25

»Treibt sie zusammen, Sperber«, sagte Sephrenia und blickte schaudernd auf die nackten Zemocher. »Und bitte sorgt sogleich dafür, dass sie sich wieder ankleiden.« Sie betrachtete den Altar. »Talen, sammle die Scherben des Idols ein. Wir dürfen sie nicht hierlassen.«

Der Junge protestierte nicht einmal.

Unbewaffnete Nackte widersetzen sich üblicherweise nicht, wenn gerüstete Männer mit scharfem Stahl in den Fäusten Befehle erteilen, und so stand die Gruppe Zemocher rasch beisammen. Der Priester mit dem schmalen Kopf zeterte zwar immer noch, war aber darauf bedacht, den Angreifern keinen weiteren Grund zu geben, gegen ihn vorzugehen.

»Abtrünnige!«, heulte er. »Schänder! Ich rufe Azash an, dass er euch …« Seine Worte endeten in einem Krächzen, als Sephrenia den Arm ausstreckte und der Schlangenkopf sich züngelnd aus ihrer Handfläche hob. Der Priester starrte auf das sich wiegende Abbild des Reptils, und seine Augen drohten aus dem Kopf zu quellen. Dann brach er zusammen und warf sich vor Sephrenia zu Boden.

Sie blickte sich streng um. Augenblicklich warfen sich auch die übrigen Zemocher fürchterlich stöhnend auf den Boden. »Verruchte!«, knurrte sie in dem verkommenen zemochischen Dialekt. »Euer Ritus ist seit Jahrhunderten verboten! Wie konntet ihr es wagen, dem mächtigen Azash den Gehorsam zu verweigern?«

»Unsere Priester haben uns getäuscht, erhabene Priesterin«, stammelte ein Bursche mit zotteligem Haar. »Sie sagten uns, dass das Verbot unseres Rituals eine styrische Blasphemie sei. Sie sagten, dass es die Styriker unter uns sind, die uns von unserem wahren Gott trennen.« Er schien gar nicht zu bemerken, dass Sephrenia Styrikerin war. »Wir sind Elenier«, fuhr er stolz fort, »und wir wissen, dass wir die Auserwählten sind.«

Sephrenia warf den Ordensrittern einen Blick zu, der Bände sprach. Dann schaute sie das Lumpenpack schmutzstarrender »Elenier« an, das vor ihr auf dem Bauch lag. Sie holte tief Luft, offenbar, um eine schreckliche Strafpredigt zu halten, stattdessen atmete sie bedächtig aus, und als sie schließlich redete, war ihre Stimme vollkommen ruhig.

»Ihr seid vom rechten Weg abgekommen«, sagte sie, »deshalb muss es euch verwehrt bleiben, Euren Landsleuten im Heiligen Krieg beizustehen. Begebt euch wieder nach Merjuk, oder wo immer ihr lebt, und wagt es nicht, je wieder an diesen Ort zu kommen. Meidet die Tempel Azashs, wenn ihr nicht wollt, dass er euch vernichtet!«

»Sollen wir unsere Priester hängen?«, fragte der zottelige Bursche hoffnungsvoll. »Oder verbrennen?«

»Nein. Unser Gott will Anbeter, keine Leichen. Von nun an werdet ihr euch nur mit den Riten der Reinigung und der Versöhnung befassen und mit den Ritualen der Jahreszeiten. Ihr seid wie Kinder, und wie Kinder werdet ihr beten. Geht jetzt!« Sie streckte den Arm aus, und der Schlangenkopf, der sich aus ihrem Handteller hob, richtete sich auf, schwoll an, wuchs und wurde mehr und mehr dem eines Drachen ähnlich. Die Kreatur brüllte, und rußige Flammen schossen aus seinem Rachen.

Die Zemocher ergriffen kreischend die Flucht.

»Ihr hättet sie wenigstens mit diesem einen Kerl abrechnen lassen sollen«, meinte Kalten.

»Nein«, entgegnete sie. »Ich habe sie soeben auf den Pfad einer anderen Religion gelenkt, und diese Religion verbietet das Töten.«

»Sie sind Elenier, erhabene Sephrenia«, wandte Bevier ein. »Ihr hättet sie anweisen sollen, den elenischen Glauben anzunehmen!«

»Mit all seinen Vorurteilen und Widersprüchen? Nein, lieber nicht. Ich habe ihnen einen barmherzigeren Weg gewiesen. – Talen, bist du fertig?«

»Ich habe alle Scherben, die ich finden konnte, Sephrenia.«

»Dann nimm sie mit.« Sie wendete ihren Schimmelzelter und führte die Gruppe von dem primitiven Altar fort.

Sie kehrten zur Höhle zurück, packten ihre Sachen ein und machten sich auf den Weiterritt.

»Woher sind sie gekommen, Sephrenia?«, fragte Sperber, als sie wieder in der beißenden Kälte unterwegs waren.

»Es sind Zemocher aus dem Nordosten, der Steppe nördlich von Merjuk, primitive Elenier, die nicht das Glück hatten, mit zivilisierten Menschen zusammenzutreffen wie ihr anderen.«

»Mit Styrikern, meint Ihr?«

»Natürlich. Was gäbe es sonst noch für zivilisierte Menschen?«

»Übertreibt nicht«, rügte er.

Sie lächelte. »Die Anbetung Azashs mit Orgien zu würzen war Teil von Othas ursprünglicher Strategie. Das verlockte die Elenier. Otha ist selbst Elenier, deshalb weiß er, wie stark diese Gelüste in eurer Rasse sind. Wir Styriker haben exotischere Verirrungen. Die zieht Azash im Grunde genommen vor, doch die Primitiven im Hinterland halten an ihren alten Sitten fest. Sie sind verhältnismäßig harmlos.«

Talen zügelte sein Pferd neben ihnen. »Was soll ich mit den Scherben des Idols machen?«, fragte er.

