Süden. Es war wieder die gleiche Wolke, nur größer, finsterer und unheilvoller. Es sah also ganz so aus, als könne der Schatten ihm sogar hierher folgen. »Habt Ihr gesehen, dass sie sich tatsächlich bewegt?«, fragte er Kring.
»Nein, aber wir haben seit unserer Mittagspause eine beachtliche Strecke zurückgelegt, und sie ist immer noch hinter meiner rechten Schulter, genau wie bei unserem Aufbruch.«
»Behaltet sie im Auge«, bat Sperber. »Stellt fest, ob sie sich wirklich bewegt.«
»Gut«, bestätigte der Domi und wendete sein Pferd.
Nachdem sie ungefähr die Entfernung eines normalen Tagesrittes zurückgelegt hatten, schlugen sie ihr Lager für die »Nacht« auf.
Sperber schlief schlecht. Das gleichbleibende Licht war immer da. Er schlief, solange er konnte, dann stand er auf. Auch die anderen rührten sich.
»Guten Morgen, Sperber«, grüßte Sephrenia ironisch. Sie schien verärgert.
»Was ist los?«
»Ich vermisse meinen Morgentee. Ich wollte ein paar Steine erhitzen, um Wasser zu kochen, aber es ging nicht. Nichts wirkt mehr, Sperber – keine Magie, keine Beschwörungen, nichts. Wir sind in diesem Nimmernimmerland, das Ihr und Ghnomb erschaffen habt, vollkommen wehrlos.«
»Was könnte uns angreifen, kleine Mutter?«, fragte er ernst. »Wir befinden uns außerhalb der Zeit, wo nichts und niemand zu uns dringen kann.«
Gegen »Mittag« mussten sie feststellen, wie falsch diese Einschätzung gewesen war.
»Sie bewegt sich, Sperber!«, brüllte Talen, als sie sich einem erstarrten Dorf näherten. »Die Wolke! Sie bewegt sich!«
Es bestand kein Zweifel, dass die Wolke, die Kring am Tag zuvor bemerkt hatte, sich jetzt tatsächlich bewegte. Sie war tintenschwarz und rollte über den Boden auf die kleine Ansammlung strohgedeckter Leibeigenenhütten in einem flachen Tal zu. Ein tiefes Donnergrollen – der erste Laut der Natur, den sie hörten, seit Ghnomb die Zeit angehalten hatte – begleitete ihr unaufhaltsames Vordringen. Hinter ihr blieben tote, verrottende Bäume und Gras zurück, als hätte die kurze Berührung der Finsternis sie binnen eines Augenblicks vernichtet. Die Wolke erfasste das Dorf. Als sie weiterrollte, war es verschwunden, als hätte es nie existiert.
Beim Herannahen der Wolke hörte Sperber einen rhythmischen Laut, eine Art weichen Aufschlagens, als würden Dutzende nackter Fersen auf den Boden trampeln. Begleitet wurde er von einem tierischen Grunzen; es hörte sich an, als stieße eine Horde Kreaturen in unregelmäßigen Abständen ein kehliges Bellen aus.
»Sperber!«, drängte Sephrenia. »Nehmt den Bhelliom! Zerstört diese Wolke! Ruft Khwaj!«
Sperber fummelte am Beutel; dann warf er seine Rüsthandschuhe zu Boden und riss das Leinensäckchen auf. Hastig zog er die Saphirrose heraus und umfasste sie mit beiden Händen. »Blaurose!«, rief er. »Bring Khwaj!« Der Bhelliom wurde heiß in seinen Händen, und der rote Funke erstrahlte im Herzen ihrer Blütenblätter.