»Wirf sie weg«, wies Sephrenia ihn an. »Jede Meile ein Stück. Sie müssen gründlich verstreut werden. Das Ritual hatte bereits begonnen, und wir müssen verhindern, dass jemand die Scherben wieder einsammelt und zusammenfügt. Die Wolke ist schon unerfreulich genug. Ich möchte nicht, dass wir auch noch vor Azash selbst auf der Hut sein müssen.«

»Amen!«, sagte der Junge inbrünstig. Er ritt ein wenig zur Seite, richtete sich in den Steigbügeln auf und warf eine Tonscherbe in hohem Bogen fort.

»Dann sind wir jetzt sicher, oder?«, fragte Sperber. »Jetzt, da das Idol zerschmettert ist?«

»Nicht, solange die Wolke noch da ist, Lieber.«

»Aber sie hat uns nie wirklich angegriffen, Sephrenia. Sie hat versucht, uns in Schwermut zu stürzen und den Kampfeswillen zu nehmen, und davor hat Flöte uns geschützt.«

»Unterschätzt diese Wolke nicht, Sperber«, warnte Sephrenia. »Sie – oder der Schatten, was immer es ist – ist wahrscheinlich eine Kreatur Azashs. Und als solche könnte sie mindestens ebenso gefährlich sein, wie es der Damork und der Sucher waren.«

Die Landschaft wurde nicht freundlicher, während sie ostwärts ritten, und das Wetter ebenso wenig. Es war bitterkalt, und die aufwirbelnden Wolken schwarzen Staubes verbargen den Himmel. Die wenigen Pflanzen, die sie sahen, waren verkrüppelt und schwächlich. Sie folgten einer Art Pfad, der seinem wirren Verlauf nach eher von wilden Tieren denn von Menschen stammte. In unregelmäßigen Abständen fanden sie Wasserlöcher, doch das Wasser war zu Eis gefroren, sodass sie es erst schmelzen mussten, bevor sie die Pferde tränken konnten.

»Verfluchter Staub!«, brüllte Ulath unvermittelt zum Himmel und riss sich das Tuch von Mund und Nase.

»Beruhigt Euch«, mahnte Tynian.

»Was hat das alles für einen Sinn?«, brummte Ulath und spuckte Staub aus. »Wir können ja nicht einmal den Weg sehen!«

Die Pferde trotteten dahin, und ihre Hufe wirbelten kleine Wölkchen gefrorenen Staubes auf.

Die Schwermut, die ihnen im Gebirge westlich des Merjuker Meerbusens zu schaffen gemacht hatte, kehrte offenbar wieder. Sperber hielt die Augen offen, nicht nur, um den Blick wachsam über die nahen Schluchten und Felsüberhänge wandern zu lassen, sondern auch, um auf seine Gefährten zu achten. Mit Bestürzung sah er, wie ihre Laune immer schlechter wurde.

Bevier und Tynian waren in ein melancholisches Gespräch vertieft. »Es ist eine Sünde«, beharrte Bevier. »Es auch nur anzudeuten, ist Häresie und Blasphemie. Die Kirchenväter haben es verstandesmäßig ergründet, und da der Verstand von Gott kommt, ist er ein Teil Gottes. Und Gott selbst sagt uns, dass er und nur er allein göttlich ist.«

»Aber …«, wandte Tynian ein.

»Lasst mich zu Ende reden, mein Freund«, bat Bevier. »Da Gott uns sagt, dass es keine anderen Götter gibt, ist es schwärzeste Sünde, wenn wir Gegenteiliges glauben. Wir haben uns auf ein Abenteuer eingelassen, das auf kindischem Aberglauben beruht. Selbstverständlich sind die Zemocher eine Gefahr, aber eine weltliche Gefahr, genau wie die Eshandisten. Sie haben keine übernatürlichen Verbündeten. Wir werfen unser Leben auf der Suche nach einem mythischen Gegner fort, der nur in der krankhaften Vorstellung unserer heidnischen Feinde existiert. Ich werde mit Sperber vernünftig darüber reden, und ich zweifle nicht, dass er überzeugt werden kann, dieses sinnlose Abenteuer aufzugeben.«

»Das wäre vielleicht das Beste«, pflichtete Tynian ihm bei, hatte jedoch seine Zweifel. Die beiden schienen überhaupt nicht zu bemerken, dass Sperber sie hören konnte.

»Du musst mit ihm reden, Kurik«, sagte Kalten zu Sperbers Knappen. »Du hast mehr Einfluss auf ihn.«

»Sag du es ihm!«, knurrte Kurik. »Ich bin ein Diener. Es steht mir nicht an, meinem Herrn zu sagen, dass er ein selbstmörderischer Wahnsinniger ist.«

»Ich glaube, wir sollten uns von hinten an ihn heranschleichen und ihn in Ketten legen. Du musst verstehen, Kurik, es geht nicht nur darum, dass ich mein eigenes Leben retten will, ich will auch seines retten.«

»Mir geht es ebenso, Kalten.«

»Sie kommen!«, brüllte Berit. Er deutete auf eine nahe Wolke wirbelnden Staubes. »Zu den Waffen!«

Die warnenden Schreie von Sperbers Freunden klangen schrill, am Rande der Panik. Sie griffen an, als ginge es in die letzte Schlacht. Mit Schwertern und Äxten hieben sie in den wirbelnden Staub.

»Helft ihnen, Sperber!« Talens Stimme überschlug sich. »Die Ungeheuer werden sie alle töten!«

»Das bezweifle ich sehr, Talen«, entgegnete Sperber kühl. Er beobachtete, wie seine Freunde auf die Staubwolke einschlugen. »Sie sind dem, was sie vor ihren Klingen haben, weit überlegen.«

Talen funkelte ihn an, dann ritt er fluchend ein Stück fort.

»Ich nehme an, dass auch Ihr in diesem Staub nichts seht«, sagte Sephrenia ruhig.

»Es ist ja auch nichts weiter als Staub, kleine Mutter.«

»Dann wollen wir sofort etwas unternehmen.« Sie sprach ein paar styrische Worte und bewegte die Finger.

Die dichte, wogende Staubwolke schien zu erschaudern und zusammenzuzucken, dann stieß sie ein langes hörbares Seufzen aus und fiel in sich zusammen.

»Wo sind sie hin?«, brüllte Ulath. Er blickte sich um und schwang seine Streitaxt.

Die anderen schauten nicht weniger verwirrt drein, und die Blicke, mit denen sie Sperber bedachten, zeugten von tiefem Argwohn.

Danach mieden sie ihn. Sie ritten mit finsteren Gesichtern, flüsterten miteinander und warfen immer wieder verstohlene Blicke auf Sperber, Blicke voll Feindseligkeit. Ihr Lager schlugen sie an diesem Abend an der windgeschützten Seite eines von Sand blank gescheuerten hohen Felsens auf, der sich aus dem fahlen, löchrigen Lehmboden hob. Sperber bereitete ihr Abendessen, doch nachdem sie gegessen hatten, blieben seine Gefährten nicht, wie bisher immer, am Lagerfeuer bei ihm sitzen. Er schüttelte verärgert den Kopf und kroch unter seine Decken.

»Habt die Güte aufzuwachen, Herr Ritter.« Die Stimme klang sanft und unendlich zärtlich. Sperber öffnete die Augen. Er stellte fest, dass er sich in einem farbenfrohen Zelt befand, durch dessen offene Tür er eine weite, blühende Wiese sah. Auch mächtige alte Bäume mit weit ausladenden, blütenübersäten Ästen wuchsen hier. Jenseits der Bäume glitzerte tiefblaues Wasser, in dem sich Sonnenschein spiegelte. Ein Firmament wie hier hatte er noch nie gesehen. Es war ein Regenbogen, der das ganze Himmelsgewölbe bedeckte und der Welt darunter Segen spendete.

Die Sprecherin, die ihn geweckt hatte, stupste ihn mit der Nase und scharrte ungeduldig mit einem Vorderhuf auf dem teppichbedeckten Boden des Zeltes. Sie war klein für eine Ricke, und ihr Fell war von so blendendem Weiß, dass es fast leuchtete. Die sanften großen Rehaugen schimmerten in warmem Braun und verrieten ein Vertrauen und ein liebevolles Wesen, das an Sperbers Herz rührte. Aber sie war sehr hartnäckig. Sie ließ keinen Zweifel daran – sie wollte, dass er aufstand.

»Habe ich verschlafen?«, fragte er mit leichter Besorgnis, dass er sie gekränkt haben könnte.

»Ihr wart sehr müde, Herr Ritter«, antwortete sie und verteidigte ihn damit gleich vor seinen Schuldgefühlen. »Gewandet Euch mit Sorgfalt, denn ich soll Euch zu meiner Gebieterin bringen, die über dieses Reich herrscht und von allen Untertanen verehrt wird.«

Sperber streichelte ihren schneeweißen Hals, und ihre Augen schienen vor Liebe zu schmelzen. Er stand auf und schaute nach seiner Panzerrüstung. Sie war, wie sie sein sollte, rabenschwarz und mit Silber verziert. Er freute sich, als er sie anzog und bemerkte, dass sie nicht mehr wog denn hauchfeine Seide. Allerdings war sie nicht aus Stahl. Und obwohl sein Schwert beeindruckend wirkte, wusste er, dass es keine Waffe, sondern ein Kleinod war in diesem Feenreich, das, von einem wie Edelsteine glitzernden Meer umgeben, in glücklicher Zufriedenheit unter einem Regenbogenhimmel lag. Hier gab es keine Gefahren, keinen Hass, keinen Hader, nur immerwährenden Frieden und nie endende Liebe.

»Wir müssen uns beeilen«, drängte die weiße Ricke. »Unser Boot wartet am Strand, wo die Wellen fröhlich im immerzu wechselnden Licht unseres verzauberten Himmels spielen.« Sie führte ihn mit zierlichen Schritten auf die mit Blumen übersäte Wiese, die so lieblich duftete, dass sie die Sinne betörte.

Eine weiße Tigerin lag auf dem Rücken ausgestreckt im warmen Morgensonnenschein, und ihre tollpatschigen Jungen mit den tapsigen großen Pfoten balgten sich in gespielter Wildheit im Gras. Die weiße Ricke blieb kurz stehen, um zärtlich ihre Nase am Gesicht der Tigerin zu reiben. Diese bedankte sich, indem sie ihr liebevoll mit der großen rosa Zunge übers schneeweiße Fell leckte, vom Kinn bis zur Ohrenspitze.

Die Blumen und Grashalme neigten sich in einem milden Lüftchen, als Sperber dem weißen Reh über die Wiese zu dem blau getönten Schatten unter den alten Bäumen folgte. Hinter den Bäumen fiel ein alabasterner Kieselstrand sanft zum blauen Meer ab, und dort erwartete sie ein Wasserfahrzeug, das mehr einem Vogel glich denn einem gewöhnlichen Schiff. Der Bug war schlank und anmutig wie ein Schwanenhals. Zwei schwingengleiche schneeweiße Segel hoben sich über das eichene Deck. Das Schiff zerrte an seiner Vertäuung.

Sperber blickte das weiße Reh nachdenklich an, dann legte er einen Arm unter die Brust der Ricke und den anderen unter ihre Hinterläufe. So hob er sie mühelos hoch. Sie wehrte sich nicht, aber ihre großen Augen verrieten flüchtig Schrecken.