»Khwaj!«, brüllte Sperber. »Ich bin Sperber-von-Elenien! Khwaj wird die Finsternis wegbrennen, die sich uns nähert! Khwaj wird es so machen, dass Sperber-von-Elenien sehen kann, was in der Wolke ist! Tu es, Khwaj! Jetzt! «
Wieder erschallte das Wutgeheul, als der Trollgott gezwungen wurde, etwas gegen seinen Willen zu tun. Dann erhob sich unmittelbar vor der rollenden schwarzen Wolke eine breite, hohe Wand aus tosenden Flammen. Immer heller wurde die Feuerwand, und Sperber spürte die Wellen furchtbarer Hitze, die davon ausgingen. Die Wolke rollte unaufhaltsam weiter, schien nicht auf die Wand zu achten.
»Blaurose!«, rief Sperber in der Trollsprache. »Hilf Khwaj! Blaurose wird Khwaj ihre Macht und die aller Trollgötter zu Hilfe schicken! Tu es! Jetzt! «
Der augenblickliche Ausstoß ungeheurer Energie hätte Sperber beinahe aus dem Sattel geschleudert, und Faran wich mit angelegten Ohren und gefletschten Zähnen zurück.
Plötzlich hielt die Wolke an. Große Risse durchzogen sie, fügten sich jedoch sofort wieder zusammen. Die Flamme wogte, züngelte empor, fiel glimmend in sich zusammen und loderte aufs Neue, als die beiden Kräfte einander bekriegten. Schließlich schwand die Dunkelheit der Wolke allmählich – ähnlich der Nacht, wenn der Morgen graut. Die Flammen züngelten höher, glühten fast weiß. Die Wolke wurde dünner und hing schließlich in Fetzen.
»Wir gewinnen!«, rief Kalten.
»Wir?«, sagte Kurik. Er bückte sich und hob Sperbers Rüsthandschuhe auf.
Und dann, als würde sie von einem Sturm davongerissen, wirbelte die Wolke davon. Sperber und seine Freunde sahen, was die grunzenden Laute verursacht hatte. Es waren riesige Kreaturen, menschengleich, zumindest insoweit, als sie Arme, Beine und Kopf besaßen. Sie waren in Felle gehüllt und trugen aus Stein gefertigte Äxte und Speere. Doch damit endete ihre Menschenähnlichkeit. Sie hatten eine fliehende Stirn und ein vorstehendes, schnauzenähnliches Maul, und ihre Körper waren fellbedeckt. Obwohl die Wolke sich aufgelöst hatte, setzten sie ihren Vormarsch fort. Sie stampften im Gleichschritt und stießen bei jedem Schritt das kehlige Grunzen aus. In regelmäßigen Abständen hielten sie kurz an; dann erklang aus ihrer Mitte ein schrilles Heulen; danach setzten sie das rhythmische Bellen und den stampfenden Trott wieder fort. Sie trugen die Schädeldecken unvorstellbarer gehörnter Tiere als Helme, und ihre Gesichter waren mit farbigem Lehm in grellen Mustern bemalt.
»Sind das Trolle?«, fragte Kalten bestürzt.
»Falls es Trolle sind, habe ich solche noch nie gesehen«, antwortete Ulath und griff nach seiner Streitaxt.
»Auf, meine Kinder!«, rief der Domi seinen Männern zu. »Fegen wir diese Bestien aus dem Weg!« Er zog seinen Säbel, schwang ihn hoch und stieß einen donnernden Kampfschrei aus.
Die Peloi stürmten los.
»Kring!«, brüllte Sperber. »Wartet!«
Doch es war zu spät. Hatten sie erst einmal angegriffen, waren die wilden Reiter aus den Ostmarschen Pelosiens nicht mehr zu zügeln.
Sperber fluchte. Er stopfte den Bhelliom unter seinen Wappenrock. »Berit!«, befahl er. »Bringt Sephrenia und Talen zur Nachhut. Ihr anderen helft hier aus!«
Es war kein nach irgendwelchen taktischen Regeln geführter Kampf. Nach dem ersten Ansturm von Krings Männern artete alles in ein chaotisches Handgemenge von blinder Wildheit aus.