»Sei ganz ruhig«, bat er. »Ich trage dich nur auf das wartende Schiff, um dich vor den kalten Fluten zu bewahren, die wir durchschreiten müssen.«

»Ihr seid sehr zuvorkommend, edler Ritter«, bedankte sie sich und schmiegte vertrauensvoll das Kinn auf seine Schulter, während er mit festen Schritten hinaus in die verspielten Wellen watete.

Sie waren kaum an Bord, als ihr Schiff vorwärtsschoss und kühn die Wellen teilte. Schon bald sahen sie ihr Ziel vor sich. Es war ein winziges Eiland mit einem unvorstellbar alten Heiligen Hain, und Sperber konnte durch die weit ausladenden Äste deutlich die schimmernden Marmorsäulen eines Tempels sehen.

Auch andere Wasserfahrzeuge glitten nicht minder anmutig und unberührt vom Wechselspiel des Windes über die saphirene See zu dem Eiland, das sie rief. Und als sie auf den goldenen Strand hinaustraten, erkannte Sperber die vertrauten lieben Gesichter seiner Gefährten. Ritter Kalten, standhaft und treu; Ritter Ulath, stark wie ein Stier und tapfer wie ein Löwe; Ritter …

Sperber erwachte halb und schüttelte den Kopf, um das Gespinst süßer Bilder und überwältigender Gefühle zu vertreiben.

Irgendwo stapfte verärgert ein kleiner Fuß. »Das erzürnt mich wirklich, Sperber!«, schalt ihn eine vertraute Stimme. »Schlaf jetzt sofort weiter!«

Langsam stiegen die kühnen Ritter den schrägen Hang empor, der zur haingekrönten Kuppe des Eilands führte. Dabei erzählten sie einander die Abenteuer, die sie an diesem Morgen erlebt hatten. Ritter Kalten wurde von einem weißen Dachs geführt, Ritter Tynian von einem weißen Löwen, Ritter Ulath von einem mächtigen reinweißen Eisbären, und Ritter Bevier von einer weißen Taube. Ein weißes Lamm geleitete Berit, ein treuer weißer Jagdhund Kurik, und ein Hermelin im weißen Winterpelz Talen.

Sephrenia in weißem Gewand, mit einem Blumenkranz um die Stirn, erwartete sie auf der marmornen Freitreppe des Tempels. Und auf dem Ast einer Eiche, die älter war als alle anderen Geschöpfe, saß ruhig die Königin dieses Feenreichs: die Kindgöttin Aphrael. Statt Flötes einfachem Kittel trug sie ein Gewand, und Licht krönte ihr Haupt. Sie bediente sich hier nicht des Spiels ihrer Hirtenflöte, um sich auszudrücken, sondern hob die Stimme in einem klaren, reinen Grußgesang. Dann erhob sie sich und schritt durch die Luft so ruhig herunter, als wäre sie eine Treppe, und als sie das kühle, saftige Gras des Heiligen Haines erreichte, tanzte sie lachend und sich drehend zwischen ihnen, und ihr Kirschmündchen bedachte sie mit Dutzenden von Küssen. Ihre zierlichen Füßchen drückten das weiche Gras kaum nieder, doch Sperber erkannte nun, woher die grünen Flecken kamen, die ihn immer so verwundert hatten. Sie küsste auch die schneeweißen Geschöpfe, welche die Helden zu ihr geführt hatten, in ihr erhabenes Reich. Diese blumigen Ausdrücke kamen Sperber in den Sinn, sosehr er sie auch zu unterdrücken suchte, und er stöhnte innerlich. Aphrael bedeutete ihm gebieterisch, vor ihr niederzuknien. Dann schlang sie die zierlichen Arme um seinen Hals und küsste Sperber. »Wenn du nicht aufhörst, dich über mich lustig zu machen, Sperber«, murmelte sie ihm so ins Ohr, dass nur er es hören konnte, »nehme ich dir die Rüstung weg und schicke dich auf die Weide zu den Schafen.«

»Verzeiht mir, Göttin.« Er grinste sie an.

Sie lachte und küsste alle aufs Neue. Sephrenia hatte einmal erwähnt, dass Aphrael gern küsste. Das schien sich nicht geändert zu haben.

Zum Frühstück aßen sie Früchte, die den Menschen fremd waren, und ruhten sich im weichen Gras aus, während ihnen Vögel auf den Zweigen im Heiligen Hain ein Liedchen trillerten. Dann erhob sich Aphrael, und nachdem sie alle mit weiteren Küssen bedacht hatte, sprach sie in ungewohntem Ernst zu ihnen. »Obgleich ich traurig war, weil ich in vergangenen, einsamen Monaten eure Gesellschaft missen musste«, begann sie, »habe ich euch nicht nur um dieses frohen Wiedersehens willen hierhergerufen, wie sehr es auch mein Herz mit Freude füllt. Ihr habt euch auf meinen Wunsch und mit der Hilfe meiner lieben Schwester« – sie lächelte Sephrenia strahlend an – »hier eingefunden, auf dass euch bestimmte Wahrheiten offenbar werden. Seht es mir nach, dass diese Wahrheiten so ungedeutet bleiben müssen, doch sie sind die Wahrheiten der Götter und weit jenseits eures Begreifens, fürchte ich; denn sosehr ich euch in Liebe zugetan bin, seid ihr jetzt wie Kinder für mich, so wie einst ich euch als Kind erschienen bin. Deshalb will ich die Grenzen eures Verstandes nicht mit Wissen stürmen, das ihr niemals ergründen könnt.« Sie ließ den Blick über ihre verständnislosen Mienen wandern. »Was ist nur los mit euch allen?«, fragte sie gereizt.

Sperber stand auf, winkte der niedlichen Göttin mit dem kleinen Finger zu und führte sie ein Stück zur Seite.

Sie blickte ihn verärgert an. »Was ist?«

»Bist du in Stimmung für einen Rat?«, fragte er.

»Ich höre«, sagte sie unwirsch.

»Du verwirrst sie mit wohlgesetzten Worten, Aphrael. Kalten sieht im Augenblick aus wie ein Ochse, der eine Axt auf den Schädel gekriegt hat. Wir sind schlichte Menschen, kleine Göttin. Du musst mit schlichten Worten zu uns sprechen, wenn du möchtest, dass wir dich verstehen.«

Sie schürzte die Lippen zum Schmollmund. »Ich habe wochenlang an dieser Rede gefeilt, Sperber.«

»Es ist auch eine schöne Rede, Aphrael. Wenn du den anderen Göttern davon erzählst – und ich bin sicher, das wirst du –, dann trage sie ihnen vor, und sie werden begeistert sein. Doch um der Kürze wegen – diese Nacht dauert nicht ewig, wie du selbst weißt – und um der Verständlichkeit willen, halte ich eine gekürzte Fassung für angebracht. Du solltest dich auch von den allzu erhabenen Worten trennen, damit deine Rede sich nicht wie eine Predigt anhört – Menschen neigen dazu, bei Predigten einzuschlafen.«

Wieder schmollte sie ein bisschen. »Na gut, Sperber«, gab sie schließlich nach, »aber du nimmst mir den ganzen Spaß.«

»Wirst du mir je vergeben können?«

Sie streckte ihm die Zunge heraus und führte ihn zu den anderen zurück.

»Dieser nörglerische alte Bär meinte, ich solle zur Sache kommen.« Aphrael warf Sperber einen verschmitzten Seitenblick zu. »Er ist ja wirklich ein brauchbarer Ritter, doch von Poesie versteht er nichts. Aber gut. Ich habe euch zu mir gerufen, damit ich euch einiges über Bhelliom sagen kann – warum er so mächtig und so unendlich gefährlich ist.« Sie machte eine Pause und zog die rabenschwarzen Brauen zusammen. »Bhelliom ist kein Gott«, fuhr sie fort, »wohl aber ein Geist, und er ist älter als die Sterne. Es gibt viele solche Geister, und jeder hat viele Eigenschaften. Zu den wichtigsten zählt seine Farbe. Ihr müsst wissen, was geschieht …« Sie blickte sie alle an. »Vielleicht verschieben wir das lieber auf ein anderes Mal«, entschied sie. »Jedenfalls wurden diese Geister über den Himmel verteilt, damit …« Wieder brach sie ab. »Das ist sehr schwierig, Sephrenia«, klagte sie. »Warum müssen diese Elenier so unwissend sein?«

»Weil ihr Gott es vorzieht, ihnen nichts zu erklären, Aphrael«, antwortete Sephrenia.

»Er ist ein verschrobener alter Kauz«, sagte Aphrael. »Er stellt Gebote auf ohne irgendwelchen Grund. Das ist auch schon alles, was er macht: Gebote. Er ist manchmal schrecklich langweilig.«

»Vergiss deine Geschichte nicht, Aphrael.«

»Nein, nein.« Die Kindgöttin musterte die Ritter. »Die Geister haben Farben, und diese Farben haben einen ganz bestimmten Zweck. Mit dieser Erklärung müsst ihr euch einstweilen zufriedengeben. Und was tun die Geister? Sie erschaffen Welten. Bhelliom – das ist natürlich nicht sein wirklicher Name – erschuf die blauen. Aus der Ferne betrachtet ist diese Welt blau, wegen ihrer Meere. Andere Welten sind rot oder grün oder gelb oder von irgendeiner der zahllosen anderen Farben. Die Geister erschaffen diese Welten, indem sie Staub anziehen, der immer und ewig durch die Leere treibt. Der Staub sammelt sich um sie und verdichtet sich wie gerührte Butter. Doch als Bhelliom diese Welt erschuf, beging er einen Fehler. Es war zu viel roter Staub. Bhellioms Essenz jedoch ist blau; Rot erträgt er nicht. Doch wenn man roten Staub sammelt, dann hat man …«

»Eisen!«, rief Tynian aus.

»Und du hast behauptet, sie würden nicht verstehen«, sagte Aphrael vorwurfsvoll zu Sperber. Sie rannte zu Tynian und küsste ihn mehrmals. »Sehr gut«, fuhr sie glücklich fort. »Tynian hat völlig recht. Bhelliom erträgt kein Eisen, weil Eisen rot ist. Um sich zu schützen, härtete er seine blaue Essenz zu einem Saphir – den Ghwerig später zur Form einer Rose schliff. Das Eisen – das Rot – erstarrte um ihn, und Bhelliom war in der Erde gefangen.«

Sie starrten sie an, immer noch verständnislos.

»Bhelliom erhielt eine besonders feste Form, weil die Trollgötter darin eingeschlossen sind«, fuhr sie fort.

»Wa…as?« Sperber keuchte.

»Das weiß jeder, Sperber. Wo, glaubst du, hat Ghwerig sie vor uns versteckt, als wir sie verfolgten?«

Voller Unbehagen erinnerte Sperber sich, dass Bhelliom und seine unfreiwilligen Bewohner sich nur wenige Zoll von seinem Herzen entfernt befanden.

»Die Sache ist die, dass Sperber gedroht hat, Bhelliom zu vernichten, und da er ein elenischer Ritter ist, wird er es wahrscheinlich mit seinem Schwert tun – oder einer Streitaxt oder mit Aldreas’ Speer oder etwas Ähnlichem –, jedenfalls mit irgendetwas aus Stahl, also aus Eisen. Wenn er mit etwas aus Eisen auf Bhelliom einschlägt, wird er ihn vernichten. Bhelliom und die Trollgötter tun alles in ihrer Macht Stehende, um zu verhindern, dass Sperber Azash nahe genug kommt, um in Versuchung zu geraten, das Schwert gegen den Stein zu erheben. Zuerst haben sie versucht, seinen Geist zu beeinflussen. Als das keine Wirkung zeigte, wandten sie sich eurem zu. Es wird nicht mehr lange dauern, meine Lieben, und einer von euch versucht, Sperber zu töten.«

»Niemals!«, brüllte Kalten.