Die Ordensritter erkannten bald, dass ihre grotesken Gegner offenbar schmerzunempfindlich waren. Es war unmöglich festzustellen, ob es sich dabei um eine natürliche Eigenschaft ihrer Rasse handelte oder um einen magischen Schutz durch irgendeine Macht, die sie lenkte. Die Haut unter ihrem zottigen Fell war von unglaublicher Festigkeit. Die Schwerter prallten zwar nicht ab, drangen aber meist nicht richtig ein. Selbst die besten Streiche schlugen nur geringfügige Wunden.
Die Peloi hingegen schienen mit ihren Säbeln mehr auszurichten. Der rasche Stoß einer spitzen Waffe war wirkungsvoller als die kraftvollen Hiebe mit schweren Breitschwertern. War ihre ledrige Haut erst verletzt, heulten die Kreaturen vor Pein.
Stragen ritt mit glänzenden Augen durch die zottige Meute; die Spitze seines schmalen Rapiers tanzte, wich den unbeholfenen Streichen von Steinäxten aus, glitt die Schäfte grob zustoßender Speere entlang und drang mühelos tief in die bepelzten Leiber. »Sperber!«, brüllte er. »Sie haben ihr Herz tiefer im Körper! Ihr müsst nach dem Bauch zielen, nicht nach der Brust!«
Von nun an wurde es leichter. Die Ordensritter änderten ihre Taktik und stachen mit ihren Klingen, statt zu hauen. Bevier hängte bedauernd seine Lochaber an den Sattelknauf und zog sein Schwert. Kurik legte seinen Streitkolben ab und griff nach seinem Kurzschwert. Ulath aber hielt stur an seiner Axt fest. Sein einziges Zugeständnis war, seine Waffe mit beiden Händen zu schwingen. Mit seiner gewaltigen Kraft durchhieb er hornharte Haut und zolldicke Schädelknochen.
Da wendete sich das Blatt. Die mächtigen Kreaturen konnten sich mit ihrem geringen Verstand der veränderten Lage nicht anpassen und fielen in immer größerer Zahl unter den grimmigen Schwertstößen. Eine letzte, kleine Gruppe kämpfte noch verbissen, nachdem alle anderen bereits in ihrem Blut lagen, doch die blitzschnellen Klingen von Krings Kriegern machten auch mit ihnen ein Ende. Der Letzte, der noch stand, blutete aus einem guten Dutzend Säbelwunden. Er hob seine tierische Fratze und stieß ein gellendes Heulen aus. Es endete abrupt, als Ulath hoch aufgerichtet in den Steigbügeln herbeiritt, seine große Axt schwang und der heulenden Kreatur den Schädel bis zum Kinn spaltete.
Sperber schaute sich mit dem blutigen Schwert in der Hand um, doch alle Gegner waren gefallen. Aber der Sieg war teuer erkauft. Zwölf von Krings Männern waren niedergestreckt – nicht nur niedergestreckt, sondern regelrecht zerfetzt –, und fast ebenso viele lagen stöhnend auf dem blutigen Boden.
Kring saß mit verschränkten Beinen im Gras und wiegte den Kopf eines seiner sterbenden Männer auf dem Schoß. Sein Gesicht war von Schmerz gezeichnet.
»Es tut mir leid, Domi«, sagte Sperber. »Findet heraus, wie viele von Euren Männern verwundet sind. Wir werden uns überlegen, wie wir sie versorgen können. Wie weit, meint Ihr, sind wir noch vom Gebiet Eures Stammes entfernt?«
»Ungefähr anderthalb Tagesritte, wenn wir galoppieren, Freund Sperber.« Kring schloss dem Krieger, der eben gestorben war, traurig die leeren Augen. »Gut fünfzig Meilen.«
Sperber ritt zu der Stelle, wo Berit mit seiner Streitaxt in der Faust Talen und Sephrenia beschützte.
»Ist es vorbei?«, fragte Sephrenia mit abgewendeten Augen.