»Wenn die Einflüsterungen der Trollgötter stärker werden …«

»Vorher stürzen wir uns selbst in unsere Schwerter!«, erklärte Bevier.

»Warum in aller Welt wollt ihr so etwas Verrücktes tun?« Aphrael schüttelte den Kopf. »Ihr braucht den Stein lediglich in irgendetwas aus Stahl einzuschließen. Der Leinenbeutel ist mit den styrischen Zeichen für Eisen versehen, doch die Verzweiflung Bhellioms und der Trollgötter wächst, und die Zeichen sind nicht mehr stark genug. Ihr braucht jetzt echtes Eisen dafür.«

Sperber verzog das Gesicht. Er kam sich plötzlich ein bisschen dumm vor. »Und ich dachte immer, dass Azash den Schatten – und nun die Wolke – geschickt hätte«, gestand er.

Aphrael starrte ihn an. »Was hast du geglaubt?«

»Es erschien mir logisch«, antwortete er verlegen. »Seit das alles begonnen hat, versucht Azash, mich zu töten.«

»Warum sollte Azash dich denn mit Wolken und Schatten jagen, wenn ihm doch viel greifbarere Mittel zur Verfügung stehen?«

»Ich wusste es!«, rief Bevier. »Ich wusste , dass wir irgendetwas nicht bedacht haben, als Ihr uns zum ersten Mal von diesem Schatten erzählt habt, Sperber! Es musste nicht unbedingt Azash sein.«

Sperber kam sich plötzlich sehr dumm vor.

»Wieso habe ich so viel Macht über den Bhelliom?«, fragte er Aphrael.

»Dank der Ringe.«

»Vor mir hatte Ghwerig die Ringe.«

»Aber damals waren ihre Steine klar. Jetzt sind sie rot vom Blut deiner Familie und der Ehlanas.«

»Allein die Farbe genügt, dass er mir gehorchen muss?«

Aphrael starrte ihn ungläubig an, dann wandte sie sich an Sephrenia. »Soll das tatsächlich heißen, dass sie nicht wissen , warum ihr Blut rot ist? Hast du sie denn nichts gelehrt, Schwester?«

»Das alles ist sehr schwierig für sie, Aphrael.«

Die kleine Göttin stapfte davon, warf die Arme in die Höhe und murmelte styrische Worte, die ihr eigentlich fremd sein sollten.

»Sperber«, sagte Sephrenia ruhig, »euer Blut ist rot, weil es Eisen enthält.«

»Ach?«, sagte er benommen. »Wie ist das möglich?«

»Glaubt es mir einfach, Sperber. Es sind diese blutgefärbten Ringe, die Euch so viel Macht über den Stein verleihen.«

»Nicht zu fassen!«, staunte er.

Da kehrte Aphrael zurück. »Sobald Bhelliom in Eisen eingeschlossen ist, werden euch die Trollgötter nichts mehr anhaben können. Deine Gefährten werden dich nicht mehr töten wollen, Sperber, und ihr alle seid wieder ein Herz und eine Seele.«

»Hättest du uns das nicht auch ohne all diese Erklärungen sagen können, Flöte?«, fragte Kurik. »Vergiss nicht, das sind Ordensritter. Sie sind es gewöhnt, Befehlen zu folgen, die sie nicht verstehen.«

»Ja, ich glaube schon«, gestand sie und strich voll Zuneigung über seine bärtige Wange. »Aber ihr habt mir gefehlt – ihr alle –, und ich wollte, dass ihr seht, wo ich zu Hause bin.«

»Ein bisschen angeben, hm?«, neckte er sie.

»Nun …« Sie errötete leicht. »Ist das denn so unziemlich?«

»Es ist eine wunderschöne Insel, Flöte, und wir sind sehr stolz, weil du uns erlaubt hast, sie zu besuchen.«

Sie schlang die Arme um seinen Hals und überschüttete ihn mit Küssen. Sperber entging jedoch nicht, dass ihr Gesicht dabei tränennass war.

»Ihr müsst jetzt zurückkehren«, sagte sie, »denn die Nacht ist fast vorüber. Doch zuerst …«

Das Küssen dauerte geraume Zeit. Als die dunkelhaarige kleine Göttin zu Talen kam, hauchten ihre Lippen leicht über die seinen, dann machte sie einen Schritt auf Tynian zu. Mit einem nachdenklichen Blick blieb sie stehen. Schließlich kehrte sie zu dem jungen Dieb zurück und küsste ihn ausgiebiger. Als sie weiterging, lächelte sie geheimnisvoll.

»Und hat unsere gütige Gebieterin den Aufruhr in Euch gestillt, Herr Ritter?«, fragte die weiße Ricke, als das Schwanenboot die beiden zu dem Alabasterstrand zurückbrachte, wo das bunte Zelt sie erwartete.

»Erst wenn diese meine Augen sich aufs Neue der nüchternen Welt erschließen, aus der sie mich gerufen hat, sanftes Geschöpf, wird mir größere Gewissheit zuteilwerden.« Ihm war bewusst, wie gestelzt er redete, aber die Worte waren wie von allein gekommen. Er seufzte verlegen.

Flötentöne erklangen tadelnd.

»Wenn es dein Wille ist, Aphrael«, sagte er ergeben.

»So ist es schon viel besser, Sperber.« Die Stimme war nicht mehr als ein Wispern in seinem Ohr.

Die zierliche weiße Ricke führte ihn zum Zelt zurück, und er legte sich nieder. Sogleich beschlich ihn seltsame Schläfrigkeit.