»Ja.« Sperber saß ab. »Was waren diese Kreaturen, kleine Mutter? Sie sahen aus wie Trolle, aber Ulath glaubt nicht, dass es wirklich welche waren.«
»Sie waren Menschen aus der Urzeit, Sperber. Es ist ein sehr alter und sehr schwieriger Zauber. Die Götter – und ein paar der mächtigeren styrischen Magier – können in die Zeit zurückgreifen und Gegenstände und lebende Wesen in unsere Zeit holen. Die Urmenschen sind vor vielen Tausend Jahren über das Antlitz unserer Erde gewandelt. Wir alle – Elenier, Styriker und Trolle – stammen von ihnen ab.«
»Wollt Ihr damit sagen, dass Menschen und Trolle verwandt sind?« Er starrte sie ungläubig an.
»Wir haben uns im Lauf der Äonen auf verschiedene Weise entwickelt. Die Trolle nahmen einen Weg, wir einen anderen.«
»Ghnombs erstarrte Zeit ist offenbar kein so sicherer Ort, wie wir dachten.«
»Das stimmt.«
»Ich glaube, es ist an der Zeit, die Sonne wieder wandern zu lassen. Wie es aussieht, sind wir nicht vor Verfolgern geschützt, die durch Risse in der Zeit schlüpfen, und styrische Magie wirkt hier nicht. Wir werden in der normalen Zeit sicherer sein.«
»Ich bin ganz Eurer Meinung, Sperber.«
Sperber nahm den Bhelliom aus seinem Gürtel und befahl Ghnomb, den Zauber zu beenden.
Krings Peloi fertigten behelfsmäßige Bahren an, auf denen sie ihre Toten und Verwundeten mitnehmen konnten. Dann zog der Trupp weiter, in vieler Hinsicht erleichtert. Denn der Wind wehte wieder, die Sonne zog ihre Bahn am Himmel, und um sie herum waren Leben und Bewegung.
Am nächsten Morgen stieß eine Peloipatrouille zu ihnen. Kring ritt voraus, um sich mit den Männern zu unterhalten. Er kehrte mit düsterem Gesicht zurück. »Die Zemocher zünden das Gras an«, berichtete er zornig. »Ich werde Euch nicht länger helfen können, Freund Sperber. Wir müssen unsere Weiden schützen, und dazu müssen wir uns über das ganze Land verteilen.«
Bevier blickte ihn nachdenklich an. »Wäre es nicht einfacher, wenn die Zemocher sich alle an einem Ort sammelten, Domi?«, fragte er.
»Gewiss, Freund Bevier, aber warum sollten sie?«
»Um reiche Beute zu machen, Freund Kring.«
Kring blickte ihn interessiert an. »Zum Beispiel?«
»Gold.« Bevier zuckte mit den Schultern. »Frauen und Eure Herden.«
Das gefiel Kring gar nicht.
»Es wäre natürlich eine Falle«, fuhr Bevier fort. »Ihr schafft all Eure Herden, Eure Schätze und Eure Frauen und Mädchen an einen Ort und lasst nur ein paar Männer zu ihrem Schutz zurück. Mit Euren übrigen Kriegern reitet Ihr los, nachdem Ihr Euch vergewissert habt, dass zemochische Kundschafter Euren Abmarsch beobachten. Sobald es dunkel wird, schleicht Ihr Euch zurück und bezieht Posten in der Nähe, aber so, dass Ihr nicht gesehen werden könnt. Die Zemocher werden herangestürmt kommen, um Eure Herden und Schätze und Frauen zu rauben. Dann könnt Ihr sie alle auf einmal erwischen und spart Euch die Mühe, hinter jedem einzelnen herzujagen. Außerdem gäbe das den Frauen eine großartige Gelegenheit, Zeuge Eurer Tapferkeit zu sein. Ich habe gehört, dass Frauen vor Liebe dahinschmelzen, wenn sie sehen, wie ihre Männer einen verhassten Feind schlagen.« Bevier grinste verschmitzt.
Kring kniff die Augen zusammen, während er sich diesen Plan durch den Kopf gehen ließ. »Das gefällt mir!«, platzte er nach wenigen Sekunden begeistert hinaus. »So machen wir es!« Und schon ritt er los, um seine Leute einzuweihen.