»Vergesst mich nicht«, bat das Reh und stupste sanft mit der Nase über seine Wange.

»Bestimmt nicht«, versicherte er der Ricke. »Gern werde ich deiner gedenken, denn deine liebliche Gegenwart lindert die Besorgnis meiner Seele und schenkt mir süßen Schlummer.«

Dann schlief er wieder.

Er erwachte in einer hässlichen Welt aus schwarzem Sand und beißender Kälte. Der Wind wirbelte Staub auf, der nach Moder und längst vergessenen Toten roch. Staubkörnchen hatten sich in Sperbers Haar eingenistet und rieben die Haut unter seiner Kleidung auf. Doch wirklich geweckt hatte ihn ein seltsames Klingen – es hörte sich an, als bearbeite jemand Stahl mit einem kleinen Hammer.

Trotz aller Unannehmlichkeiten des vergangenen Tages fühlte er sich ungemein erfrischt und in Frieden mit der Welt.

Das klingelnde Hämmern verstummte, und Kurik kam mit einem Gegenstand in den Händen durch ihr Lager gestapft. Er streckte ihn Sperber entgegen. »Was meinst du?«, fragte er. »Wird das genügen?« Er hielt einen kleinen Beutel aus Kettengeflecht in der Hand. »Leider fehlt mir für etwas Besseres der Stahl.«

Sperber nahm den Beutel und blickte seinen Knappen an. »Auch du?«, staunte er. »Hast auch du geträumt?«

Kurik nickte. »Ich habe mich mit Sephrenia darüber unterhalten. Wir träumten alle dasselbe – das heißt, es war eigentlich gar kein Traum. Sie versuchte, es mir zu erklären, aber ich kam nicht so ganz mit.« Er machte eine Pause. »Tut mir leid, Sperber. Ich hatte an dir gezweifelt. Alles erschien so sinnlos und hoffnungslos.«

»Das lag an den Trollgöttern, Kurik. Stecken wir Bhelliom in den Stahlbeutel, damit es nicht wieder passiert.« Er langte nach dem Leinenbeutel und öffnete die Zugschnur.

»Wäre es nicht einfacher, ihn darin zu lassen?«, fragte Kurik.

»Einfacher, ihn damit in den Stahlbeutel zu stecken, schon, aber es könnte sein, dass ich ihn rasch herausholen muss. Ich möchte nicht, dass mich zusätzliche Knoten behindern, wenn Azash mir im Nacken sitzt.«

»Sehr klug.«

Sperber nahm die Saphirrose in beide Hände und hielt sie in Augenhöhe. »Blaurose«, sagte er in Troll, »ich bin Sperber-von-Elenien. Kennst du mich?«

Die Rose flackerte unheilvoll.

»Erkennst du mich als deinen Herrn an?«

Die Rose wurde dunkel, und Sperber konnte ihren Hass spüren.

Vorsichtig schob er den rechten Daumen den Handteller hinauf und drehte den Ring herum. Diesmal drückte er den blutbefleckten Stein selbst an die Rose, nicht wie sonst nur den Goldreif.

Bhelliom schrie, und Sperber spürte, wie er einer lebenden Schlange gleich in seiner Hand zuckte. Er lockerte den Druck ein wenig. »Ich freue mich, dass wir uns verstehen«, sagte er. »Halte den Beutel auf, Kurik.«

Es gab keinen Widerstand. Die Rose schien froh zu sein, in den Schutz ihres Gefängnisses zu entkommen.

»Passt«, lobte Kurik, als Sperber ein Stückchen Eisendraht als Verschluss um den Kettengliederbeutel wand.

»Ich dachte mir, dass ein Versuch nicht schaden könnte.« Sperber grinste. »Sind die anderen schon auf?«

Kurik nickte. »Sie stehen Schlange drüben am Feuer. Du solltest dir vielleicht überlegen, so etwas wie eine Generalamnestie zu erlassen, Sperber. Das heißt, wenn du nicht möchtest, dass ein ganzer Vormittag mit Entschuldigungen vergeudet wird. Vor allem bei Bevier musst du aufpassen. Er betet bereits seit dem Morgengrauen. Er wird besonders lange brauchen, dir zu versichern, wie schuldig er sich fühlt.«

»Er ist ein guter Junge, Kurik.«

»Natürlich. Darum ist es ja auch ein Problem.«

»Zyniker.«

Kurik grinste.

Als die beiden das Lager durchquerten, blickte Kurik zum Himmel. »Der Wind hat aufgehört«, bemerkte er, »und der Staub setzt sich offenbar. Meinst du …?«

»Wahrscheinlich«, antwortete Sperber. »Es passt doch zusammen, oder nicht? Also, sehen wir der Wirklichkeit wieder ins Auge.« Er räusperte sich, nachdem er seine verlegenen Freunde erreicht hatte. »Interessante Nacht, nicht wahr?«, sagte er beiläufig. »Ich hatte mich schon richtig an das niedliche weiße Reh gewöhnt. Es hatte allerdings eine kalte, nasse Nase.«

Sie lachten, wenn auch ein wenig unsicher.

»Also gut«, sagte er. »Nun, da wir wissen, woher die düstere Stimmung gekommen ist, halte ich es für überflüssig, das Ganze noch einmal durchzukauen. Es war niemandes Schuld, vergessen wir es. Wir haben jetzt Wichtigeres zu überlegen.« Er hielt den Stahlbeutel in die Höhe. »Hier ist unser blauer Freund. Hoffentlich hat er es bequem in dem kleinen Eisensack. Aber bequem oder nicht, dort wird er bleiben – zumindest bis wir ihn brauchen. Wer ist mit dem Frühstück an der Reihe?«

»Ihr.«

»Ich habe gestern das Abendessen gekocht!«

Während Sperber unter den erheiterten Blicken seiner Freunde das Frühstück bereitete, setzte Sephrenia sich in seiner Nähe ans Feuer. »Ich schulde Euch eine Erklärung, Lieber«, gestand sie.