»Bevier«, sagte Tynian, »manchmal erstaunt Ihr mich.«
»Es ist nur eine alte Standardstrategie für leichte Reiterei, Tynian«, erklärte ihm der junge Cyriniker bescheiden. »Ich bin bei meinen Studien der Militärgeschichte darauf gestoßen. Lamorkische Barone bedienten sich dieser List des Öfteren, bevor sie Burgen zu errichten begannen.«
»Ich weiß. Aber Ihr habt vorgeschlagen, Frauen als Köder zu benutzen! Ich glaube, Ihr seid doch ein bisschen weltlicher, als Ihr vorgebt, mein Freund.«
Bevier errötete.
Sie folgten Kring etwas langsameren Schrittes, behindert durch die Verwundeten und die Pferde, welche die Toten trugen. Kalten wirkte abwesend und schien irgendetwas an den Fingern abzuzählen.
»Was hast du?«, fragte ihn Sperber.
»Ich versuche auszurechnen, um wie viel wir Martel näher auf den Pelz gerückt sind.«
»Nicht ganz anderthalb Tage«, half Talen sofort aus. »Einen Tag und ein Drittel genau. Er ist jetzt noch sechs oder sieben Stunden vor uns. Wir schaffen im Durchschnitt etwa drei Meilen in der Stunde.«
»Dann also ungefähr zwanzig Meilen«, rechnete Kalten aus. »Weißt du, Sperber, wenn wir die ganze Nacht durchreiten, könnten wir morgen bei Sonnenaufgang schon in seinem Lager sein.«
»Wir werden nicht bei Nacht reiten, Kalten. Da draußen ist etwas sehr Unfreundliches, von dem ich mich nicht gern im Dunkeln überraschen lassen möchte.«
Bei Sonnenuntergang schlugen sie ihr Lager auf. Nach dem Abendessen versammelten sich Sperber und die anderen in einem großen Zelt, um ihr weiteres Vorgehen zu besprechen.
»Wir wissen im Großen und Ganzen, was wir tun werden«, begann Sperber. »Die Grenze zu erreichen, dürfte kein Problem sein. Kring wird seine Männer ohnehin von den Frauen abziehen, also haben wir den Großteil der Peloikrieger zumindest einen Teil des Weges bei uns. Das wird uns die einfachen zemochischen Soldaten vom Leib halten. Wir werden, zumindest bis wir die Grenze erreichen, nichts zu befürchten haben. Allerdings müssen wir mit Schwierigkeiten rechnen, nachdem wir sie überquert haben. Dafür wird Martel sorgen. Das bedeutet, dass wir ihm so nahe rücken müssen, dass er gar nicht dazu kommt, Zemocher zu sammeln und sie uns in den Weg zu stellen.«
»Du musst dich entscheiden, Sperber«, warf Kalten ein. »Zuerst sagst du, dass wir nicht bei Nacht reiten, und jetzt sagst du, dass wir uns Martel nähern müssen.«
»Wir müssen ja nicht direkt hinter ihm sein, Kalten. Solange er glaubt, dass wir dichtauf sind, wird er rennen. Ich denke, ich werde ein paar Worte mit ihm wechseln, solange es hell ist.« Er blickte sich um. »Ich brauche ein Dutzend Kerzen. Berit, geht Ihr mir zur Hand?«
»Selbstverständlich, Ritter Sperber.«
»Stellt sie alle auf diesen Tisch – dicht in einer Reihe.« Sperber griff wieder unter seinen Wappenrock und holte den Bhelliom hervor. Er legte ihn auf die Tischplatte und bedeckte ihn mit einem Tuch, um seine lockenden Kräfte zu verhüllen. Als die Kerzen aufgestellt waren und brannten, deckte er den Stein ab und legte die beringten Hände darauf. »Blaurose!«, befahl er, »bring Khwaj zu mir!«
Wieder wurde der Stein unter seinen Händen heiß, und der rote Funke erschien in seiner Tiefe. »Khwaj!«, sagte Sperber scharf. »Du kennst mich. Ich will den Ort sehen, wo mein Feind heute Nacht schlafen wird. Lass ihn im Feuer erscheinen, Khwaj! Jetzt!«
Statt des bisherigen Wutgeheuls erklang jetzt nur noch ein verärgertes Jammern. Die Kerzenflammen loderten auf und vereinten sich zu einer Wand weißgelben Feuers. Das Abbild erschien in diesem Feuer.
Es war ein kleines Lager, lediglich drei Zelte. Es befand sich in einer grasigen Senke mit einem kleinen See in der Mitte. Dem Lager gegenüber, am anderen Ufer des Sees, wuchsen dunkle Zedern. Ein Lagerfeuer brannte in der Mitte des Zelthalbkreises. Sperber prägte sich die Einzelheiten gut ein. »Bring uns näher an das Lagerfeuer heran, Khwaj!«, befahl er. »Lass uns die Unterhaltung hören.«
Das Bild veränderte sich, und das Lagerfeuer glitt näher. Martel und die anderen saßen mit vor Erschöpfung eingefallenen Gesichtern um das Feuer.
»Wo sind sie, Martel?«, fragte Arissa beißend. »Wo sind diese tapferen Zemocher, mit deren Schutz Ihr gerechnet habt? Pflücken sie Blümchen auf der Wiese?«
»Sie lenken die Peloi ab, Prinzessin«, erwiderte Martel. »Möchtet Ihr wirklich, dass diese Wilden uns begleiten? Aber keine Sorge, Arissa, wenn Euch Eure Lüste überwältigen, leihe ich Euch gern Adus. Er riecht zwar nicht sehr gut, aber derlei seid Ihr sicher gewöhnt, oder?«
In ihren Augen blitzte plötzlicher Hass, doch Martel achtete nicht auf sie. »Die Zemocher werden die Peloi aufhalten«, wandte er sich an Annias. »Und wenn Sperber nicht seine Pferde zuschanden reitet – was er nie tun würde –, ist er noch drei Tage hinter uns. Wir brauchen keine Zemocher, ehe wir die Grenze nicht überquert haben. Dann werde ich ein paar zusammentrommeln, damit sie Fallen für meinen teuren Bruder und seine Freunde stellen.«
»Khwaj!«, befahl Sperber, »ich will, dass sie mich hören können! Jetzt!«
Die Kerzenflammen flackerten, dann beruhigten sie sich wieder.
»Ein wirklich hübsches Lager habt Ihr da, Martel«, sagte Sperber mit gleichmütiger Stimme. »Gibt es Fische im See?«
»Sperber!«, krächzte Martel. »Wie kannst du mich über die Entfernung erreichen?«
»Welche Entfernung, alter Junge? Ich bin euch ganz nahe. Ich an eurer Stelle hätte allerdings das Lager in dem Zedernwäldchen am anderen Ufer aufgestellt. Es gibt ganze Völkerscharen, die dich umbringen wollen, teurer Bruder. Da ist es sehr unvorsichtig, auf freiem Feld zu lagern, wie ihr das tut.«
Martel sprang auf. »Hol die Pferde!«, brüllte er Adus zu.
»Du willst schon aufbrechen, Martel?«, fragte Sperber erstaunt. »Wie schade. Ich hatte mich so gefreut, dir wieder einmal ins Auge sehen zu können. Nun ja, es spielt keine Rolle. Wir sehen uns dann am Morgen. Ich denke, dass wir zwei es noch so lange aushalten können.« Sperber grinste boshaft, während er zusah, wie die fünf ihre Pferde sattelten. Sie bewegten sich mit panischer Hast und blickten sich wild um. Schließlich kletterten sie auf ihre Pferde und trieben sie unbarmherzig mit Sporen und Peitschen an. »Aber Martel!«, rief Sperber ihm nach. »Ihr habt eure Zelte vergessen!«