»So?«

»Ich wusste nicht, dass der Schatten von den Trollgöttern kam.«

»Das ist wirklich nicht Eure Schuld, Sephrenia. Ich war so sehr davon überzeugt, dass Azash dahintersteckt, dass ich gar nicht bereit war, eine andere Möglichkeit in Betracht zu ziehen.«

»Aber ich müsste es besser wissen, Sperber. Ich darf mich nicht auf Logik verlassen.«

»Ich glaube, es könnte Perraine gewesen sein, der uns auf die falsche Fährte setzte, kleine Mutter«, sagte er ernst. »Seine Anschläge geschahen auf Martels Anordnung, und Martel folgte lediglich einer früheren Strategie Azashs. Darum hatten wir keinen Grund zur Annahme, dass etwas Neues ins Spiel gekommen war. Selbst nachdem wir erfahren hatten, dass Perraine nichts mit dem Schatten zu tun hatte, blieb die alte Idee haften. Macht Euch keine Vorwürfe, Sephrenia, denn ich gebe Euch bestimmt nicht die Schuld. Mich wundert jedoch, dass Aphrael nicht bemerkte, welchen Fehler wir machten. Sie hätte uns darauf aufmerksam machen können.«

Sephrenia lächelte ein bisschen verlegen. »Ich fürchte, das liegt daran, weil sie einfach nicht glauben konnte, dass wir es nicht verstanden. Sie hat keine rechte Vorstellung davon, wie beschränkt wir sind, Sperber.«

»Solltet Ihr sie dann nicht vielleicht darauf hinweisen?«

»Lieber sterbe ich!«

Kuriks Überlegung mochte richtig gewesen sein, oder auch nicht. Ob der stetige Wind in den letzten Tagen, der sie mit Staub beinahe erstickt hatte, natürlichen Ursprungs war oder ob Bhelliom ihn gesandt hatte – jetzt war er verschwunden, und die Luft war klar und kalt. Der Himmel war von leuchtendem Blau, und die Sonne stand am Osthorizont, ohne Wärme zu schenken. Das und die Vision der letzten Nacht hoben ihre Stimmung so weit, dass sie die schwarze Wolke hinter ihnen am Horizont ignorieren konnten.

Am Nachmittag gelangten sie zu einer steilen Felswand aus zerklüftetem schwarzem Gestein. Eine Art Pfad schlängelte sich zum Kamm empor. Als sie etwa die Hälfte hinter sich hatten, rief Talen Sperber von hinten zu: »Wie wär’s, wenn wir anhalten? Ich schleiche voraus und schaue mich um.«

»Das ist zu gefährlich!«, wandte Sperber ein.

»Nein, Sperber. Ich kann es! Ich bin ein ausgebildeter Schleicher. Niemand wird mich sehen, das verspreche ich.« Der Junge hielt inne. »Außerdem«, fügte er hinzu, »falls es Schwierigkeiten geben sollte, braucht Ihr die Hilfe wohlgerüsteter Erwachsener. Ich wäre Euch bei einem Kampf von keinem großen Nutzen, darum bin ich der Einzige, den Ihr entbehren könnt.« Er verzog das Gesicht. »Ich kann nicht glauben, was ich da gerade gesagt habe. Ihr alle müsst mir versprechen, dass Ihr mir Aphrael vom Leib haltet. Ich glaube, sie hat keinen guten Einfluss auf mich.«

»Vergiss es«, sagte Sperber entschieden.

»Nichts zu machen, Sperber«, rief der Junge. Er rollte aus dem Sattel und rannte, kaum dass er mit den Füßen am Boden war. »Keiner von Euch erwischt mich!«

»Höchste Zeit, dass ich ihn übers Knie lege«, knurrte Kurik, während sie dem Jungen nachblickten, der behände den steilen Hang hinaufeilte.

»Aber er hat recht«, warf Kalten ein. »Er ist der Einzige, den wir wirklich entbehren könnten. Er hat in letzter Zeit allerhand Edelmut entwickelt. Du solltest stolz auf ihn sein, Kurik.«

»Stolz würde mir nicht viel nützen, wenn ich seiner Mutter erklären müsste, wieso ich zugelassen habe, dass er sich umbringt.«

Talen war über ihnen so plötzlich verschwunden, als hätte die Erde sich geöffnet und ihn verschlungen. Doch einige Minuten später kam er aus einem Spalt nahe dem Kamm heraus und rannte zu ihnen zurück.

»Da draußen ist eine Stadt«, berichtete er. »Es kann eigentlich nur Zemoch sein, nicht wahr?«

Sperber zog seine Karte aus dem Sattelbeutel. »Wie groß ist sie?«

»So groß wie Cimmura.«

»Dann muss es Zemoch sein. Wie sieht sie aus?«

»Ich glaube, dergleichen hatte man vor Augen, als das Wort ›unheilvoll‹ erfunden wurde.«

»Stieg irgendwo Rauch auf?«, fragte Kurik.

»Nur von den Schornsteinen zweier großer Gebäude in der Stadtmitte, die zusammenzugehören scheinen. Eines hat viele Türme, das andere eine große schwarze Kuppel.«

»Dann wird die übrige Stadt verlassen sein«, meinte Kurik. »Wart Ihr schon einmal in Zemoch, Sephrenia?«

»Einmal.«

»Was ist das Haus mit den Türmen?«

»Othas Palast.«

»Und das mit der schwarzen Kuppel?« Kurik brauchte eigentlich nicht zu fragen. Alle kannten die Antwort auch so.

»Das Gebäude mit der schwarzen Kuppel ist der Tempel Azashs. Er ist dort – und wartet auf uns!«